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Abschied vom Relativismus

Von Dr. Johannes Hartl

Es könnte der Anfang einer weltanschaulichen Revolution sein, der sich vor unseren Augen vollzieht. Oder besser gesagt: von den Augen der meisten noch unbemerkt. Doch tektonische Verschiebungen in der Philosophie treten immer erst Jahrzehnte später augenfällig ins Licht der breiten Öffentlichkeit, zumeist in ihrer Anwendungsform in Pädagogik und Politik. Die ideologisch fruchtbarste philosophische Strömung der letzten hundert Jahre kann unter dem Titel „Konstruktivismus“ versammelt werden. Tatsächlich handelt es sich weniger um eine eng umrissene Denkschule, sondern um ein Argumentationsmodell. Seine Kernaussage: die Realität ist konstruiert. Das erkenntnistheoretische Grundproblem ist so alt wie die Philosophie selbst. Spätestens im Hochmittelalter scheiden sich die Wege der „Nominalisten“ und der „Realisten“ an diesem Grundproblem. Findet der Verstand die Welt vor und beschreibt sie nur (wie ein Spiegel ein Bild widerspiegelt) oder ist das Erkenntnisgeschehen etwas Aktives, das mehr mit dem Subjekt zu tun habe, als mit dem Objekt? Über Descartes und Kant verläuft die Denkrichtung, die den Primat des erkennenden Subjekts betont.

Im 19. Jahrhundert geschieht mit Karl Marx etwas Entscheidendes: die Gesellschaft mit ihren (ökonomischen) Regeln wird zur eigentlich prägenden Kraft menschlichen Denkens. Über Nietzsche, Heidegger und Wittgenstein bildet sich zudem die von Richard Rorty als „linguistic turn“ bezeichnete Auffassung, die Sprache bilde eine unhintergehbare Matrix der Erkenntnis. Eng an der Naturwissenschaft orientiert entsteht die Analytische Philosophie, die ebenso die menschliche Sprache und ihre logischen Gesetze als Grundbedingung philosophischer Wahrheitssuche in den Blick nimmt. Das intellektuelle Klima der jungen Bildungsschicht ist von den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts an überwiegend von einer Faszination durch den Marxismus geprägt. Mit dem Zusammenbruch der Utopie des Kommunismus sucht sich der revolutionäre Grundimpetus des marxistischen Denkens seit dem Jahr 1968 als Feind zunehmend das traditionelle Familienbild, die Sexualmoral und den Nationalstaat. Der Konstruktivismus liefert die philosophische Munition: es gibt nicht einfach „die Welt an sich“, sondern es sind Herrschaftsdiskurse, die definieren, wie wir die Dinge sehen. Bei Jacques Derrida und Michel Foucault wird das Zerbrechen dieser Macht der Diskurse ein Akt der Befreiung. Der Dekonstruktivismus nimmt endgültig Abschied vom Objektiven, an dessen Stelle tritt ein immer neu zu verhandelndes Miteinander letztendlich völlig losgelöster Individuen. Die an sich etwas abstrakte Theorie entwickelt große Flächenwirkung in ihrer Anwendung auf die Geschlechtlichkeit des Menschen. Die „Genderstudies“ betonen die Kraft der Gesellschaft, zu definieren, wie Menschen sich sehen und einteilen. Dass Menschen Mann oder Frau sind, ist nicht einfach gegeben, sondern nur die „heteronormative“ Sichtweise. Es seien patriarchalische Machtstrukturen, die Frauen, Schwule, Transsexuelle etc. unterdrücken. Deshalb sei es jetzt Aufgabe des Staates, für Gleichheit zu sorgen. Die Parallele zum Kommunismus ist kein Zufall: bei Marx ist die Unterdrückung der Arbeiterklasse der unweigerliche Ausgangspunkt der Gesellschaft. Nur durch die (ggf. auch gewaltsam herbeigeführte!) klassenlose Gesellschaft würde überhaupt ein gerechter Diskurs möglich. Dass extreme staatliche Gewalt hierzu nicht nur theoretisch, sondern auch ganz praktisch das Mittel der Wahl war, ist die schaurige Lektion der wohl über 100 Millionen Toten des Kommunismus im 20. Jahrhundert.

Doch zurück zu den philosophischen Quellen. Bis in die 90er Jahre sind Konstruktivismus und Dekonstruktivismus die vorherrschenden philosophischen Strömungen. Neben der Anwendung in der Gendertheorie motivieren sie auch die heute überaus populären „Post Colonial Studies“, in denen die Geschichte aus der Perspektive der unterdrückten Völker betrachtet wird. Auch Werte und Wahrheit speisen sich aus kulturellen Narrativen und sind deshalb relativ hinsichtlich der Geschichte von Unterdrückung und Dominanz. Objektive Wahrheit gibt es ebenso wenig wie Gut und Böse: jede Kultur sieht das anders. Wie ungemein populär solche Ansichten heute sind, spürt man schnell. Es gilt tatsächlich als Kennzeichen der Toleranz, jedem seine Wahrheit zu lassen. Wer sollte schließlich einem Mann vorschreiben, dass er sich als Mann identifizieren müsse, wenn er sich doch als Frau fühlt? Und was gäbe den westlichen Nationen das Recht, den islamischen Ländern die eigenen Wertvorstellungen aufzudrücken? Spricht die blutige Geschichte der Kolonialisierung und jene der Unterdrückung von Minderheiten hier nicht laut genug?

Soweit der ideologische Mainstream, der unsere Öffentlichkeit prägt. Es häufen sich jedoch die Anzeichen dafür, dass seine philosophischen Quellen am Vertrocknen sind. Eine Wiederkehr des Objektiven und energischer Widerstand gegen eine Philosophie der Beliebigkeit scheint sich anzubahnen. Ein populärwissenschaftliches und drei fachphilosophische Beispiele seien angeführt.

Die Vorträge des kanadischen Psychologen Jordan Peterson dürften zu den interessanteren Phänomenen der jüngeren Geistesgeschichte zählen. Seine Grundthese: die Frucht der von der politischen Linken erstrebten Auflösung bestehender Ordnungen ist Sinnleere und Chaos. Es gälte, jene objektiven moralischen Gesetze wieder zu entdecken, denen der Westen seinen Erfolg und seine Stabilität verdanke. Peterson argumentiert nicht genuin religiös, sondern nähert sich den philosophischen Themen mit der kritischen Brille eines Kulturhermeneuten. Dennoch erreichen seine zweistündigen, intellektuell anspruchsvollen Vorträge über die Bibel innerhalb weniger Wochen Millionen von Zuschauern auf YouTube, darunter überwiegend junge Männer. Mit Charles Taylor und Hubert Dreyfus haben sich zwei der renommiertesten Philosophen der Gegenwart in ihren reifen Jahren nichts geringeres vorgenommen als die „Wiedergewinnung des Realismus“. Diese wird versucht durch einen breit angelegten Angriff auf das Bild des vermittlungsgebundenen Wissens. Nach diesem auf Descartes zurückgehenden Modell menschlicher Erkenntnis gelange Äußeres durch innere Repräsentationen zu uns. Was sich im Außen „tatsächlich“ und objektiv abspielt, kann man nicht wissen, da wir ja nichts weiter erkennen als das, was im Innen ankommt.

Populäre heutige Ausprägung dieses Bildes ist die Vorstellung vom menschlichen Gehirn als Computer. Die Außenwelt gelange vermittels Sinnesdaten in Form von Zuständen des Gehirns in das, was Menschen das Bewusstsein nennen. Von einem die Wahrheit erkennenden Geist kann nicht mehr die Rede sein, es geht um rein materielle Reaktion des Hirns auf materielle Ereignisse im Außen (so entstandene „Qualia“). Die Autoren nun zeigen eindrucksvoll, dass sowohl das Computermodell des menschlichen Geistes als auch die relativistische Verleugnung des Objektiven fallen, sobald das zu Grunde liegende Bild fällt. Und dass es scheitern muss, wird immer deutlicher. Denn nicht ein bloßes Gehirn sieht sich als passiver Empfänger dem Einprall der Sinnesdaten gegenüber. Vielmehr befindet der Mensch sich immer schon in einem Körper und dieser Körper immer schon in Interaktion mit seiner Umwelt und anderen denkenden und sprechenden Lebewesen. An die Stelle des vermittlungsgebundenen Wissens tritt die Kontakttheorie der Wahrnehmung, die davon ausgeht, dass das erkennende Subjekt immer schon in einem alltäglichen Zurechtkommen mit der Welt verortet ist und deshalb überhaupt nicht sinnvoll bestreiten kann, dass es objektiv Gegebenes gibt.

Argumentativ noch schärfer verfährt Paul Boghossian in seinem mit „Angst vor der Wahrheit?“ betiteltem Plädoyer gegen Relativismus und Konstruktivismus. Er geht von der Behauptung aus, dass Wissen sozial konstruiert sei, und untersucht jede mögliche Interpretationsweise dieser These. Er kommt zu dem Schluss, dass sie entweder banal oder selbstwidersprüchlich ist. Bereits die Aussage, „alles ist subjektiv“ ist notwendigerweise unsinnig, da sie entweder selbst Objektivität beansprucht, oder nur eine Gefühlsäußerung ohne Wahrheitswert darstellt. Zwar gebe es konkurrierende epistemische Systeme, doch beinhalte bereits die menschliche Sprache in ihren einfachsten Strukturen (zum Beispiel im Wortpaar „wenn dann“) Bezugnahme auf Wahrheit. Der Relativismus speise sich aus der Erfahrung des Kolonialismus und sei der Versuch, die imperialistischen Sünden nun durch völligen Verzicht auf irgendeinen Wahrheitsanspruch zu sühnen. Doch allein schon die Erkenntnis, dass Imperialismus verwerflich sei, sei eine objektive moralische Tatsache, die entdeckt wurde. „Der postmoderne Relativismus erweist sich als falsche Philanthropie und als verfehltes emanzipatorisches Projekt, da er auf falschen Prämissen, insbesondere auf der Zurückweisung absoluter Tatsachen und absoluter Wahrheit, beruht.“ (136) Es sei im Letzten tatsächlich „Angst vor der Wahrheit“, die sich weigere, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass es physikalische und moralische Tatsachen gebe, die nicht Ergebnis der Konstruktion seien, sondern vorgefunden werden.

Eines der Probleme am Computermodell des menschlichen Geistes ist die Tilgung des Ichs. Wer die menschliche Erkenntnis als Prozess der Datenverarbeitung eines Prozessors deutet, übersieht dabei, dass es Personen, Subjekte sind, die ihre Erfahrungen in der ersten Person machen. „Was unterscheidet den Satz ‚Ich hebe meinen Arm‘ von dem Satz ‚Mein Arm hebt sich‘?“ fragte schon Wittgenstein, und in seinem berühmten Aufsatz „How does it feel to be a bat?“ legte Thomas Nagel schon in den 70er Jahren dar, dass die Perspektive der Ersten Person schlicht irreduzibel sei. Auch eine vollständige naturalistische Beschreibung des Erkenntnisprozesses könnte die Tatsache nicht auflösen, dass die Erkenntnis immer die je meinige ist. Und man müsste ergänzen: die je meinige in meinem eigenen Körper, bereits situiert in meiner Lebenswelt mit all ihren Bedeutungen, Sinnzuschreibungen und Gefühlen, von Anfang an in Interaktion mit anderen Menschen. Wer analog zur Naturwissenschaft aus dem menschlichen Erkenntnisakt alles außer den „raw facts“ der Sinnesdaten und der Gehirnzustände tilgt, tilgt dadurch auch das Ich. Er hat - und damit ist das Problem jedes Reduktionismus benannt - das zu erklärende Phänomen nicht erklärt, sondern aufgelöst.

Wenige philosophische Texte der letzten Jahre erregten so viel Aufsehen wie Thomas Nagels „Geist und Kosmos“. Der Untertitel macht den Grund für die Empörung überdeutlich: „Warum die naturalistische, neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist.“ Sein Angriff gilt nicht dem Darwinismus. Nagel setzt auf viel tieferer Ebene dort an, wo sein Aufsatz über die Ich-Perspektive der Fledermäuse aufgehört hatte. Geist ist nicht reduzierbar auf Materie. Bereits im menschlichen Gehirn und im individuellen Denken nicht, doch erst Recht nicht, wenn man überlegt, was sich überhaupt ereignet, wenn Menschen miteinander über etwas sprechen. Tatsächlich kann Wahrheit und Bedeutung nicht als Zustand der Materie dargestellt werden. Wenn meine Aussagen nur natürliche Reaktionen auf natürliche Zustände sind, dann haben sie keinen Wahrheitswert. Das Niesen ist eine körperliche Reaktion auf eine Reizung der Schleimhäute, doch das Aussprechen eines Satzes ist etwas kategorial Anderes. Wer immer etwas aussagt, nimmt dadurch Bezug auf etwas, das unabhängig von der momentanen physischen Einwirkung der Außenwelt auf das Subjekt Geltung hat. Nach dem materialistischen evolutionären Menschenbild hat der menschliche Verstand sich nur als Werkzeug des Überlebens entwickelt. Als solches bleibt aber schleierhaft, weshalb es fähig sein sollte, objektive Wahrheit (nicht nur Nützlichkeit!) zu erkennen. Wenn Wahrheitserkenntnis aber nicht möglich ist, dann fällt auch die Argumentation Zu Gunsten des Naturalismus in sich zusammen. Auch ein evolutionäres Modell könne die Realität dessen nicht leugnen, was nicht nur Materie ist. Es gibt den Geist. Ein Weltbild, das nur Materie zulässt, ist reduktionistisch und darin automatisch selbstwidersprüchlich.

Drei Denker, ein populärwissenschaftlicher Vortragsredner. Allesamt haben sie große Diskussionen ausgelöst, sie alle fahren schwere argumentative Geschütze auf gegen einen denkerischen Mainstream der letzten Jahrzehnte. Man darf gespannt sein, wie der Diskurs sich weiter entwickelt. Doch es ist schwer sich des Eindrucks zu erwehren, hier geschehe eine philosophische Revolution. Es könnte ein Abschied vom Relativismus sein.


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Begründer des modernen Kulturrelativismus ist der Ethnologe Franz Boas. Er wollte den Ethnozentrismus und den naiven Fortschrittsglauben der Aufklärer Voltaire, Turgot und Condorcet überwinden. Dabei geriet er aber vom Regen in die Traufe, indem nun der Einsatz für Menschenrechte, etwa für die Abschaffung weiblicher Genitalverstümmelung, als westlicher Kulturimperialismus verunglimpft wird. Beispiele für eine solche Haltung liefern Ethnologen wie Thomas Reinhardt oder Anni Peller. Darüber geht meine Podcast. Der Text erschien zuerst in der Neuen Ordnung im Dezember 2017.

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