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Das Urteil und sein Anspruch auf Wahrheit

Von Alexander Pfänder

Zum Urteil gehört notwendig die Behauptungsfunktion, die von der Kopula, außer der Hinbeziehung der Prädikatsbestimmtheit auf den Subjektsgegenstand, noch vollzogen wird. Diese Behauptungsfunktion nun enthält in sich den Anspruch auf Wahrheit. Jedes Urteil macht seinem Wesen gemäß notwendig diesen Anspruch auf Wahrheit. Ein Gedankengebilde, mag es sonst beschaffen sein, wie es will, das nicht den Anspruch auf Wahrheit wesentlich in sich enthält, ist daher sicher kein Urteil. Der Anspruch ist aber nicht eine dem Urteil äußerliche, wenn auch ihm notwendig anhaftende Bestimmtheit, sondern ist dem Urteil wesentlich innewohnend. Es ist daher in jedem Urteil implizite mitbehauptet, daß es selbst wahr sei. Dies ist ganz unabhängig davon, ob der das Urteil vollziehende und aussprechende Mensch an die Wahrheit des Urteils glaubt und den Anspruch auf Wahrheit anerkennt oder nicht. Die implizierte Mitbehauptung der Wahrheit des Urteils liegt auch dann in dem Urteil beschlossen, wenn der urteilende Mensch die Mitbehauptung nicht innerlich vollzieht. Aus jedem Urteil kann aber die implizierte Mitbehauptung herausgezogen und als sogenanntes Wahrheitsurteil von der Form “>S ist P< ist wahr” entfaltet werden. Dieses entfaltete Wahrheitsurteil ist jedoch keineswegs mit dem ursprünglichen Urteil »S ist P« bedeutungsidentisch. Denn im ersteren Urteil ist Subjektsgegenstand das Urteil »S ist P«, also sein Subjektsbegriff der Begriff des Urteils »S ist P«, und der Prädikatsbegriff ist der Begriff »wahr«, während im zweiten Urteil der Subjektsgegenstand der Gegenstand »S«, also der Subjektsbegriff der Begriff »S«, und der Prädikatsbegriff der Begriff »P« ist. Trotz dieser Sinnverschiedenheit der beiden Urteile stehen sie doch in jener engen Beziehung zueinander, die man Äquivalenz, Gleichwertigkeit oder Gleichgeltung genannt hat.

Um das Wesen des Urteils weiter aufzuhellen, ist es nötig, den im Behauptungsmoment enthaltenen Anspruch auf Wahrheit genauer zu bestimmen, d. h. das, worauf dieser Anspruch hinzielt, nämlich die Wahrheit, in ihrem Wesen zu erkennen. Die Frage, was Wahrheit sei, oder was von einem Urteil behauptet werde, wenn von ihm gesagt wird, daß es wahr sei, geht auf die Aufklärung des Normalsinns von »wahr«, wie er in diesem Falle mit dem Worte »wahr« verbunden wird. Wir scheiden also von vornherein denjenigen Sinn aus, der in Ausdrücken wie »ein wahrer Deutscher« mit dem Wort »wahr« verbunden wird. Ein »wahres« Urteil in diesem Sinne wäre ein Gedankengebilde, das nicht nur scheinbar, sondern in Wirklichkeit ein Urteil ist. Ein solches »wahres« Urteil könnte immer noch, unbeschadet seiner »Wahrheit«, wahr oder falsch in dem anderen, uns hier allein beschäftigenden Sinne sein. Ebenso scheiden wir die Frage aus, ob wir überhaupt ein Recht haben, von irgendeinem Urteil die Wahrheit in diesem Sinne zu behaupten. Diese Rechtsfrage kann ja der Natur der Sache nach erst dann mit Aussicht auf Erfolg dem Versuch einer Lösung unterworfen werden, wenn man zuvor den Sinn der »Wahrheit« geklärt hat. Die Sinn- oder Bedeutungsfrage muß überall der Rechtsfrage vorangehen. Schließlich ist auch die Frage, wie oder auf welchem Wege wir die Wahrheit der Urteile überhaupt oder diejenige bestimmter einzelner Urteile feststellen können, hier abzuscheiden, da auch die Lösung dieser Frage die Lösung der Sinnfrage vorausgesetzt.

Die Frage, was wir eigentlich mit »wahr« meinen, wenn wir von einem Urteil behaupten, es sei wahr, scheint keiner weiteren Antwort zu bedürfen. Denn jeder Mensch, der die deutsche Sprache versteht, weiß ohne weiteres und ohne die geringste Gefahr des Mißverständnisses sogleich ganz genau, was damit gemeint ist. Aber die Bedeutung eines Wortes richtig verstehen, ist etwas anderes, als die Bedeutung des Wortes richtig angeben. Es zeigt sich in diesem wie in so vielen anderen Fällen in der Logik, daß in dem Moment, wo nach der Bedeutung eines richtig und sicher verstandenen Ausdrucks gefragt wird, eine Sinnverwirrung eintritt, die dann in den allermeisten Fällen zu ganz falschen Antworten auf die Frage führt. Zudem wirken gerade bei der Wahrheitsfrage so leicht erkenntnistheoretische Ansichten störend und sinnverschiebend herein, so daß der Begriff der Wahrheit von vornherein gegen alle mögliche Sinnverwirrung und Sinnverschiebung gesichert werden muß.

Die Erörterungen über den Wahrheitsbegriff sind außerdem dadurch sehr getrübt worden, daß man nicht genügend scharf unterschied zwischen der Wahrheit, dem Fürwahrgehaltenwerden, den Gründen der Wahrheit und den Motiven des Fürwahrhaltens. Dies wird sich im folgenden deutlicher zeigen.

1. Zunächst könnte man meinen, die Wahrheit sei eine bestimmte Art von Urteil, derart, daß sich wahre Urteile durch ein besonderes Wesen von falschen Urteilen unterschieden. Eine gewisse innere Wesensvortrefflichkeit, eine innere Durchglühtheit des Urteils scheint mit seiner Wahrheit gemeint zu sein. Die Behauptung, ein Urteil sei wahr, wäre dann ein Bestimmungsurteil in dem oben angegebenen Sinne, in dem es sagt, was das betreffende Urteil ist. Indessen sind wahre Urteile keine besondere Art von Urteilen, vielmehr kann jede beliebige Art von Urteilen immer noch wahr oder falsch sein.

2. Die Wahrheit eines Urteils ist auch nicht eine an dem Urteil für sich vorfindliche Bestimmtheit. Die Klarheit und Deutlichkeit mancher Urteile ist weder selbst schon ihre Wahrheit noch ein hinreichendes Kriterium für ihre Wahrheit. Es können vielmehr völlig klare und deutliche Urteile dennoch falsch, ebenso wie unklare und undeutliche Urteile noch wahr sein können. Die Klarheit und Deutlichkeit der Urteile läßt allerdings den Menschen leicht an ihre Wahrheit, die Unklarheit und Undeutlichkeit leicht an ihre Unwahrheit glauben. Klarheit und Deutlichkeit ist also ein, wenn auch unberechtigtes, Motiv des Fürwahrhaltens, nicht aber die Wahrheit selbst, noch der hinreichende Grund für die Wahrheit von Urteilen.

Eine andere Bestimmtheit des Urteils, die man als seine Wahrheit in Anspruch nehmen könnte, ist seine innere Wiederspruchslosigkeit. Soviel steht ja fest, daß ein Urteil nicht wahr sein kann, wenn es in sich einen Widerspruch enthält. Die innere Widerspruchslosigkeit ist also gewiß eine notwendige Bedingung dafür, daß das Urteil überhaupt wahr sein kann, aber durchaus nicht die hinreichende Bedingung dafür, daß es nun auch wirklich wahr ist. Ein in sich völlig widerspruchsfreies Urteil kann vielmehr noch durchaus falsch sein. Denn die innere Widerspruchslosigkeit ist weder selbst die Wahrheit noch ein hinreichendes Kriterium für die Wahrheit eines Urteils.

So wie in diesen Fällen, so läßt sich auch sonst keinerlei andere Bestimmtheit an dem Urteil für sich auffinden, die mit der Wahrheit des Urteils selbst identisch wäre oder auch nur als ein hinreichendes Kriterium für seine Wahrheit gelten könnte. Solange man die Urteile nur rein für sich betrachtet, kann man es daher keinem einzigen Urteil unmittelbar ansehen, ob es wahr oder falsch ist. (Auf den besonderen Fall des analytischen Urteils werden wir später beim Satz von der Identität eingehen.) So bleibt denn nur die Vermutung übrig, daß die Wahrheit einem Urteile in Beziehung zu etwas anderem zukommt, daß wir also mit »wahr« ein dem Urteil zukommendes Relationsprädikat meinen. Suchen wir auf, welches der möglichen Relationsprädikate es sein kann.

3. Die Richtigkeit des sprachlichen Ausdrucks eines Urteils und sein Gedrucktsein sind Faktoren, die das Fürwahrhalten des Urteils begünstigen, während die Mangelhaftigkeit des sprachlichen Ausdrucks und seine bloß mündliche Kundgabe das Fürwahrhalten erschweren. Aber darin zeigt sich doch nur, daß die Art der sprachlichen Kundgabe von Bedeutung dafür ist, ob ein Urteil für wahr gehalten wird; nicht aber, daß eine bestimmte Art der sprachlichen Kundgabe mit der Wahrheit des Urteils identisch oder auch nur ein hinreichendes Kriterium für seine Wahrheit wäre, wie es Thomas Hobbes gemeint hat. Die Wahrheit eines Urteils ist vielmehr gänzlich unabhängig von der Art, wie es sprachlich ausgedrückt wird. Dies ist denjenigen wohlbekannt, die, nachdem sie ein offenbar falsches Urteil ausgesprochen haben, sich schnell darauf herausreden, daß sie sich nur falsch ausgedrückt hätten.

Näher scheinen wir dem Sinne der Wahrheit zu kommen, wenn wir die Wahrheit eines Urteils in seiner Beziehung zu anderen Urteilen suchen. In der Logik hat man oft die Wahrheit eines Urteils überhaupt als die innere und äußere Widerspruchslosigkeit des Urteils bestimmt. Daß die innere Widerspruchslosigkeit weder mit der Wahrheit identisch noch ein hinreichendes Kriterium für die Wahrheit eines Urteils ist, haben wir soeben gesehen. Daß für die äußere Widerspruchslosigkeit das gleiche gilt, ergibt sich aus folgender Überlegung. Ein Urteil ist äußerlich widerspruchslos, wenn es mit keinem anderen Urteil in Widerspruch steht. Diese anderen Urteile können zunächst diejenigen Urteile sein, die bestimmte Menschen schon haben und an deren Wahrheit sie glauben. Es sind in diesem Sinne die Vorurteile der Menschen. Es ist nun freilich eine Tatsache, daß die Menschen im allgemeinen diejenigen neuen Urteile für wahr halten, die mit ihren Vorurteilen übereinstimmen, die also keinen Widerspruch von diesen erfahren, oder gegen die sie nichts zu sagen wissen. Aber ebenso sicher ist doch, daß solche Urteile deshalb noch nicht wirklich wahr sind. Ebensowenig sind diejenigen Urteile ohne weiteres falsch, die den Vorurteilen bestimmter Menschen widersprechen, wenn auch solche Urteile gewöhnlich von den betreffenden Menschen für falsch gehalten werden. Es hieße die Herrschaft der Vorurteile sanktionieren, wenn man die äußere Widerspruchslosigkeit in diesem Sinne als die Wahrheit selbst oder als das sichere Kriterium der Wahrheit eines Urteils erklären wollte. Oder die Herrschaft der Unwissenheit, insofern es von der zufälligen Unwissenheit eines Menschen abhinge, ob er Urteile hat und für wahr hält, die einem neuen Urteil widersprechen können, oder ob er sie nicht besitzt.

Es liegt nahe, die Bestimmung der Wahrheit als der äußeren Widerspruchslosigkeit gegen die Kritik retten zu wollen dadurch, daß man unter den anderen Urteilen nicht die beliebigen Vorurteile irgendwelcher Menschen, sondern die Urteile derjenigen Wissenschaften versteht, die für die betreffenden Urteilsgegenstände maßgebend sind. Aber auch diese Bestimmung würde doch nur zur Rechtfertigung einer unberechtigten Sinnverwirrung führen, die allerdings häufig vorkommt. Wie oft sind nicht wahre Urteile bloß deshalb zunächst für falsch erklärt worden, weil sie gewissen, in den betreffenden Wissenschaften für wahr geltenden Urteilen widersprachen, und andere, später als falsch erkannte Urteile zunächst für wahr erklärt worden, weil sie so gut übereinstimmten mit den »gesicherten Ergebnissen der Wissenschaft«. Nichts hat den Fortschritt der Wissenschaften so sehr gehemmt und hemmt ihn noch immer, als die Anwendung dieses falschen Wahrheitskriteriums der »Widerspruchslosigkeit mit anderen Urteilen«. Es liegt in diesen Fällen auch nicht etwa nur eine falsche Anwendung eines an sich richtigen Wahrheitskriteriums vor, die sofort zu einer richtigen und wohl berechtigten werde, wenn man sich eben auf die wirklich »gesicherten Ergebnisse« der bisherigen Wissenschaft beschränke. Denn setzen wir auch voraus, daß diese Ergebnisse wirklich wahre Urteile seien, so ist zwar der Widerspruch, in den ein neues Urteil mit diesen wahren Urteilen tritt, ein hinreichendes Zeichen für die Falschheit des neuen Urteils. Der Widerspruch mit schon vorhandenen, wirklich wahren Urteilen kann also wohl als zureichendes Kriterium für die Abscheidung des Falschen aus der Wissenschaft gebraucht werden. Aber es gilt deshalb nicht das Entsprechende für die Widerspruchslosigkeit. Ein Urteil, das den wahren Urteilen der in Betracht kommenden Wissenschaft nicht widerspricht, ist deshalb noch kein wahres Urteil, sondern kann immer noch ebenso gut falsch sein. Die äußere Widerspruchslosigkeit eines Urteils ist weder identisch mit seiner Wahrheit noch ein hinreichendes Kriterium dafür. Sie ist zwar eine notwendige, aber nicht eine hinreichende Bedingung für seine Wahrheit. Wenn man daher die äußere Widerspruchslosigkeit eines Urteils, vielleicht zusammen mit seiner inneren Widerspruchslosigkeit, zuweilen als seine »formale« Wahrheit bezeichnet hat, so ist dies eine Sinnfälschung des Wahrheitsbegriffes und ein Mißbrauch des Wortes Wahrheit. Wenn man auf Grund erkenntnistheoretischer Überlegungen meint, die Wahrheit in dem eigentlichen und richtigen Sinne könne bei keinem einzigen Urteil vom Menschen wirklich erkannt werden, und wenn man dann doch nicht ganz auf wahre Urteile verzichten möchte, so deutet man gern die Wahrheit in bloße Widerspruchslosigkeit zu anderen Urteilen um. Erkenntnistheoretische Überlegungen haben jedoch bei der Bestimmung des reinen und unverfälschten Sinnes der Wahrheit gar nicht mitzusprechen.

Eine andere Beziehung eines Urteils zu bestimmten Urteilen scheint uns näher an den echten Wahrheitsbegriff heranzubringen, nämlich der Beweis oder die Begründung des Urteils, denn diese hängen so nahe mit der Wahrheit des Urteils zusammen, daß man manchmal im Ernste meint, ein wahres Urteil sei nichts anderes als ein bewiesenes Urteil. Es ist nicht immer nur eine ungeschickte Ausdrucksweise, wenn man zuweilen von jedem Urteil, das den Anspruch erhebt, wahr zu sein, verlangt, daß es bewiesen werden solle. Sondern man meint zuweilen wirklich, daß die Wahrheit eines Urteils nichts anderes sei als seine Bewiesenheit.

Tatsächlich werden ja auch manchmal Urteile nur deshalb für wahr gehalten, weil ihnen ein vermeintlicher Beweis beigefügt ist; und andere Urteile werden nur deshalb nicht für wahr gehalten, weil kein Beweis für sie erbracht ist. Aber das erstere ist doch nur dann berechtigt, wenn der Beweis aus wirklich wahren Urteilen besteht und zugleich die Folgerung eine richtige ist. Und selbst dann ist doch die Wahrheit des Urteils nicht identisch mit seiner Bewiesenheit, sondern die Wahrheit ist durch den Beweis nur indirekt ersichtlich gemacht. Jenes zweite aber, nämlich Urteile solange nicht für wahr zu halten, als sie nicht bewiesen sind, ist in allen denjenigen Fällen völlig unberechtigt, in denen die Urteile keines Beweises fähig und bedürftig sind. Denn auch solche Urteile können unzweifelhaft wahr sein. So ist z. B. das Urteil: »rot ist von grün verschieden« unzweifelhaft wahr. Es kann aber weder durch andere Urteile bewiesen werden, noch bedarf es eines solchen Beweises, sondern seine Wahrheit kann durch direkte Vergleichung von rot und grün sicher erkannt werden. Alles Beweisen setzt ja, um nicht ins Unendliche rückwärts zu gehen, schließlich voraus, daß es Urteile gibt, deren Wahrheit ohne Beweis ersichtlich ist. Nun handelt es sich hier aber ganz und gar nicht um die Frage, wie die Wahrheit von Urteilen ersichtlich und bestimmten Menschen glaubhaft gemacht werden könne, sondern darum, was denn die Wahrheit eines Urteils selbst sei. Und da zeigen eben jene unzweifelhaft wahren Urteile, die keines Beweises fähig und auch eines Beweises nicht bedürftig sind, daß die Wahrheit eines Urteils nicht mit seiner Bewiesenheit identisch sein kann. Der Anspruch jedes Urteils, wahr zu sein, ist daher nicht notwendig der Anspruch, bewiesen zu sein.

Überhaupt ist die Wahrheit eines Urteils nicht mit irgendeiner Beziehung des Urteils zu anderen Urteilen identisch. Primär geht der Anspruch eines Urteils nur auf seine Wahrheit, und erst sekundär kann er auch auf Beziehungen zu anderen Urteilen hingehen. Bleibt man daher innerhalb der Sphäre der Urteile als solcher, so kann über die Wahrheit eines, in sich widerspruchsfreien, Urteils gar nicht durch seine Beziehungen zu anderen Urteilen entschieden werden. Der Widerspruch und die Übereinstimmung zwischen Urteilen ist wechselseitig und gibt keinem der beiden Urteile einen Vorzug vor dem anderen. Es bleibt daher völlig unentschieden, welches der einander widersprechenden, oder der miteinander übereinstimmenden Urteile wahr oder falsch ist. Ebenso ist über die Wahrheit der einzelnen Urteile, die in einem Begründungszusammenhang stehen, durch diesen Zusammenhang selbst noch gar nichts entschieden. Maßgebend für die Wahrheit eines Urteils können im Reiche der Urteile nur diejenigen Urteile sein, deren Wahrheit oder Falschheit schon feststeht. Und diese Wahrheit oder Falschheit weist über das Gebiet der Urteile hinaus.

Ist die Wahrheit eines Urteils ein Relationsprädikat, so könnte man diejenige Relation, die hierfür in Betracht käme, zunächst noch in der Beziehung des Urteils zu denkenden Wesen und deren Erlebnissen und Tätigkeiten suchen. Überblicken wir daher im folgenden diejenigen Umdeutungen des Wahrheitsbegriffes, die auf diese Beziehung zurückgehen.

Wenn man z. B. erklärt, die Behauptung, ein Urteil sei wahr, besage nichts anderes als: das Urteil wird von mir für wahr gehalten, so setzt man das Urteil in eine bestimmte intentionale Beziehung zu einem denkenden Wesen und identifiziert dadurch die Wahrheit des Urteils mit der Tatsache, daß es von mir für wahr gehalten wird. Nun macht freilich das Urteil, indem es Anspruch auf Wahrheit macht, auch den Anspruch, von mir für wahr gehalten zu werden. Aber beide Ansprüche gehen doch nicht auf dasselbe, und der erstere ist sein primärer, der zweite sein sekundärer Anspruch. Die Behauptung, ein Urteil sei wahr, behauptet außerdem von dem Urteil etwas, was gar keine Relation zu mir enthält, sondern unabhängig von jeder Beziehung zu mir gelten will. Ein Urteil kann wahr sein, auch wenn ich es gar nicht für wahr halte. Ja, jeder Mensch wird wohl schon gelegentlich bestimmte Urteile für falsch gehalten haben, die trotzdem, wie er später selbst erkannt hat, damals wahr waren. Also kann die Wahrheit des Urteils gar nicht darin bestehen, daß ich es für wahr halte. Wer wirklich im Ernste behaupten würde, für ihn bedeute die Wahrheit eines Urteils nichts anderes, als daß er es für wahr halte, müßte auch das Umgekehrte behaupten, daß nämlich alle Urteile, die er für wahr halte, notwendig auch wahr seien. Diese offenbar vermessene Unfehlbarkeitserklärung macht uns aber deutlich darauf aufmerksam, daß die Wahrheit eines Urteils völlig verschieden ist von dem »von mir für wahr gehalten werden«.

Die eben betrachtete Umdeutung des Wahrheitsbegriffes wird nicht besser, wenn man, in Erinnerung an die »kataleptische Vorstellung« der Stoiker, erklärt, es müsse natürlich eine gewisse Nötigung zu dem »Fürwahrhalten« des Urteils vorliegen, und die Wahrheit eines Urteils bestehe eben darin, daß es mich nötigt, es für wahr zu halten, ihm beizustimmen, es anzuerkennen oder es zu glauben. Denn auch dies ist mit dem Wahrheitsbegriff nicht gemeint und kann gar nicht damit gemeint sein. Ein Urteil kann wahr sein, ohne daß es mich nötigt, es für wahr zu halten; und es kann mich nötigen, es für wahr zu halten, auch wenn es tatsächlich nicht wahr ist. Die Nötigung, die ein Urteil auf mein Fürwahrhalten ausübt, kann ein Grund meines Glaubens an seine Wahrheit, nicht aber der Grund seiner Wahrheit, und noch viel weniger seine Wahrheit selbst sein.

Will man den Vorwurf der eigenen Unfehlbarkeitserklärung vermeiden, den man sich auch durch diese Umdeutung zuziehen würde, so kann man die Beziehung des Urteils zu anderen Menschen herbeiziehen und das Gewicht dieser Beziehungen entweder durch die Quantität oder durch die Qualität dieser anderen Menschen zu steigern suchen. Im ersten Fall kommt man zu der Erklärung: die Behauptung, ein Urteil ist wahr, besage nichts anderes als, es ist allgemeingültig, und das heiße, es wird von allen Menschen für wahr gehalten. Nur unklares Denken jedoch kann meinen, die Wahrheit eines Urteils bestehe darin, daß es von allen Menschen für wahr gehalten werde. Denn ein Urteil kann wahr sein, ohne von allen Menschen für wahr gehalten zu werden; und ein Urteil kann von allen Menschen für wahr gehalten werden und doch nicht wahr sein. Freilich ist die Erfahrung, daß alle Menschen, von denen man weiß, ein bestimmtes Urteil für wahr halten, ein drängender Antrieb, nun auch selbst das Urteil für wahr zu halten, aber sie garantiert doch die Wahrheit des Urteils in keiner Weise. Indem das Urteil den Anspruch erhebt, wahr zu sein, macht es allerdings auch den Anspruch, von allen Menschen für wahr gehalten zu werden. Aber der zweite Anspruch gründet sich doch auf den ersten: weil das Urteil wahr zu sein beansprucht, verlangt es dann auch den Glauben aller Menschen. Wenn der erste Anspruch erfüllt ist, ist gewöhnlich der zweite noch lange nicht erfüllt. Ja es gäbe wohl schließlich überhaupt keine wahren Urteile, wenn sie erst auf die Anerkennung durch alle Menschen zu warten hätten. Die Wahrheit eines Urteils ist nicht nur nicht identisch mit der Anerkennung durch alle Menschen, sondern sie ist auch davon völlig unabhängig. Wahre Urteile sind nur in dem Sinne notwendig allgemeingültig, daß sie als wahr für alle Menschen, ja für alle denkenden Wesen gültig sein wollen, nicht aber in dem Sinne, daß sie tatsächlich auch von allen denkenden Wesen für wahr gehalten werden. Ist ein Urteil wahr, so schadet es seiner Wahrheit gar nichts, wenn es nicht von allen Menschen anerkannt wird; ist ein Urteil falsch, so verhilft ihm auch die Anerkennung aller Menschen nicht im geringsten zur Wahrheit.

Zieht man statt der Quantität der Menschen ihre Qualität in Betracht, indem man erklärt, die Wahrheit eines Urteils bestehe in der Anerkennung durch bestimmte Autoritäten oder bestimmte Vertreter der Wissenschaften, so bleibt man im Grunde in derselben Verwirrung stecken. Denn Urteile können in eigentlichem Sinne wahr sein ohne jede Beziehung zu solchen menschlichen Autoritäten, ja selbst dann, wenn diese Autoritäten sie für falsch halten. Wie auch, umgekehrt, Urteile falsch sein können, obgleich sie von den Autoritäten für wahr gehalten werden. Nur ist es da, wo man kein anderes Kriterium für die Wahrheit eines Urteils hat, berechtigt, diejenigen Urteile für wahr zu halten, die von bestimmten Autoritäten als wahr hingestellt werden, ohne daß man damit jedoch eine wirkliche Garantie für ihre Wahrheit hat. Die Wahrheit ist auf keinen Fall selbst identisch mit der Anerkennung durch Autoritäten.

Man kann übrigens auch schon im allgemeinen erkennen, daß das »Wahrsein« in jedem Fall von dem »Fürwahrgehaltenwerden« verschieden ist, gleichgültig, ob es ein oder mehrere oder alle oder bestimmte autoritative denkende Wesen sind, die das Urteil für wahr halten. Denn, indem ein Urteil für wahr gehalten wird, wird ja eben von ihm geglaubt, daß es selbst für sich wahr sei, und nicht bloß, daß es von irgendwelchen denkenden Wesen für wahr gehalten werde.

In eine andere Beziehung zu den denkenden Menschen setzt der pragmatistische Wahrheitsbegriff die wahren Urteile, indem er behauptet, die Wahrheit eines Urteils bestehe in der Nützlichkeit, in der Lebensförderung, die das Urteil den Menschen gewähre. Daß hierin nun wieder eine unberechtigte Umdeutung des schlichten Wahrheitsbegriffes ausgesprochen ist, ergibt sich sogleich, wenn man sich fragt, ob wirklich mit der Erklärung, ein bestimmtes Urteil sei wahr, nichts anderes gemeint sei als, das Urteil sei nützlich; oder ob auf die Frage: »Ist das Urteil wahr?« die richtige Antwort gegeben wird durch die Behauptung, es sei nützlich. Schon die Tatsache, daß wahre Urteile schädlich, falsche Urteile nützlich sein können, ja schon die bloße Behauptung, daß es so sein könne, beweist, da sie keine in sich widerspruchsvolle ist, daß die Wahrheit eines Urteils nicht mit seiner Nützlichkeit identisch sein kann. Zum Überfluß sei noch darauf hingewiesen, daß die Wahrheitsforschung durchaus nicht nach der Nützlichkeit oder der Lebensförderung, die ein Urteil für die Menschen haben kann, sucht, um zu bestimmen, ob das Urteil wahr ist.

Diese unklare pragmatistische Lehre kann sich nicht einmal darauf zurückziehen, daß sie nur das Motiv des Fürwahrhaltens von Urteilen habe angeben, nicht aber den Wahrheitsbegriff selbst habe bestimmen wollen. Denn es ist nicht einmal wahr, daß nur die nützlichen und lebensfördernden Urteile für wahr und nur die lebensschädlichen Urteile von den Menschen für falsch gehalten werden. Urteile, deren Lebensschädigung klar erkannt wird, können trotzdem für wahr, und Urteile, deren Lebensförderung ebenso klar erkannt wird, können trotzdem für falsch gehalten werden.

Welche andere Beziehung der Urteile zu menschlichen Individuen und deren Erlebnissen man nun auch außer den genannten noch herbeiziehen möchte, soviel ist klar, daß die Wahrheit eines Urteils selbst keinerlei derartige Beziehung notwendig in sich schließt, sondern davon gänzlich unabhängig ist. Der Anspruch jedes Urteils, wahr zu sein, appelliert offenbar an etwas ganz anderes, an etwas, das gänzlich jenseits aller menschlichen Individuen und ihrer Erlebnisse liegt.

Fassen wir, ehe wir nun zur positiven Bestimmung des Wahrheitsbegriffes übergehen, unsere bisherigen Ergebnisse noch kurz zusammen, so ergibt sich folgendes Resultat.

4. Zusammenfassung. Jedes Urteil macht Anspruch auf Wahrheit. Es ist nicht erst ein Urteil und macht dann außerdem noch den Anspruch auf Wahrheit. Sondern ohne solchen Anspruch ist es überhaupt kein Urteil. Es gehört zu seinem Wesen, einen solchen Anspruch zu machen, da dieser Anspruch in der Behauptungsfunktion der Kopula, die für das Urteil charakteristisch ist, notwendig enthalten ist. Dieser Anspruch auf Wahrheit nun ist nicht der Anspruch, eine bestimmte Art von Urteil zu sein. Denn jede Art von Urteil will wahr sein, ohne dabei seine Art eventuell ändern zu wollen. Jener Anspruch ist auch nicht der Anspruch, eine bestimmte Beschaffenheit zu haben. Denn die Wahrheit ist nicht eine bestimmte Beschaffenheit des Urteils für sich genommen. Freilich will das Urteil, indem es wahr sein will, notwendig auch in sich widerspruchsfrei sein, da es sonst nicht wahr sein kann. Aber der Anspruch auf Wahrheit geht über die bloße innere Widerspruchslosigkeit weit hinaus, da innerlich widerspruchslose Urteile immer noch falsch sein können. Ebenso geht der Anspruch auf Wahrheit auch über die bloße Richtigkeit des sprachlichen Ausdrucks hinaus, da auch sprachlich richtig ausgedrückte Urteile noch falsch sein können. Der Anspruch auf Wahrheit geht zwar nicht auf Übereinstimmung oder äußere Widerspruchslosigkeit mit irgendwelchen Urteilen des Lebens oder der Wissenschaft, wohl aber auf solche mit den wirklich wahren Urteilen. Dennoch reicht er auch über diese noch hinaus, weil auch solche, den wirklich wahren Urteilen nicht widersprechenden Urteile doch noch falsch sein können. Da die Wahrheit nicht mit der Bewiesenheit eines Urteils identisch ist, so beansprucht jedes Urteil nicht notwendig, bewiesen zu sein, wohl aber wahr zu sein, auch da wo es keines Beweises fähig ist, nämlich wenn es keines Beweises bedürftig ist. Schließlich geht der Anspruch auf Wahrheit auch nicht in erster Linie darauf, von mir, von mehreren oder von allen Menschen oder denkenden Wesen für wahr gehalten zu werden; auch nicht darauf, eine Nötigung zum Glauben oder Fürwahrgehaltenwerden auf irgendwelche denkende Wesen auszuüben. Denn nur weil es wahr sein will, will es dann auch für wahr gehalten werden. Die pragmatistische Lebensförderung aber liegt gar nicht in der Absicht des Urteils; es will vielmehr wahr sein, gleichgültig ob es das Leben irgendwelcher Wesen fördert oder schädigt.

5. Positive Bestimmung der Wahrheit. So bleibt denn für den Anspruch auf Wahrheit gar keine andere Beziehung mehr übrig, als die Beziehung des Urteils zu den von ihm gesetzten Gegenständen und Sachverhalten. Es scheint also die Bestimmung, die zuweilen in der Logik gegeben worden ist, daß nämlich die Behauptung, ein Urteil sei wahr, gar nichts anderes besage, als daß der Sachverhalt, den das Urteil setze, bestehe, das Richtige zu treffen. Dennoch liegt genaugenommen auch in dieser Bestimmung wieder eine der leider in der Logik so häufig vorkommenden Bedeutungsverwechslungen vor. Denn die beiden, bedeutungsidentisch gesetzten Behauptungen sind offenbar bedeutungsverschieden, da sie sowohl verschiedene Subjektsbegriffe als auch verschiedene Prädikatsbegriffe enthalten. Im ersten Fall ist der Begriff des Urteils Subjektsbegriff, das Urteil selbst also Subjektsgegenstand, und der Begriff »wahr« der Prädikatsbegriff, »wahr« selbst demnach die Prädikatsbestimmtheit; während im zweiten Falle der Begriff des von dem Urteil verschiedenen Sachverhalts den Subjektsbegriff, der Sachverhalt selbst den Subjektsgegenstand und der Begriff »besteht« den Prädikatsbegriff bildet. Trotz dieser Bedeutungsverschiedenheit stehen jedoch die beiden Behauptungen in engem Zusammenhang: wenn das Urteil wahr ist, dann besteht der entsprechende Sachverhalt; und wenn der Sachverhalt, den das Urteil setzt, besteht, dann ist auch das Urteil wahr. Aber dieser Zusammenhang begründet keine Identität des Sinnes, sondern nur eine Äquivalenz.

Die richtige Ausdeutung des Sinnes der Behauptung, ein Urteil sei wahr, können wir gewinnen, wenn wir von der alten Bestimmung ausgehen, die Wahrheit sei die »Adaequatio intellectus et rei«, wenn wir unter dem »intellectus« hier das Urteil und unter der »res« den von dem Urteil betroffenen Gegenstand verstehen. Dann besagt nämlich diese Bestimmung das gleiche wie jene andere alte Erklärung: die Wahrheit eines Urteils sei seine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. Die Einwände, die gegen diese Erklärung erhoben worden sind, beruhen wohl alle auf Mißverständnissen und lassen sich durch die Aufhebung dieser Mißverständnisse sämtlich beseitigen. Zunächst darf die »Wirklichkeit«, mit der das Urteil übereinstimmen soll, nicht mit der Realität identifiziert werden. Sonst wäre freilich jene Bestimmung ungenügend, da es ja Urteile gibt, die sich gar nicht auf etwas Reales beziehen, wie z. B. die mathematischen und die logischen Urteile, und die dennoch wahr sein können, ohne mit irgend einer Realität übereinzustimmen. Unter der Wirklichkeit kann nur das wirkliche Verhalten der von dem Urteil bezielten Gegenstände, seien diese nun real oder irreal, gemeint sein. Das zweite Mißverständnis bezieht sich auf die »Übereinstimmung«. Sie ist hier, wie ja überhaupt, nicht notwendig im Sinne einer Gleichheit oder Ähnlichkeit zu verstehen. Denn sonst wäre jene Erklärung allerdings falsch, da Urteile sich von den Gegenständen und den Sachverhalten, auf die sie sich beziehen, in den allermeisten Fällen wesentlich unterscheiden, also gar keine Gleichheit oder Ähnlichkeit mit ihnen haben können, trotzdem aber sehr wohl noch wahr sein können. Ebensowenig bedeutet die Übereinstimmung eines Urteils mit dem Verhalten des von ihm bezielten Gegenstandes, daß das Urteil ein Abbild des Gegenstandes und seines Verhaltens sei. Das Denken, das Bilden von Urteilen speziell, besteht gar nicht im Herstellen von Abbildern der Gegenstände. Wer sich solche Abbilder von Gegenständen macht, gewinnt eine Bildergalerie, aber keine Urteile. Die Übereinstimmung besagt hier vielmehr nur dies, daß das Urteil in seiner behauptenden Setzung, die es in bezug auf seinen Subjektsgegenstand vollzieht, zusammentrifft mit dem Verhalten des Gegenstandes selbst. Nimmt man daher die Begriffe »Wirklichkeit« und »Übereinstimmung« in diesem genaueren Sinne, so ist allerdings mit jener Erklärung die Bedeutung der Wahrheit eines Urteils richtig getroffen. Ein Urteil ist wahr, z. B. das Urteil »Schwefel ist gelb« ist wahr, das heißt wirklich nichts anderes als, das Urteil trifft in seiner behauptenden Hinzusetzung des »gelb« zu dem Subjektsgegenstand »Schwefel« zusammen mit dem Verhalten des Schwefels selbst, der, indem er gelb ist, sich wirklich so verhält, wie das Urteil von ihm behauptet. Wir können also das Wort »Übereinstimmung« in diesem Sinne nehmen und dann kürzer sagen, die Wahrheit eines Urteils ist die Übereinstimmung des Urteils mit dem bestehenden Sachverhalt.

Ist dies der Sinn der Wahrheit, so besteht also der Anspruch des Urteils, wahr zu sein, in dem Anspruch, dem Selbstverhalten des von dem Urteil betroffenen Subjektsgegenstandes gemäß oder angemessen zu sein. Dieser Anspruch setzt das Selbstverhalten des Gegenstandes als maßgebendes Fixum für die Urteilsbildung voraus. Der Begriff der Wahrheit setzt voraus, daß es Gegenstände gibt, die unabhängig von den auf sie bezogenen Urteilen sich in bestimmter Weise verhalten, und durch ihr so selbständiges Verhalten für die auf sie bezogenen Urteile den absolut entscheidenden Maßstab bilden. Auch die irrealen Gegenstände, die selbst Produkte einer Denktätigkeit sind, können trotzdem diese Voraussetzung erfüllen, insofern sie als einmal produzierte nun einen Eigenbestand und ein eigenes Verhalten zeigen. Läßt man diese Voraussetzung fallen, behauptet man also, daß es gar keine von den Urteilen unabhängigen und sich selbständig verhaltenden Gegenstände gebe, so hebt man damit die Möglichkeit von Urteilen auf, oder man muß den Sinn der Urteile und den Sinn der Wahrheit umdeuten und verfälschen.

Von hier aus können wir nun einen hellen Durchblick durch die eigentümliche Natur des Urteils gewinnen. Jedes Urteil bezieht sich notwendig auf irgendeinen Gegenstand. In der Wahl des Gegenstandes ist das Urteil an sich unbeschränkt frei. Da jeder Gegenstand unbeschränkt viele mögliche Sachverhalte darbietet, so kann nun ein Urteil über einen, aus der unendlichen Menge möglicher Gegenstände frei gewählten, Gegenstand auch irgendeinen der unbeschränkten Menge möglicher Sachverhalte frei wählen. Aber nachdem es so selbstherrlich an die Gegenstände und die Sachverhalte herangetreten ist, muß es nun auf Grund seines eigenen Wesens, auf Grund seines Anspruches auf Wahrheit, sich in seinem konkreten Gehalt absolut und vollständig dem frei gewählten Gegenstand und seinem Verhalten unterordnen, es muß sich ihm absolut sklavenhaft, mit der größten Behutsamkeit anschmiegen. Es liegt im Wesen des Urteils, seine Selbstherrlichkeit gegenüber der Gegenstandswelt von sich aus frei und absolut aufzugeben und in diesem Sinne absolut objektiv sein zu wollen.

Das redliche Wahrheitsstreben wird daher bei der Aufstellung von Urteilen zum Kriterium ihrer Wahrheit nicht die schon vorhandenen und für wahr gehaltenen Urteile des Lebens und der Wissenschaften nehmen, wird nicht ausschließlich die Widerspruchslosigkeit mit diesen Urteilen zum entscheidenden Maßstab gebrauchen, wird nicht die Beweisbarkeit durch derartige Urteile allein entscheiden lassen, wird nicht die Meinungen vieler, aller oder gewisser autoritativer Menschen den Richter über die Wahrheit neuer Urteile bilden lassen, wird aber auch nicht die angenehme oder unangenehme Gefühlswirkung, nicht die Lebensförderung oder Lebensschädigung, die von den Urteilen ausgehen können, verwechseln mit der Wahrheit des Urteils, sondern es wird sich zunächst den zu beurteilenden Gegenständen und Sachverhalten so nahe und so unvoreingenommen als möglich zuwenden und nun in möglichst behutsamer und sorgfältiger Anschmiegung an die Gegenstände und ihr Verhalten die Urteile bilden oder prüfen. Es wird vor allem nicht verwechseln die Aussagen eines »Wahrheitsgefühls« oder den Wahrheitsschein mit dem Wahrsein; und nicht das bloße Fürwahrhalten mit der Einsicht in die Wahrheit eines Urteils.

Das Wahrheitsurteil, das von einem Urteil ausdrücklich behauptet, daß es wahr sei, ist also ein Relationsurteil, das seinen Subjektsgegenstand, nämlich das betreffende Urteil, in eine bestimmte Relation zu dem Verhalten desjenigen anderen Gegenstandes setzt, der von dem beurteilten Urteil betroffen wird. Die Prädikatsbestimmtheit des Wahrheitsurteils ist die Relationsbestimmtheit »wahr«. Diese wird durch den Prädikatsbegriff »wahr« und durch die Kopula »ist« hinbezogen auf den Subjektsgegenstand, nämlich auf das beurteilte Urteil, und behauptend mit ihm in eine bestimmte sachliche Einheit gesetzt. Das Wahrheitsurteil entspricht also ebenfalls der allgemeinen Formel des Urteils »S ist P«, indem es sowohl einen Subjektsbegriff als auch einen Prädikatsbegriff und den doppelt funktionierenden Kopulabegriff enthält.

Nachdem nun das allgemeine Wesen des Urteils klargestellt ist, sei noch kurz, bevor wir in die Betrachtung der verschiedenen einzelnen Arten von Urteilen eintreten, darauf hingewiesen, welche Urteile in einem sprachlich ausgedrückten Urteil impliziert sind.

Die in einem Urteil implizierten Urteile

Die Frage nach der Implikation von Urteilen in einem vorgegebenen Urteil betrifft das allgemeine Problem, welcher Umkreis von Urteilen notwendig mit der Wahrheit eines bestimmten Urteils ebenfalls wahr ist. Dieses Problem aber gehört in die Lehre von den unmittelbaren Schlüssen und kann daher erst später behandelt werden. Hier sei nur an einem besonderen Beispiel näher ausgeführt, daß schon ein scheinbar einfaches Urteil eine ganze Reihe anderer Urteile implizieren kann. Diese implizierten Urteile gehören dann allerdings mit zu dem vollen Bedeutungsgehalt des bestimmten Urteils. Aber sie bilden nicht dessen entfalteten Sinn. Gerade weil sie jedoch in ihm enthalten sind, so bieten sie die verführerische Gelegenheit, dieses oder jenes von ihnen mit dem entfalteten Sinn des Urteils zu verwechseln und so das Urteil in ein ganz anderes umzudeuten. Bei der Deutung eines gegebenen Urteils muß man also genau unterscheiden, ob man auch wirklich seinen entfalteten Sinn oder nur diesen oder jenen der in ihm implizierten Sinne mit der Ausdeutung trifft.

Als Beispiel sei ein einfaches positives Bestimmungsurteil, nämlich das Urteil: »Dies ist Schwefel« genommen. Dieses sprachlich ausgedrückte Urteil enthält in sich implizite mindestens folgende verschiedenen Urteile:

1. Das Bestimmungsurteil: »Dies ist ein körperlicher Stoff.«

2. Die attribuierenden Urteile: »Dies ist ausgedehnt, schwer, gelb, harzglänzend«, wenn der Begriff »Schwefel« nicht nur die bestimmte Stoffart, sondern zugleich die ihr zukommenden Eigenschaften »ausgedehnt, schwer, gelb und harzglänzend« mitmeint.

3. Die Existenzialurteile: »Dies existiert« und »Schwefel existiert«, wenn das »Dies« die Existenzialmeinung in sich schließt.

4. Die Relationsurteile: »Dies ist ähnlich oder gleichartig bestimmten anderen Körperdingen«, wenn im gegebenen Falle der Begriff »Schwefel« nicht nur eine bestimmte Stoffart, sondern zugleich auch andere Dinge meint, die ebenfalls diese Stoffart zeigen.

Außer diesen Ähnlichkeitsrelationsurteilen enthält das Urteil weiter das »Benennungsurteil«, also das intentionale Relationsurteil: »Dies heißt im Deutschen Schwefel«, insofern in dem sprachlichen Ausdruck des Urteils das deutsche Wort »Schwefel« in seinem sprachgebräuchlichen Sinn genommen zu sein beansprucht.

Es ist außerdem impliziert das intentionale Begriffsurteil »Dies fällt unter den Begriff Schwefel«, weil das, was tatsächlich Schwefel ist, auch unter den Begriff »Schwefel« fällt.

Schließlich impliziert das Urteil noch die Behauptung: »Dies gehört zu der Klasse von Dingen, die aus Schwefel bestehen«, weil jeder bestimmten Stoffart eine Klasse von Dingen aus dieser Stoffart entspricht, und jedes Ding, das von dieser Stoffart ist, auch zu dieser Klasse von Dingen gehört.

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Alexander Pfänder (1870-1941), “der Münchener Altmeister der Phänomenologie” (Wolfgang Trillhaas), war zusammen mit Edmund Husserl der Begründer der Phänomenologie. Zu seinen Schülern gehörte Dietrich von Hildebrand. Der vorliegende Text ist seiner Logik entnommen, die erstmals 1921 im vierten Band des Jahrbuches für Philosophie und phänomenologische Forschung erschien und Husserl zum 60. Geburtstag gewidmet ist. Eine dritte Auflage erschien 1963 im Max Niemeyer Verlag, Tübingen. Der Text bildet das fünfte Kapitel im ersten Abschnitt, der die Lehre vom Urteil behandelt (II. Abschnitt: Die Lehre vom Begriff; III.: Die obersten logischen Grundsätze; IV.: Die Lehre von den Schlüssen). Seine Logik wurde von seinen Schülern Ernst Heller, Fritz Löw und Herbert Spiegelberg ausgebaut und weitergeführt.


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