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Moral ohne Gott?

Von P. Engelbert Recktenwald

Immer wieder erntet Empörung, wer sagt, dass ohne Gott alle Moral zusammenbricht. Für eine hochstehende Moral brauche man keinen Gott, lautet die Erwiderung.

Doch dann begegne ich solchen Parolen, wie sie Abtreibungsbefürworter dem Berliner Marsch für das Leben entgegenhielten: “Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat”. Hier erscheint Gott als störendes Hindernis für das “Recht auf Abtreibung”, also auf Tötung von Menschen. Wo Gott als Garant des Lebens wegfällt, wird der Mensch zum Freiwild, zumindest der Mensch, der sich nicht wehren und seine Rechte artikulieren kann. Wenn der Mensch nicht mehr das Ebenbild Gottes ist, sondern bloß noch ein arrivierter Affe, wird die Rede von seiner Würde zur Rhetorik, die im Ernstfall allen möglichen Interessen geopfert wird. Ohne Gott wird der Mensch dem Menschen zum Wolf (Thomas Hobbes). Die Berufung des Wolfs auf sein Selbstbestimmungsrecht, um damit das Lebensrecht auszuhebeln (so etwa bei Jochen Taupitz), ist zynisch. Schon beim Eigentum findet dieses Recht seine Grenze, denn niemand würde einem Dieb diese Rechtfertigung abnehmen. Aber wenn es ums Lebensrecht geht, soll es plötzlich den Vorrang haben?

Solche Verirrung ist nur auf der Basis des Atheismus möglich. Denn wenn Gott nicht existiert, gibt es auch keine Heiligkeit menschlichen Lebens, keine unantastbare Würde und keine unbedingte Geltung des Tötungsverbots unschuldiger Kinder. Dann macht sich der Mensch selbst zu Gott und maßt sich an, selber zu bestimmen, wer als Mensch gelten darf und wer nicht, wer leben darf und wer nicht.

Ohne Gott werden selbst jene Rechtsgüter zum Spielball der Interessen, die unter dem Schutz der Verfassung stehen: “Kein Staat”, fordern sie. Obwohl der Schutz des Staates schon längst wirkungslos geworden ist, ist ihnen allein schon die verfassungsmäßige Anerkennung des Lebensrechts ein Dorn im Auge. Ohne Gott fällt alle Moral zusammen: Wahrlich, die Parolen der Abtreibungsbefürworter zeigen es uns!

Doch der Atheismus zerstört die Moral nicht notwendigerweise. Selbstverständlich ist es auch ohne Gottesglaube möglich, moralisch zu handeln. Denn auch der Atheist hat ein Gewissen, auch er hat eine Antenne für Würde und Werte, auch er kann gut und böse unterscheiden. Die katholische Theologie spricht vom Naturrecht, das der natürlichen Vernunft zugänglich ist, und der hl. Paulus vom Gesetz Gottes, das dem Herzen des Menschen eingeschrieben ist (Röm 2,15).

Das Problem ist nur, dass jede naturalistische Erklärung - und eine andere steht dem Atheisten nicht zur Verfügung - die Moral wegdeutet. Für Nietzsche war die Moral eine Erfindung der Schwachen, um sich vor den Starken zu schützen. Für Evolutionisten ist sie ein Trick der Natur im Überlebenskampf. Für Psychologisten ist sie ein Produkt der Erziehung. In allen diesen Fällen wird der Spruch des Gewissens in etwas anderes verwandelt, als was er sich selbst präsentiert: Er ist nicht mehr Ausfluss einer objektiv bestehenden Verpflichtung, sondern ein Natur-, Erziehungs- oder Gesellschaftsprodukt. Im selben Moment, in dem er als solcher durchschaut wird, verliert er seine bindende Kraft, und die Frage, ob ich mich darüber hinwegsetze oder nicht, wird eine Frage des berechnenden Kalküls. Mit anderen Worten: Jede naturalistische Erklärung steht im Widerspruch zur sittlichen Evidenz.

Wenn also Atheisten moralisch handeln, dann nur, weil sie inkonsequent sind. Gott sei Dank sind sie das! In der Praxis ist die sittliche Evidenz eben doch stärker als jede naturalistische Erklärung. Nur der zu Ende gedachte Atheismus zerstört die Moral.

Daraus folgt aber auch das Umgekehrte: Die konsequent zu Ende gedachte Moral zerstört den Atheismus! Aus dem bekannten Wort Dostojewskis kann man deshalb einen Gottesbeweis machen: Wenn Gott nicht existiert, ist alles erlaubt, sagte er. Nun aber, kann man hinzufügen, ist nicht alles erlaubt. Das sagt uns die sittliche Evidenz Tag für Tag. Also existiert Gott.

Dieser Artikel ist auch auf Polnisch erschienen


Die falschen Erlöser

Über den philosophischen Ertrag der Missbrauchsdebatte

Groß ist die Welle der Empörung, die über die Kirche wegen des immer größer werdenden Missbrauchsskandals hereinschlägt. Der Ruf nach Aufklärung ist laut und einhellig. Die Täter, die sich der abscheulichen Vergehen und Verbrechen schuldig gemacht haben, müssen zur Rechenschaft gezogen werden.

Doch da ist Erlösung in Sicht! Die Empörung läuft ins Leere, denn “gut” und “böse” sind “banale, inhaltsleere Begriffe”. Es gibt keine freien moralischen Entscheidungen für das Gute oder Böse, es gibt keine Willensfreiheit. Diese Freudenbotschaft verkünden uns die Atheisten Carsten Frerk und Michael Schmidt-Salomon. Also umsonst die ganze Aufregung! “Nach heutigem Wissensstand verhalten sich Menschen nämlich exakt so, wie sie sich aufgrund ihrer biologischen Prägung und ihrer Lebenserfahrung verhalten müssen”, schreiben sie in ihrem Buch Die Kirche im Kopf. Der Kinderschänder verhält sich also gerade so, wie er eben programmiert ist, und dass uns sein Verhalten als böse erscheint, ist nur ein religiöser Hokuspokus. Schmidt-Salomon und Frerk sind also die idealen Retter, um die Kirche von der moralischen Anklagebank zu ziehen, denn Moralität ist nur eine Chimäre.

Doch leider verhalten sich beide merkwürdig stumm. Ihre Botschaft verkündeten sie vor ein paar Jahren, doch jetzt, wo es gilt, sie anzuwenden, glänzen sie durch Abwesenheit. Vielleicht merken sie selber, dass ihre Theorie den Praxistest nicht bestehen kann. Zu stark ist die sittliche Evidenz von Gut und Böse in Fällen wie denen, von denen die Öffentlichkeit in diesen Wochen aufgewühlt wird. Dass die Begriffe “gut” und “böse” inhaltsleer seien und Kinderschänderei folglich genau so wertneutral wäre wie Kinderhilfe, dass unsere Empörung über diese Verbrechen nichts anderes wäre als ein Reflex unserer biologischen Determiniertheit, nicht aber die berechtigte Reaktion auf etwas Böses, das die moralische Verurteilung wirklich verdient - das mag in weltfremden philosophischen Spekulationen zu goutieren sein, in der Konfrontation mit der Wirklichkeit dagegen erkennen wir klar, dass diese Theorie nur eine weitere Ohrfeige für die Opfer darstellt. Die Reflexion auf diese Tatsache sollte unser Vertrauen auf unsere sittliche Erfahrung und unser Misstrauen in jede Philosophie stärken, die die Moralität hinwegdeutet. Hören wir im Zweifelsfall eher auf unser Gewissen als auf die Herren Frerk und Schmidt-Salomon. Und im gegenwärtigen Fall lautet der Ruf des Gewissens, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, den Opfern zu helfen, die Kirche von solchen Tätern zu reinigen - und der trügerischen Freudenbotschaft der Atheisten zu widerstehen.


Moralischer Abgrund

Denn im Grunde haben das nationalsozialistische Heidentum wie das marxistische Dogma dies gemeinsam, daß sie totalitäre Ideologien sind und dazu neigen, Ersatzreligionen zu werden.

Schon lange vor dem Jahre 1939 zeigte sich in gewissen Bereichen der europäischen Kultur der Wille, Gott und sein Bild aus dem Horizont des Menschen zu entfernen. Man begann, die Kinder vom jüngsten Alter an in diesem Sinne zu indoktrinieren.

Die Erfahrung hat den traurigen Beweis erbracht, daß der Mensch, welcher allein der Macht des Menschen ausgeliefert und in seiner religiösen Sehnsucht verstümmelt ist, sehr schnell zu einer Nummer oder einem bloßen Objekt wird. Im übrigen hat noch kein Zeitalter die Gefahr vermeiden können, daß sich der Mensch in einer Haltung stolzer Selbstgenügsamkeit in sich selbst verschloß. Diese Gefahr aber hat sich in diesem Jahrhundert in dem Maße verschärft, wie Waffengewalt, Wissenschaft und Technik dem heutigen Menschen die Illusion haben geben können, der alleinige Herr und Meister von Natur und Geschichte zu werden. Ein solcher Anspruch liegt den Auswüchsen zugrunde, die wir heute beklagen.

Der moralische Abgrund, in den die Verachtung Gottes und damit auch des Menschen die Welt vor fünfzig Jahren hinabgestürzt hat, läßt uns die Macht des »Herrschers dieser Welt« (Joh 14,30) mit Händen greifen: Er vermag die Gewissen zu verführen durch die Lüge, durch die Verachtung des Menschen und des Rechtes, durch den Kult von Herrschaft und Macht.

An all das erinnern wir uns heute und bedenken dabei, zu welch extremen Folgen die Aufgabe jeglicher Achtung vor Gott und jeglichen transzendenten Moralgesetzes führen kann.

Papst Johannes Paul II. am 27. August 1989 in seinem Apostolischen Schreiben zum 50. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs


Klagen statt zweifeln

Erst in der Neuzeit begannen Menschen aufgrund dieser Wirklichkeit [des Leidens] an Gottes Existenz zu zweifeln. Vorher haben sie sich bei ihm beklagt. Damit haben sie ihm Macht zugebilligt, und diese Macht zugleich als gerecht und ansprechbar anerkannt. Andernfalls wäre es ja sinnlos, sich bei ihm zu beschweren. Und man beklagte sich - Ijob - bei ihm mit Berufung auf ihn! In der Tat: Wer protestiert, stützt sich doch nicht auf sein privates Unbehagen, sondern auf Recht, Gerechtigkeit und Ordnung überhaupt. Woher aber stammen die und ihr Recht (etwa aus der Evolution, in der die Fittesten überleben?), wenn nicht von jenem Sinn-Absoluten, das wir mit dem Gottesnamen meinen?

Der Philosoph Jörg Splett im Interview mit Dorothee Wanzek, Warum Leben, Leiden und Lieben zusammengehören, in: Glaube verbindet, S. 10


Naturalistische Ethik

In der März/April-Ausgabe 2014 der Internationalen katholischen Zeitschrift Communio erschien von mir ein Artikel Gut und böse. Über die Unmöglichkeit ihrer naturalistischen Erklärung (Man kann ihn auf diesem Podcast hören). In der Rezension der Zeitschrift, die am 5. Juni in der Tagespost erschien, geht der Rezensent Michael Karger auf meinen Artikel ein und schreibt darüber:

“Auf knapp vier Seiten tritt im selben Heft Engelbert Recktenwald, ein Schüler des Philosophen Robert Spaemann, dem Naturalismus entgegen. Der Verfasser kann belegen, dass selbst ein kämpferischer Atheist wie R. Dawkins absolute Wertmaßstäbe voraussetzt, wenn er etwa behauptet, dass ein Gott, der so viel Leid zulasse, wie es die Menschheit bisher zu tragen hatte, unmöglich gut sein kann. Für einen Evolutionisten wie Dawkins sind „Gut“ und „Böse“ allerdings gar nicht vorhanden. Sie sind für ihn nur ein Trick der Evolution, um das Überleben der Menschheit zu sichern. Wenn es aber keine moralischen Qualitäten gibt, dann dürfen sie auch nicht auf Gott angewandt werden. Auf diesen Denkfehler macht der Ordenspriester Recktenwald aufmerksam. Fällt Dawkins aber trotzdem moralische Urteile über Gott, dann zeige dies, dass es eine Selbstevidenz sittlicher Werte gibt, „der sich auch die Naturalisten nicht entziehen können“. An einem Beispiel macht der Verfasser deutlich, wie wenig das naturalistische Denken unsere moralische Intuition erreicht. Wenn wir nämlich „grausame Kindesmisshandlung ,abscheulich‘ nennen, meinen wir nicht: dieses Verhalten steht im Gegensatz zum Überlebensinteresse der menschlichen Art, sondern wir qualifizieren die Handlung ausschließlich im Zusammenhang dieses Kindes, dem Unrecht geschieht“. Mit einem moralischen Urteil meinen wir eben etwas ganz anderes als einen Evolutionsvorteil. Unser ursprüngliches Wissen um das Gesolltsein des Guten werde im Naturalismus nur durch das Konzept eines „moral-analogen Verhaltens“ ersetzt.”


Der ontologische Gottesbeweis als ethischer Gottesbeweis

Richard Swinburne: Existiert Gott?

Michael Novak: Einsame Atheisten


Gottes Angebot

Unser Gottesbild entscheidet darüber, ob wir Selbstbehauptung oder Selbsthingabe für die richtige Antwort auf Gottes Angebot halten. Meine Predigt darüber.


Da ich sonntags zweimal predige, gibt es dieselbe Predigt noch in einer anderen Fassung.

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