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Henry Deku

Von Prof. Dr. Rolf Schönberger

Henry Deku wurde am 13. Dezember 1909 in Berlin geboren; er entstammt einer jüdischen Kaufmannsfamilie. Sein damaliger Name war Heinz Dekuczynski (die Namensänderung erfolgte zu Beginn der Exilszeit in den USA). Bereits im Jahr 1914 starb seine Mutter, 1922 auch sein Vater. Deku war also mit 13 Jahren Vollwaise. Unter welchen Umständen Deku aufgewachsen ist, lässt sich nur erschließen. Drei Schwestern seines Vaters lebten in Berlin unter derselben Adresse; zwei starben im Jahre 1941, die dritte Schwester mit Namen Rosa (geb. 1872), wurde im September 1942 nach Treblinka deportiert (über den Ort ihres Todes finden sich allerdings verschiedene Angaben).

Deku besuchte das angesehene Friedrich-Werdersche Gymnasium in Berlin, wo er 1928 das Abitur machte. Anschließend nahm er sein Studium an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin auf (erst seit 1946 trägt sie den Namen "Humboldt-Universität"). Die gewählte Fächerkombination war ganz ungewöhnlich, aber auch bezeichnend: Philosophie, Mathematik und Klassische Philologie. In dem für die Zulassung zur Promotion erforderlichen Lebenslauf nennt Deku seine akademischen Lehrer: In der Philosophie Max Dessoir, Romano Guardini, Nicolai Hartmann und Eduard Spranger; in der Mathematik Ludwig Bieberbach, Erhard Schmidt und Issai Schur; Altphilologie studierte er beim berühmten Werner Jaeger.

Deku hat im Sommersemester 1933 bei Prof. Dessoir die Arbeit "Summum bonum. Kritisch-historische Untersuchungen zur Wirklichkeit des Guten" eingereicht, die mit dem damals seltenen Prädikat valde laudabile bewertet wurde; im Sommersemester 1934 hat er die Rigorosa bei Dessoir, Spranger, Jaeger und Schur abgelegt. Die Arbeit ist gegliedert in drei ihrerseits dreigliedrige Kapitel. In den ersten beiden Kapiteln reflektiert Deku, um den Status des Wertes bzw. dann des Guten fassen zu können, ganz grundsätzlich das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit. Die Lektüre von ›Sein und Zeit‹ ist im Hinblick auf die vorgenommene Einschränkung eines rein theoretischen Wirklichkeitsverhältnisses ebenso unverkennbar wie – nicht verwunderlich – die Nähe der Wertphänomenologie. Der Mensch, so die These, gehört mit zu der Wirklichkeit, die er zu erfassen sucht, so dass Realismus und Subjektivismus als zwei unzulängliche Abstraktionen davon zu gelten haben. Dies zeige sich, so schreibt der 24jährige Promovend, insbesondere im Verstehen von Sinn – wobei er weniger vorgegebene Sinngebilde, als vielmehr biographisch bedeutsame Geschehnisse im Blick hat. Hierfür gewinnen die Begriffe Schicksal und Zufall einen entscheidenden Status. Im historischen Teil dieser Arbeit, die bis heute unpubliziert geblieben ist (deren Publikation aber vorbereitet wird), zeigt sich der Autor schon so, wie man ihn aus seinen späteren Aufsätzen kennt: Es bekundet sich ein gewaltiges Lesepensum und eine besondere denkerische Beweglichkeit, in der Autoren ganz unterschiedlicher Provenienz unmittelbar aufeinander bezogen werden. Anders als später werden einzelne Gestalten wie Schleiermacher oder Kierkegaard relativ ausführlich behandelt. Die Dissertation zeigt im Übrigen eine erstaunlich sympathetische Darstellung der christlichen Denktradition – vielleicht ein Vorbote zur späteren Konversion zum Katholizismus.

Wegen finanzieller Schwierigkeiten – er lebte während dieser Zeit vom Erteilen von Privatunterricht – konnte er seine Dissertation nicht im vorgeschriebenen Zeitraum eines halben Jahres drucken lassen. Ein drittes Verlängerungsgesuch (Dez. 1935), in dem er die endgültige Möglichkeit der Drucklegung für das kommende Jahr ankündigt, wurde vom Dekan Prof. Bieberbach, inzwischen aber ein kämpferisches Nationalsozialist (Gründer der Zeitschrift „Deutsche Mathematik“) im Januar 1936 abschlägig beantwortet. Deku richtete daraufhin ein Gesuch an das Ministerium. Die von dort an den Dekan erfolgte Rückfrage beantwortete dieser mit hämischer Skepsis darüber, dass der Antragsteller "nun auf einmal finanziell in der Lage" sei, seine Dissertation drucken zu lassen; "der jüdische Antragsteller" habe mit seinen wiederholten Verlängerungsgesuchen die Fakultät bereits "auf eine harte Probe gestellt". Der Dekan bat das Ministerium, seinen negativen Bescheid zu bestätigen, da "der Gegenstand der Arbeit weltanschauliche Belange" berühre; der erste Referent (Prof. Dessoir) gehöre zudem "als Emeritierter und Nichtarier" nicht mehr zur Fakultät, so dass im Falle einer ministeriellen Genehmigung die Arbeit nochmals geprüft werden müsste. Es blieb also dabei, dass Deku das Doktordiplom für diese so bemerkenswerte Arbeit nicht ausgestellt wurde. (Allerdings wurde ihm im Jahr 1954 von der Humboldt Universität offiziell bestätigt, dass er alle Promotionsleistungen erbracht hat.)

Dies war aber nur der erste Akt der Verfolgung. Im Herbst 1936 wurde er wegen Verstoß gegen das berüchtigte Heimtückegesetz zu 5 Monaten Gefängnis verurteilt – allem Anschein nach musste er zwar die Haftstrafe nicht antreten, galt aber seither als vorbestraft.

Im Jahre 1937 hat er sich an einer Ausschreibung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften beteiligt. Auf Grund des Gutachtens von Prof. Reininger, der als Kantianer seinen philosophischen Überzeugung nicht sonderlich gewogen sein konnte, wird Deku im Dezember 1937 als fünftem – nach Werner Jaeger (1912), Josef Kroll (1914), Hans Leisegang (1916), Fritz Heinemann (1919) – der jährlich ausgeschriebene, aber nur ganz selten verliehene Hermann-Bonitz-Preis zuerkannt. Der Titel der Arbeit ähnelt auf den ersten Blick dem der Dissertation. "Summum bonum. Ein Versuch über ausgewählte Probleme der Philosophiegeschichte"; doch hat die Arbeit, vier Jahre nach Fertigstellung der Dissertation, den zweieinhalbfachen Umfang der Doktorarbeit (die zu dieser Zeit noch nicht den Umfang heutiger akademischer "Probschriften" haben). Leider hat sich trotz intensiver Suche diese preisgekrönte und mit Abstand umfänglichste Arbeit Dekus bis heute nicht wieder auffinden lassen.

Nur wenige Monate darauf erfolgte der sog. "Anschluss" Österreichs. Auch die persönliche Lage verdüsterte sich in den folgenden Monaten dramatisch: Nachdem am 13. Juni 1938 Schutzhaft angeordnet worden war, wurde Deku am folgenden Tag in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert (Kategorie: "Arbeitsscheu R (*Reich, Jude) ". Nach schrecklichen und entwürdigenden Wochen erfolgte am 24. August 1938 die Entlassung aus dem Konzentrationslager; knapp zwei Monate später, im Oktober 1938, verließ Deku Deutschland und begab sich nach England. 1940 wurde er der Staatsbürgerschaft für verlustig erklärt.

Die Emigration führte von England alsbald weiter in die USA. Dort vollzog Deku noch einen weiteren persönlichen Schritt: Er konvertiert zum Katholizismus und lässt sich in New York taufen. Deku schreibt erste Rezensionen; er wird Fellow an der Yale University, ohne besondere Lehrverpflichtung. Im März 1943 trat er in die US Army ein. Er ist bei einer Einheit für psychologische Kriegführung tätig, die erst seit einiger Zeit größere Aufmerksamkeit bei den Zeithistorikern gefunden hat. Mit den amerikanischen Truppen kehrte er nach Deutschland zurück; im Herbst 1945 verließ er dann den Militärdienst.

Seit dem Sommersemester 1946 hielt Deku Lehrveranstaltungen an der Universität München, vor allem in den 50er Jahren mit immensem Lehrerfolg: Nicht selten las er im Auditorium maximum. Im folgenden Jahrzehnt ging er wieder für einige Zeit in die USA; in den Jahren 1963 bis 1967 übernahm er einen Lehrauftrag an der University of Notre Dame, Indiana. Danach kehrte er an die Universität München zurück. Dort hielt er nicht nur in der Philosophischen Fakultät Lehrveranstaltungen, sondern las auch über Anthropologie an der Fakultät für Medizin, über politische und Rechtsphilosophie an der "Hochschule für Politik". Daneben war er Gastdozent an der Universität Salzburg. Diese umfängliche Lehrtätigkeit war im Alter nicht mehr möglich, doch setzte er den Usus, drei Vorlesungen pro Semester zu halten, auch nach seiner Pensionierung im Sommer 1978 noch viele Jahre fort.

Im Jahre 1983 erhielt Deku das Bundesverdienstkreux und im Jahr darauf wurde Deku zum Honorarprofessor an der Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Statistik der Ludwig-Maximilians-Universität ernannt. Nach Jahren völliger Pflegebedürftigkeit starb Henry Deku am 3. September 1993 in München. Sein Grab befindet sich auf dem Münchner Nordfriedhof.

Henry Deku ist philosophisch schwer einzuordnen. Man könnte sagen, er sei Thomist. Aber was wäre damit gesagt? Der von Deku nach Thomas von Aquin am meisten zitierte Autor ist Augustinus. Deku beruft sich auf Platon gewiss nicht weniger als auf Aristoteles. Die Aneignung der klassischen Tradition der Philosophie geschieht weder ungeschichtlich (wie mitunter im Schulthomismus oder auch im heideggerisierenden Thomismus), aber auch nicht historistisch. Gerade durch die Grundsätzlichkeit der Divergenzen, die sich durch die Moderne ergeben haben, relativieren sich für Deku die üblichen Trennungen; es wird jeweils eher das stark gemacht, was Platon und Aristoteles, Augustinus und Thomas, Descartes und Pascal verbindet – was eben nicht einfach ein gemeinsamer Nenner ist. Ohne in (un-)historische Naivitäten oder in das, was er einmal polemisch als "Synthesenchemie" kennzeichnet, zu verfallen, in der alles in eine unhistorische philosophia perennis verschliffen wird, unternimmt es Deku mit großem Aufwand, die Nähe und die konvergierenden Tendenzen von Athen, Rom und Jerusalem zu zeigen. Wer dies zu zeigen vermag, lässt zugleich die Lebendigkeit des Christentums deutlich werden, denn Lebendigkeit bekundet sich auch in der Kraft der Integration.

Der Stil ist geistreich und inspirierend, die Behauptungen freilich schwerwiegend und reich an Voraussetzungen wie an Konsequenzen. Dabei werden die Voraussetzungen längst nicht immer argumentativ eingeholt oder die Fassung der Begriffe in langwierigen Erörterungen entwickelt – es scheint dem Autor zunächst wichtiger, Konventionen mit derselben Dezidiertheit durch Alternativen in Frage zu stellen bzw. Gesichtspunkte ins Spiel zu bringen, die meist ausgeblendet bleiben. Die brillante Essayistik fügt sich unschwer mit einer systematischen Komposition zusammen (Infinitum prius finito; Possibile logicum, De nihilo). Er lässt den Leser nicht an der Findung der Einsicht durch wägendes Argumentieren teilhaben, sondern präsentiert sehr kompakt die Resultate und bringt diese unmittelbar mit geschichtlich wirksamen und zwar gefährlich wirksamen Alternativen ins Spiel.

Die Erudition zeigt sich gerade nicht im Auftürmen von Sekundärliteratur (aber auch nicht darin, entsprechende Hinweise partout zu unterlassen), sondern darin, dass die primären Texte der europäischen Überlieferung präsent gemacht werden. Die Zitate haben in ihrer Häufung und in ihrer Kombination eine besondere Bedeutung. Sie belegen nicht nur eine Interpretation oder einen vorgefundenen Sprachgebrauch oder eine vertretene Auffassung. Sie lassen zunächst einmal ein immenses Lesepensum erkennen – und immer, wie Plinius, mit dem Stift in der Hand. "Zur Häufung von Zitaten sei übrigens erwähnt, daß Dschuang Dsi einmal ein Buch mit 100000 Wörtern geschrieben hatte, das zu neun Zehnteln aus Zitaten bestand: wozu ein späterer Chinese bemerkte, jetzt sei man zu dumm dazu – man habe nur noch eigene Gedanken." Das hierfür erforderliche Lesepensum ist aber nicht Selbstzweck und der Zettelkasten, so beträchtlich er ist, ist nicht entscheidend – dann wäre es nichts als eine weitere Form von dem, was Deku sonst Materialismus nennt: eine Gegebenheit oder ein Tun, das durch keine Ziel bestimmt ist und keinem Maßstab unterworfen ist. Die Ausdrücke und Sätze werden in aller Regel nicht aus dem unmittelbaren Kontext entwickelt – diese Arbeit ist schon getan. Sie sind entweder goldene Formulierungen, Kostbarkeiten, die gerne und häufig zitiert werden – oder auch das Gegenteil: Es kommt zutage, was und wie jemand denkt, wes Geistes Kind ein Autor ist. Insbesondere die "klassische Tradition der Philosophie" ist für ihn ein Schatz unerschöpflicher Einsichten und ein ebenso ein Schatz besonders kostbarer Formulierungen.

Deku geht auf der einen Seite geläufigen philosophischen Sachfragen nach wie etwa der nach dem logisch Möglichen, den Gottesbeweisen, dem Verhältnis des Unendlichen zum Endlichen, von Form und Inhalt, den Differenzierungen im Begriff des Nichts etc., aber auch Themenstellungen, die abseits fixierter Diskurse liegen. Diese Fragen umfassen die gesamte Spannweite der Philosophie, man kann wohl kein grundlegendes Problem der Philosophie angeben, das durchgängig ausgeklammert würde.

Deku verfolgt vielfach geistesgeschichtliche Entwicklungen – hierbei geben insbesondere die Krisen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts die Frage nach deren Wurzeln auf; die Freilegung dieser Wurzeln geschieht umfassend und mitunter überraschend; seine Diagnosen der Zeit entbehren nicht der Schärfe. Eigene Erlebnisse und Erfahrungen aus der Zeit der Verfolgung und des Exils werden aber, wie schon angedeutet, nicht öffentlich gemacht.

Deku hat eine umfassende Aneignung der philosophischen Tradition erarbeitet. Er verbindet die jüdische und die christliche Tradition, diese aber vor allem mit der Philosophie der Antike. Diese wird weder unhistorisch bloß aktualisiert noch antikisierend verfremdet, sondern in ihrer unverlierbaren Aneignungsfähigkeit aufgegriffen. Dabei findet das ganze Spektrum der philosophischen Disziplinen Aufmerksamkeit: von der Metaphysik und die philosophische Theologie über die Anthropologie und Staatsphilosophie bis zur Ethik, Religionsphilosophie und der spirituellen Prägung des Daseins. Dies geht mit einer durchaus modernitätskritischen Diagnose einher, aber ohne dass dabei das eigene Schicksal denkerisch ausgebeutet würde oder irgendwie für das Verständnis seiner Schriften unverzichtbar wäre. So hat er auch selbst die Philosophen nicht gelesen. Kontext und Zeitkolorit sind unverzichtbar, aber nicht hinreichend. Dafür ist vielmehr eine systematische Konzeption der Prinzipien erforderlich.

Insbesondere verteidigt Deku einen nicht-reduktionistischen Begriff der Wirklichkeit, zu dem auch die Wirklichkeit des Geistes gehört, sowie einen nicht-reduktionischen Begriff der Vernunft, die von bloßer Aufklärungsplattheit freigehalten werden und für die Rechts- und Moralbegründung in Anspruch genommen werden kann.

Eine Besonderheit liegt auch in der Verknüpfung von Fragen sachlicher Art mit bestimmten Formen des menschlichen Selbstverhältnisses: "Wie immer in solch prinzipiellen Problemgebieten ist das Verhalten sich selbst gegenüber entscheidend" (WT 155). Darin liegt unverkennbar eine augustinische Inspiration; diese wird aber von der Sache her dadurch nahegelegt, dass es sich bei den letzten Fragen um solche handelt, die das Ganze und damit auch den Fragesteller selbst (samt seinen Hoffnungen, Interessen, Ängsten, Miseren) betreffen. Wenn die Irrungen des Geistes aufgeklärt werden sollen, genügt es nicht, "Denkfehler" zu diagnostizieren und Argumente zu widerlegen. Es muss einen Grund (vermutlich smeistens mehrere Gründe) geben, warum schwache Gründe als starke gelten; es muss ebenso einen Grund geben, warum bestimmte Fragen nicht oder nicht mehr gestellt werden. Das heißt aber keineswegs, dass philosophische Auffassungen kurzerhand moralisiert würden. Es wird je nach Fragestellung immer auch besondere Umstände und besondere Schwierigkeiten aufmerksam gemacht. Gedanken sind wahr oder falsch, aber auch human oder menschenversachtend, förderlich oder gefährlich. Deku bringt immer mehrere Gesichtspunkte zur Geltung.

So sehr die Distinktion eine unersetzliche Weise klaren Denkens ist, so sehr sind konkrete Begriffe erst geeignet, umfassende Zusammenhänge in dem Sinne denkbar zu machen, dass man auf die Zusammengehörigkeit achtet. Auf solche abstrakten Trennungen zielt die Kritik Dekus durchgängig: Forschung und Lehre, Wahrheit und Liebe, Theorie und Praxis. Dass sich dann, wenn es nicht um die Feststellung empirischer Tatsachen geht, sondern um die Fassung ganz grundsätzlicher Sachverhalte, bestimmte Präferenzen oder Bedingtheiten geltend machen, erscheint nicht unplausibel. Wenn man darauf aufmerksam geworden ist, dann sprechen Texte, die in geistesgeschichtlichen Kategorien gedacht unterschiedlichen oder gar weit voneinander entfernten Traditionen zuzuordnen sind, in einem verwandten und konvergierenden Sinne. Wie oft wird der Satz des Augustinus zitiert: mores perducunt ad intelligentiam (Gute Sitten führen zur Einsicht)! Und ähnlich lautende oder in eine ähnliche Richtung zielende wären ebenso anzuführen. Aber hier wird man bemerken, dass für die Einheit von beidem sich bestimmte philosophische oder psychologische Gründe anführen lassen, diese enthalten aber noch nicht den Grund, darauf mit einem solchen Nachdruck zu pochen. Hier spielen Denkerfahrungen eine Rolle, auf die Deku rekurrieren kann, bei denen er aber darauf verzichtet, sie zu Markte zu tragen.

So wie viele Neuplatoniker nach Formeln gesucht haben, um die beiden bedeutendsten Philosophen der Antike nicht in einem unversöhnlichen Gegensatz verharren zu lassen, so wie Thomas von Aquin es immer wieder unternommen hat, durch interpretatorische Kunst Augustinus nicht gegen Aristoteles auszuspielen, so kann man in diesem œuvre ein vergleichbares Interesse am Werke sehen: Wenn man so oberflächliche Kategorien wie Statik und Dynamik verwendet, dann hat das Griechentum mit der semitischen Tradition allerdings nichts zu tun. Wenn man aber das Anliegen und die Ansprüche der Texte selbst in den Blick nimmt, dann lässt sich die Verbindlichkeit in beiden Fällen anerkennen, weil es nicht schlechterdings unterschiedliche Ansprüche oder inkommensurable Gesichtspunkte wirksam sind. Natürlich kann man einfach sagen, die platonische Konzeption der Seele habe kein unmittelbares Äquivalent im Alten Testament (Deku verteidigt freilich, dass auch das AT die Unsterblichkeit der Seele kenne). Aber warum müssen wir uns der biblischen Anthropologie anschließen und alles verwerfen, was ihr "fremd" ist? Das folgt einfach nicht. Stattdessen muss man sich auf die Inhalte in allen ihren Sinnschichten einlassen. Und dabei gilt dann: Nähe und Ferne sind relativ, nämlich bezogen auf das, worum es geht bzw. was auf dem Spiele steht. Es werden im Übrigen die Differenzen aber nicht verwischt. Was es mit der Kirche auf sich hat, kann man nicht in die Antike zurückdatieren. Deku schreibt im Zusammenhang der antiken Gottesbeweise: "Allerdings kam einem auch dafür der so bewiesene Gott im Alltag nicht allzu nahe, obschon er von allen Fehltritten wissend, diese nach dem Tode bestrafte – es hatte nur niemals geheißen: Tibi soli peccavi [Ps. 51 (50), 6]." Hierfür gäbe es noch weitere Beispiele.

Dekus Schriften sind überreich an historischem Material, aber dieses ist niemals Selbstzweck. Die Kritik am Historismus – unter dem irreführenden Interesse am Relativismus, am mangelnden Einheitssinn – ist durchgängig und durchgängig radikal. Umso interessanter sind die Reflexionen zum sich geschichtlich (!) wandelnden Begriff der Geschichte. Dann erst werden wieder grundsätzliche Fragen wie die interessant, was denn geschichtliche Prozesse bestimmt, von welcher Art diese Bestimmung überhaupt ist. Man kann zudem sehen, dass eine frühe, schon aus den 30er Jahren datierende Aufmerksamkeit auf das Phänomen, das Deku "Selbstbestrafung" nennt und dem er einen ganz besonders materialreichen Aufsatz gewidmet hat, auch seine Geschichtsinterpretation leitet: So wie es Antizipationen und teleologische Prozesse in der Geschichte gibt – so dass sich jene Antizipationen vom Ziel her interpretieren lassen –, so gibt es auch vergleichbar bei individuellen Abirrungen auch in der Geschichte "Selbstbestrafung". Nach dem Satz des Thomas von Aquin, dass peccatum est poena peccati (eine Sünde die Strafe einer [anderen] Sünde ist), liegt die Selbstbestrafung darin, dass die Korrektur ausbleibt und Abirrung noch tiefgehender wird und noch radikaler ausfällt. Hierfür gibt es in den Aufsätzen mannigfache Beispiele.

Eine andere Form der Deutung geschichtlicher Prozesse besteht darin, eine einigermaßen konstante Systematik zugrundezulegen – sei sie ontologischer, sei sie moralpsychologischer Art. Von diesen systematischen Zusammenhängen aus werden Entwicklungen identifiziert, die etwa funktionale Äquivalente bereitstellen. Allerdings: Bestimmte "Systemstellen" können zwar inhaltlich kritisiert werden, diese Kritik geht aber anscheinend unmöglich so weit, dass diese Stellen selbst unbesetzt bleiben könnten. Am geläufigsten ist der Prozess der Vergötzung: an die Stelle Gottes tritt die Nation, der Fortschritt, die Geschichte etc. Da es sich aber selbstverständlich gerade nicht um austauschbare Inhalte handelt, erklären solche Substitutionen wieder neue Verirrungen.

Ganz platonisch inspiriert ist die Rolle, die der Mathematik zugesprochen wird. Sie ist das Bollwerk gegen allen Relativismus und der Ausweis für absolute Wahrheit. Dass sie eine humanisierende Wirkung auf den haben sollte, der sich ihr zuwenden, gehört ebenfalls zu einer Tradition, für Deku Belege von Platon über Boethius und Descartes bis Christian Wolff angibt. Ganz außergewöhnlich ist allerdings die Analogie, die Deku zwischen den Einheitsleistungen der Mathematik und der Vereinheitlichung der Tugendpraxis vorliegen sieht (WT 149; 228). Die im Denken gefassten Relationen können zwingend sein, ihre Geltung ist aber keine, die im Sosein oder gar im Sogewordensein der Vernunft ihr Fundament hat. Die menschliche Vernunft hat selbst ein Fundament – aber kein dingliches, kein geschichtliches, kein sprachliches. Diese Bedingtheiten werden freilich keineswegs bestritten, vielmehr sogar untersucht; worauf es Deku aber ankommt, ist, dass ihre Erklärungskraft nicht indifferent ist dagegen, ob eine Einsicht oder ein Irrtum verständlich zu machen ist.

Henry Deku war eine in höchstem Maße eindrucksvolle Persönlichkeit. Wenn man zweifeln konnte, ob es Philosophie im authentischen Sinne gibt, ob es Philosophie in einer Weise gibt, die sich nicht als Professoren-Philosophie im Stile Schopenhauers oder Nietzsche verdächtigen lässt, dann konnte einem die Begegnung mit diesem Mann eines Besseren belehren. In seiner Persönlichkeit bildeten tiefster Ernst und geistreicher Witz, eine sokratische Form unmittelbaren Fragens und eine geradezu stupenden Gelehrsamkeit eine unvergleichliche Einheit. Das Wissenwollen kann ausgesprochen ansteckend sein. Inspirierend wird das philosophische Fragen eines akademischen Lehrers aber erst dann, wenn ein Denker nicht bloß bestimmte Auffassungen "vertritt", sondern den Geist, aus dem die Suche nach Wahrheit hervorgeht, verkörpert. Die Konsequenzen von Gedanken werden dann erst sichtbar; denn Verbindlichkeit bedarf nicht allein einer guten Begründung, sondern der Erfahrung. Argumente dienen dazu, Behauptungen einsichtig zu machen. Dass es aber lohnend ist, darüber nachzudenken, das geht auch aus noch so starken Argumenten nicht hervor. Man kann es nur im "Umgang" (Platon, Ep. VII) erfahren, womit es jemand Ernst ist – am Ende dasjenige Ziel, von dem die Philosophie weithin abgekommen ist: sapientia.

Am 13. Dezember 2009 jährte sich der Geburtstag von Henry Deku zum hundertsten Mal. Dieses Jubiläum fiel auf den Sonntag Gaudete.

Aufsatzsammlung:
Wahrheit und Unwahrheit der Tradition. Metaphysische Reflexionen, hg. W. Beierwaltes, St. Ottilien (EOS) 1986.


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