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Sonne genießen oder Sonne sein?

Über den Zusammenhang von Liebe, Glück und moralischem Wert

Von P. Engelbert Recktenwald

Was würde die Sonne sehen, wenn sie Augen hätte? Nichts. Alles wäre schwarz vor ihren Augen. Denn alles Licht entfernt sich von ihr. Indem die Sonne alles eigene Licht ausstrahlt, bleibt sie selber in der Dunkelheit zurück. Für mich ist das ein Bild der Liebe des Gekreuzigten: Am Kreuz verströmt er all seine Liebe zu uns, bleibt aber selber in der Verlassenheit von aller Liebe zurück, so dass er ausruft: “Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?”

Für uns, die Geliebten, bedeutet diese Liebe das größte Glück, für Ihn, den Liebenden, den größten Schmerz. Es ist dies die Liebe der Selbstverleugnung, die nun als Teil der Nachfolge Christi auch von uns verlangt wird: “Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst...” (Mt 16,24). Und wenn der hl. Paulus sagt, dass die Liebe alles erduldet und erträgt (1 Kor 13, 7), dann ist klar, dass er damit etwas Schwieriges und schwer Erträgliches meint. Solche Liebe ist kein Honiglecken. Sie kann schmerzvoll sein, verlangt Opfer und kostet uns Überwindung.

Auf der anderen Seite wird von der Liebe aber auch das Gegenteil ausgesagt. Sie ist der Inbegriff dessen, was unser Glück ausmacht. Sie ist nicht Selbstverleugnung, sondern Seligkeit und Erfüllung. Sie ist nicht etwas, wozu wir uns überwinden müssen, sondern wonach wir uns sehnen. Liebe erfüllt uns mit einem großen Glückgefühl. Menschen, die die große Liebe erleben, wähnen sich im siebten Himmel. Unser Glück im Himmel wird tatsächlich in der Liebe bestehen. Die Hölle ist, wie der Starez Sossima in Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasow sagt, “der Schmerz darüber, dass man nicht mehr zu lieben vermag.” “Alles Glück ist Liebesglück” heißt der Vortrag, in dem Josef Pieper dieses Zitat bringt. Wir lieben es zu lieben, sagt Pieper selber zu diesem Thema. Und Tolstoi meint: “Du brauchst nur zu lieben, und alles ist Freude.”

Man machte es sich zu einfach, wollte man diesen Gegensatz auf zwei verschiedene Arten von Liebe verteilen, die nichts miteinander zu tun hätten. Es sind vielmehr zwei verschiedene Erlebnisformen ein und derselben Liebe. Wir beginnen zu erahnen, wie komplex der Zusammenhang ist, der zwischen Glück und Liebe besteht, und wie sehr es sich lohnt, darüber nachzudenken.

Nehmen wir als Beispiel die Liebe einer Mutter, die sich mit großer Selbstaufopferung um ihr krankes Kind kümmert. Für die Mutter ist diese Liebe etwas Anstrengendes und Schmerzhaftes, für das geliebte Kind aber etwas Beglückendes. Ein Kind braucht die Liebe seiner Mutter wie eine Pflanze das Wasser. So strapaziös sich diese Liebe für die Mutter anfühlt, so angenehm ist sie für das Kind. Die Mutter verströmt ihre Liebe, das Kind profitiert davon. Dasselbe Verhältnis finden wir in der Liebe des Herrn am Kreuz. Hier offenbart sich die ganze Schönheit seiner Liebe.

Die Liebe hat also in diesen Fällen eine beglückende Außenseite für den, der diese Liebe empfängt, und eine schmerzhafte Innenseite für den, der sie schenkt. Und beides korreliert miteinander: Je größer das Opfer, um so größer die darin sich offenbarende Liebe und das Glück dessen, der so geliebt wird.

Aber auch die Mutter “profitiert” von dieser Liebe - in einem ganz anderen Sinn. Diese Liebe verleiht ihrer Seele Schönheit. Die Mutter wird durch ihre Liebe ein besserer Mensch, sie bekommt einen schönen, edlen, liebenswerten Charakter, sie verwirklicht einen sittlichen Wert, und zwar unmittelbar durch diese Liebe, die nicht eine Sache des Gefühls, sondern der Gesinnung ist, die nicht einfach naturhaft da ist, sondern zu der sie sich immer wieder neu entscheidet. Für den Empfänger der Liebe gilt das nicht. Natürlich kann man sagen, dass für das Kind durch eine liebevolle Erziehung die Bedingungen für die Entwicklung eines guten Charakters geschaffen werden. Diese indirekte Beziehung will ich nicht leugnen, aber darum geht es jetzt nicht. Es geht darum, zu verstehen, dass die Mutter durch ihre Liebe den sittlichen Wert direkt nur in ihrer eigenen Seele verwirklicht, nicht in der des Kindes. Ihre Liebe, nicht aber das Glück des Kindes hat sittlichen Wert. Es ist der Fall denkbar, dass die Mutter ihre Liebe an einen missratenen Sohn verschwendet, der trotz dieser Liebe ein schlechter Mensch bleibt. Er kann sich glücklich schätzen, so geliebt zu werden, aber dieses Glück macht ihn nicht zu einem guten Menschen. Der Liebende wird durch seine Liebe ein besserer Mensch, der Geliebte ein glücklicher Mensch. Sittliche Güte und Glück klaffen auseinander. Zu lieben ist kostbarer als geliebt zu werden.

Die Mutter liebt ihr Kind unabhängig davon, ob das Kind liebenswert ist. Sie selber aber wird dadurch liebenswert im wörtlichen Sinne: der Liebe wert, und das bedeutet: des Glückes würdig.

Der Liebende macht also durch seine Liebe den Geliebten glücklich, sich selber aber glückswürdig. Der Geliebte empfängt das Glück der Liebe gratis. So schmerzhaft die Liebe auch sein mag, d.h. so sehr dem Liebenden das Glück auch abgehen mag, es wird ihm ein Wert zuteil, der kostbarer ist als Glück, nämlich Glückswürdigkeit. Darin besteht das moralisch Gute. Bei Platon wird das moralisch Gute das Schöne (kalon) genannt, während das Gute, das der Geliebte empfängt, das Gute im Sinne des Zuträglichen ist, das agathon. Kalon ist das Gute in sich, agathon das Gute für mich. Es tut mir gut, geliebt zu werden, aber es macht mich gut zu lieben. Die Liebe, nicht das Geliebtwerden ist die Verwirklichung des sittlich Guten.

Es ist diese paradoxe Struktur, wodurch die sich verströmende Sonne tatsächlich zu einem zutreffenden Bild des Zusammenhangs zwischen Liebe, moralischem Wert und Glück wird.

Das Glück ist kein letzter Selbstzweck, kein absoluter Wert, sondern an die Glückswürdigkeit gebunden. Wenn ein Verbrecher so erfolgreich ist, dass er das Leben eines Menschen ruiniert, selber aber dadurch glücklich wird, dann spüren wir, dass das Glück hier fehl am Platze ist. Wir wünschen ihm, wenn nicht Strafe, so doch zumindest einen heißen Reueschmerz und Anstrengungen möglicher Wiedergutmachung, um ihm erst danach auch wieder von ganzem Herzen alles mögliche Glück zu gönnen.

Das ist auch der Grund, warum uns Gott nicht direkt in den Himmel hinein erschaffen hat, sondern in eine Situation der Bewährungsmöglichkeit. Unser Glück will er nur bedingt, unsere Glückswürdigkeit aber unbedingt. Das Glück kann er uns unmittelbar schenken durch die Erfahrung seiner Liebe. Insofern ist die Liebe einer Mutter, die ihr Kind bedingungslos und gratis liebt, ein Abbild der Liebe Gottes. Aber unbedingt will Gott unsere Glückswürdigkeit, also die Schönheit unserer Seele, die sich nur durch die Verwirklichung des sittlich Guten erreichen lässt. Um uns diese Schönheit zu schenken, muss er uns auf irgendeine Weise in die Lage der Mutter bringen, also in eine Situation, in der die Liebe uns etwas kostet. Man nennt das “Prüfungen”.

Doch geprüft zu werden fühlt sich anders an als geliebt zu werden. Plötzlich erscheint Gott nicht mehr als die Sonne, die uns mit ihrem Licht angenehm erwärmt, sondern als derjenige, von dem wir uns in die Verlassenheit von seiner Liebe gestoßen fühlen. “Wie kannst du das zulassen? Warum gerade ich? Hast du denn gar keine Liebe zu mir?” sind die Artikulationen dessen, was Prüfungen an Gefühlen und Eindrücken in uns auslösen. Auch die Heiligen haben diese Erfahrung gemacht. Die hl. Theresa von Avila nahm es mit Humor, wenn sie zu Gott meinte, es sei kein Wunder, dass er so wenig Freunde habe, wenn er sie so behandle. Der Versuchung, an Gottes Liebe zu zweifeln, können wir nur widerstehen, wenn wir die Prüfung als das erkennen, was sie ist: Gott will uns glückswürdig machen. Er will für uns nicht nur Sonne sein, die uns mit ihrer Liebe bescheint, sondern uns selber zu einer Sonne machen, die Liebe verschenkt. Er will uns sich ähnlich machen. Er will unserer Seele eine Schönheit schenken, die unendlich kostbarer ist als Glück. Er schickt uns Prüfungen, nicht obwohl, sondern weil er es gut mit uns meint. Er meint es so gut mit uns, dass er unserer Seele nicht nur das agathon, sondern auch das kalon schenken will. Das agathon besteht in der Erfahrung seiner Liebe, das kalon in der Teilhabe an seiner Liebesfähigkeit. Erst diese Wahrheit lässt uns erkennen, dass die Aufforderung des hl. Jakobus kein frommer Euphemismus ist, sondern präzise den Punkt trifft: “Für lauter Freude erachtet es, meine Brüder, wenn ihr herumfallt in vielfältigen Anfechtungen” (Jak 1, 2. Übersetzung von Franz Prosinger).

Für alle Philosophien und Ideologien, die den moralischen Wert leugnen, wird diese Aufforderung zu einem Sarkasmus. Wenn das moralische Handeln keinen unbedingten Wert in sich trägt, wird es sinnlos, sobald für den Handelnden nichts dabei herausspringt. Der Soziobiologe Edward O. Wilson z.B. hält sich selbst aufopferndes Verhalten im Dienste des Nächsten für eine Form des Fanatismus, Feministinnen stellen das Ideal aufopfernder Mutterliebe in Frage, weil es der weiblichen Selbstverwirklichung im Wege stehe. Die Schönheit moralischen Handelns wird zu einer Illusion.

Dass man von der Sonne beschienen wird, lässt man sich gerne gefallen, aber man hat kein Auge mehr für jene Schönheit des Strahlens, die nicht in dem Charakter des Für-uns-Angenehmen aufgeht. Das kalon wird auf das agathon, der Wert des moralischen Handelns auf dessen Folgen reduziert. Genau dies geschieht in vielen Formen philosophischer Ethik. Ihre Vertreter sind blind gegenüber dem alles entscheidenden Unterschied zwischen dem kalon und dem agathon. Es gibt dann zwar genügend Gründe, vom Strahlen der Sonne zu profitieren, aber keinen mehr, selber Sonne zu werden. Der Eudämonismus, der die Ethik ganz vom agathon her konzipiert, rettet das kalon nur aufgrund seiner unterstellten Eigenschaft, für uns auch ein agathon werden zu können. Aber das nützt nichts. Der Clou des moralischen Standpunkts besteht darin, das kalon in seinem Wert und seiner Verbindlichkeit zu erkennen, bevor wir wissen, ob es unserem Glücksverlangen auch wirklich zuträglich ist oder nicht. Der Eudämonist kehrt das Verhältnis um: Das Glück wird zum unbedingten Wert, während dem kalon nur instrumenteller Wert zugesprochen wird. Eine Mutter, die nur unter dieser Bedingung ihr Kind liebte, wäre eine schlechte Mutter.

Umgekehrt wird es für denjenigen, der den Unterschied zwischen dem kalon und dem agathon erfasst hat, wichtiger, ein guter statt ein glücklicher Mensch zu werden. Je mehr er dies verwirklicht, wird ihm aber ein Glück zuteil, das er vorher nicht gekannt hat. Dieses Glück erfährt er in diesem Leben nur sporadisch. Es besteht in der Erfahrung des kalon “am eigenen Leib”, in der Erfahrung der Liebe als Sinnvollzug der eigenen Existenz. Auch auf diesen Zusammenhang lässt sich das bekannte Wort des Herrn über das Gottesreich anwenden, so dass es heißen könnte: “Suchet zuerst die Glückswürdigkeit, und das Glück wird euch hinzugegeben werden.”

“Wenn wir lieben, erscheinen wir uns selbst ganz anders, als wir früher gewesen”, schreibt Blaise Pascal. Wir beginnen das Glück zu erahnen, das im Himmel auf uns wartet, wenn die durch Liebe realisierte Schönheit auch für uns zu einer Erfahrungswirklichkeit wird, wenn die sich verleugnende Liebe zur beseligenden, wenn die Schönheit der Liebe ihrer selbst inne wird.

Die Sonne in unserem Bild sieht nur deshalb nichts, weil ihre Augen nach außen gerichtet sind. Das ist unsere irdische Existenzweise, wo uns die eigene Seele und ihre Umgestaltung “von Herrlichkeit zu Herrlichkeit” (2 Kor 3, 18) verborgen bleibt, bis diese Herrlichkeit einst offenbar werden wird (vgl. Röm 8, 19), indem unsere Augen nach innen gerichtet werden. Dann werden wir den schauen, der uns innerlicher ist als wir selbst und der die letzte Quelle jenes Lichtes ist, das uns Herrlichkeit verleiht und uns zur Sonne gemacht hat.

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