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Recht und Unrecht, Wegweiser zum Sinn des Universums

Von C. S. Lewis

Es handelt sich bei diesem Text um einen Auszug aus dem Buch von Clive Staples Lewis Mere Christianity, das 1955 in Glasgow erschienen ist und einen Klassiker christlicher Glaubensbegründung darstellt. 1956 erschien bei Hegner eine deutsche Übersetzung unter dem Titel Christentum schlechthin. Seit 1977 erscheint sie beim Brunnenverlag Basel / Gießen unter dem Titel Pardon, ich bin Christ. Meine Argumente für den Glauben, inzwischen in der 19. Auflage (2004). Im ersten Kapitel, das wir mit freundlicher Erlaubnis des Brunnenverlags wiedergeben, geht es um den Erweis des natürlichen Sittengesetztes, des Naturrechts.

1. Das Gesetz der menschlichen Natur

Jeder von uns hat schon einmal zugehört, wie andere sich streiten. Manchmal mutet das komisch an, manchmal nur peinlich. Doch wir können eine Menge aus dem lernen, was sich die Leute an den Kopf werfen. Da heißt es zum Beispiel: »Was würden Sie sagen, wenn jemand sich Ihnen gegenüber so benehmen würde?« »Das ist mein Platz. Ich war zuerst da!« »Lassen Sie ihn in Ruhe, er hat Ihnen doch gar nichts getan!« »Warum wollen Sie sich vordrängeln?« »Gib mir ein Stück von deiner Apfelsine, ich hab' dir auch von meiner abgegeben!« »Mach schon, du hast es doch versprochen!« Tagtäglich sagen sich die Menschen solche Dinge, Gebildete ebenso wie Ungebildete, Kinder genauso wie Erwachsene. Interessant an solchen Bemerkungen ist, daß man damit nicht bloß sagen will: »Ihr Benehmen geht mir auf die Nerven.« Man beruft sich vielmehr auf gewisse Anstandsregeln und erwartet, daß sie dem anderen ebenso geläufig sind. Nur selten wird der andere antworten: »Zum Teufel mit Ihren Prinzipien!« Fast immer wird er versuchen zu erklären, daß sein Verhalten eigentlich nicht den Maßstäben widerspreche oder daß es zumindest in diesem Falle zu entschuldigen sei. Er macht besondere Umstände geltend, weswegen der Mann, der den Platz zuerst belegt hatte, ihn nicht behalten sollte; oder daß damals, als er ein Stück von der Apfelsine bekommen hatte, die Verhältnisse anders waren; oder daß inzwischen etwas vorgefallen sei, was ihn von seinem Versprechen entbinde.

Es scheint, als wüßten beide Seiten um eine Art Gesetz oder Regel von Fair play, von anständigem Benehmen oder Sittlichkeit oder wie man es nennen will, über die sie sich einig sind. Und sie sind es in der Tat. Sonst würden sie sich wohl bekämpfen wie die Tiere, aber streiten im eigentlich menschlichen Sinne könnten sie nicht. Streiten heißt doch, dem anderen zeigen wollen, daß er im Unrecht ist. Das aber wäre gar nicht möglich, wenn es zwischen den Parteien keine Übereinstimmung darüber gäbe, was Recht und Unrecht ist, genauso, wie man einem Fußballspieler nicht vorwerfen kann, er habe ein »Foul« begangen, wenn es keine Fußballregeln gibt.

Diese Regel oder dieses Gesetz, das bestimmt, was unter Menschen als Recht oder Unrecht zu gelten hat, kannte man früher unter der Bezeichnung »Naturrecht«. Es ist nicht zu verwechseln mit den »Naturgesetzen«, worunter wir beispielsweise die Schwerkraft, die Lehre von der Vererbung oder die chemischen Gesetze verstehen. Wenn die älteren Denker dieses Gesetz von Recht und Unrecht »Naturrecht« nannten, dann meinten sie damit ein im Wesen der menschlichen Natur liegendes Gesetz. Wie jeder Körper dem Gesetz der Schwerkraft und jeder Organismus bestimmten biologischen Gesetzen unterliegt, so meinten sie, hat auch der Mensch sein Gesetz allerdings mit einem bedeutsamen Unterschied. Ein Körper hat keine Wahl, ob er dem Gesetz der Schwerkraft gehorchen will oder nicht. Der Mensch dagegen kann wählen, ob er dem Gesetz der menschlichen Natur gehorchen oder es mißachten will.

Wir können es auch anders ausdrücken. Jeder Mensch ist in jedem Augenblick seines Lebens vielen verschiedenen Gesetzen unterworfen. Doch unter ihnen ist nur eins, das er nicht unbedingt zu befolgen braucht. Als Körper unterliegt er der Schwerkraft, ob er das will oder nicht. Läßt man ihn auch nur einen Moment ohne Halt irgendwo in der Luft hängen, hat er auf seinen Fall genausowenig Einfluß wie ein Stein. Als Organismus unterliegt er biologischen Gesetzen, denen er sich genausowenig widersetzen kann wie ein Tier. Nur dieses eine Gesetz, das seiner menschlichen Natur eigentümlich ist, das er nicht mit Tieren, Pflanzen oder anorganischen Dingen teilt, kann er willentlich mißachten.

Dieses Gesetz wurde Naturrecht genannt, weil man annahm, jeder Mensch kenne es von Natur aus und brauche es nicht erst zu lernen. Natürlich wußte man, daß es hier und da Menschen geben konnte, denen dieses Gesetz fremd ist, so wie es Menschen gibt, die farbenblind sind oder kein musikalisches Gehör haben. Aber dem Menschengeschlecht an und für sich, so nahm man an, sei die Idee eines natürlichen Sittengesetzes grundsätzlich vertraut. Und ich glaube, das ist richtig. Wäre es nicht so, dann müßte doch alles, was wir über den Krieg gesagt haben, Unsinn sein. Welchen Sinn hätte unsere Behauptung, der Feind sei im Unrecht, wenn es nicht wirklich ein Recht gibt, das die Nazis im Grunde ebenso kannten wie wir und nach dem sie sich hätten richten müssen? Hätten sie keine Ahnung gehabt von dem, was wir unter Recht verstehen, dann hätten wir ihre Unkenntnis genausowenig verurteilen dürfen wie ihre Haarfarbe, auch wenn wir um den Kampf trotzdem nicht herumgekommen wären.

Ich weiß, viele Menschen halten die Vorstellung eines natürlichen Gesetzes oder eines allen gemeinsamen moralischen Bewußtseins für falsch, weil verschiedene Kulturen und verschiedene Zeitalter ganz unterschiedliche Grundbegriffe der Sittlichkeit hatten.

Aber das stimmt nicht. Wohl hat es zwischen den einzelnen Sittenlehren Unterschiede gegeben, doch waren sie nie so groß, daß man von totalen Gegensätzen hätte sprechen können. Wer einmal die Sittengesetze der alten Ägypter, Babylonier, Chinesen, Griechen und Römer miteinander vergleicht, der wird betroffen feststellen, wie ähnlich sie alle miteinander den unsrigen sind.

Ich möchte den Leser bitten, einmal zu überlegen, was völlig gegensätzliche sittliche Auffassungen bedeuten würden. Stellen wir uns ein Land vor, in dem Fahnenflüchtige bewundert werden oder wo jemand darauf stolz ist, seine besten Freunde zu betrügen. Genausogut könnten wir uns ein Land vorstellen, in dem zwei mal zwei fünf ist. Es gab unterschiedliche Auffassungen darüber, gegen wen man sich uneigennützig zeigen solle ob nur gegenüber der eigenen Familie, den eigenen Landsleuten oder gegenüber jedermann. Aber immer bestand darin Übereinstimmung, daß man nicht zuerst an sich selbst denken soll. Die Selbstsucht wurde nie bewundert. Man war unterschiedlicher Meinung darüber, ob ein Mann eine oder vier Frauen haben durfte. Es herrschte aber jederzeit Übereinstimmung darüber, daß man nicht einfach jede Frau besitzen durfte.

Am bemerkenswertesten aber ist, daß auch ein Mensch, der behauptet, er glaube nicht an ein Recht und Unrecht, immer wieder auf diese Unterscheidung zurückgreift. Vielleicht bricht er selbst ein Versprechen, das er uns gegeben hat aber sobald wir versuchen, unser Versprechen ihm gegenüber ebenfalls nicht einzuhalten, beschwert er sich im Nu und sagt, wir seien nicht fair. Ein Staat mag erklären, Verträge seien nicht wichtig; im nächsten Augenblick jedoch widerlegt er sein eigenes Argument mit der Behauptung, der von ihm für unwichtig erklärte Vertrag sei ungerecht. Aber wenn Verträge wertlos sind und wenn es so etwas wie Recht und Unrecht nicht gibt mit anderen Worten, wenn es kein natürliches Gesetz gibt , was ist dann der Unterschied zwischen einem gerechten und einem ungerechten Vertrag? Hat ein solcher Staat damit nicht die Katze aus dem Sack gelassen und zugegeben, daß ihm, was immer er auch sagen mag, das Naturrecht genauso bekannt ist wie allen anderen?

Wir können also nicht umhin, an ein gültiges Recht und Unrecht zu glauben. Vielleicht haben wir manchmal falsche Vorstellungen davon, so wie man beim Rechnen Fehler machen kann. Aber Recht und Unrecht sind so wenig eine Frage des bloßen Geschmacks oder der Auffassung wie das große Einmaleins.

Sind wir uns darüber einig, so kann ich zum nächsten Punkt übergehen: Keiner von uns hält dieses Naturrecht ein. Sollte es unter den Lesern dieses Buches Ausnahmen geben, so bitte ich sie um Verzeihung. Vielleicht wäre es besser, wenn sie ein anderes Buch lesen würden, denn das, was ich im folgenden ausführen werde, betrifft sie nicht. Und damit wende ich mich an die gewöhnlichen Erdenbürger, die verblieben sind.

Hoffentlich wird das, was ich nun zu sagen habe, nicht mißverstanden. Ich will keine Moralpredigten halten, und ich komme mir weiß der Himmel keinen Deut besser vor als andere. Ich versuche nur, auf eine Tatsache aufmerksam zu machen; die Tatsache nämlich, daß wir selbst uns in diesem Jahr, in diesem Monat oder, was noch wahrscheinlicher ist, bereits heute nicht so verhalten haben, wie wir es von anderen erwarten.

Vielleicht können wir allerlei Entschuldigungen vorbringen. Damals, als wir die Kinder so ungerecht behandelten, waren wir müde. Und jene dunkle Geldangelegenheit die schon beinahe vergessen ist passierte, als wir gerade in der Klemme saßen. Und was wir damals dem alten Herrn versprochen und nie gehalten haben nun, wenn wir gewußt hätten, was noch alles auf uns zukommen würde, hätten wir das Versprechen bestimmt nie gegeben. Und was unser Verhalten der eigenen Frau (oder dem Mann) und der Schwester (oder dem Bruder) gegenüber angeht: »Wenn die wüßten, wie sie einem auf die Nerven gehen können, würden sie sich darüber nicht wundern. Und überhaupt wer sind Sie eigentlich?« Ja, ich bin auch nicht besser. Auch mir gelingt es kaum, der Satzung der Natur zu folgen, und sobald mir jemand ein Versäumnis vorwirft, taucht in meinem Gehirn ein ganzer Schwarm von Entschuldigungen auf. Dabei geht es im Moment nicht darum, ob diese Entschuldigungen stichhaltig sind oder nicht. Wesentlich ist vielmehr, daß sie ein weiterer Beweis dafür sind, wie tief dies Gesetz in uns verankert ist, ob wir das wollen oder nicht.

Wenn wir nicht an ein Sittengesetz glauben, warum liegt uns dann soviel daran, uns zu entschuldigen, wenn wir uns einmal nicht »richtig« verhalten haben? In Wahrheit glauben wir so sehr daran, wir fühlen die Verpflichtung durch das Gesetz oder die Regel so stark, daß wir den Gedanken, dagegen zu verstoßen, nicht ertragen können und deswegen die Verantwortung von uns abzuwälzen versuchen. Denn wohlgemerkt, wir suchen all diese Erklärungen nur für unser schlechtes Verhalten. Nur für unsere Mißstimmungen machen wir Müdigkeit, Sorgen oder Hunger verantwortlich; gute Laune schreiben wir uns selber zu.

Lassen Sie mich also feststellen: Erstens ist in allen Menschen, überall auf der Welt, die eigenartige Vorstellung lebendig, daß sie sich auf bestimmte Weise zu verhalten haben, und von dieser Vorstellung kommen sie nicht los. Zweitens aber richten die Menschen ihr Verhalten in Wirklichkeit nicht entsprechend ein. Sie kennen das Naturrecht, aber sie halten sich nicht daran. Diese beiden Tatsachen bilden die Grundlage für alles klare Denken über uns selbst und über die Welt, in der wir leben.

2. Einige Einwände

Sind diese beiden Tatsachen so grundlegend wichtig, dann wird es gut sein, zunächst diese Grundlage zu sichern, ehe ich neue Gedanken entwickle. Einer Reihe von Briefen, die ich erhielt, konnte ich entnehmen, daß viele Menschen Schwierigkeiten haben zu verstehen, was mit dem Gesetz der menschlichen Natur, dem Sittengesetz oder den »Regeln für gutes Benehmen« gemeint ist.

Zum Beispiel schrieben mir manche Leute: »Ist das, was Sie das Sittengesetz nennen, nicht einfach unser Herdentrieb, und hat sich dieser Trieb nicht genauso entwickelt wie alle anderen Triebe?« Nun, ich streite nicht ab, daß es so etwas wie einen Herdentrieb oder Gemeinschaftssinn gibt, aber unter dem Sittengesetz verstehe ich etwas anderes.

Wir alle wissen, wie es ist, wenn man sich von einem Trieb gedrängt fühlt von Mutterliebe, dem Geschlechtstrieb oder dem Bedürfnis nach Nahrung. Es bedeutet, den starken Wunsch oder das Verlangen zu spüren, in einer ganz bestimmten Weise zu handeln. Natürlich fühlen wir auch manchmal den Wunsch in uns, einem anderen Menschen zu helfen, und ohne Zweifel haben wir dieses Verlangen unserem Herdentrieb oder Gemeinschaftssinn zuzurechnen. Aber das.Verlangen, helfen zu wollen, unterscheidet sich sehr von dem Gefühl, helfen zu müssen. Angenommen, wir hören den Hilfeschrei eines Menschen, der in Gefahr ist. Vermutlich empfinden wir dann zweierlei: einmal den Wunsch, Hilfe zu leisten (entsprechend unserem Herdentrieb), zum anderen den Wunsch, uns keiner Gefahr auszusetzen (entsprechend dem Selbsterhaltungstrieb). Doch zusätzlich zu diesen beiden Trieben wird etwas Drittes in uns sein, das uns sagt, wir sollen dem Impuls zu helfen folgen, den Impuls davonzulaufen dagegen unterdrücken. Und dieses Dritte, das zwischen beiden entscheidet, das bestimmt, welchem Trieb wir folgen sollen, kann natürlich nicht selbst einer der beiden Triebe sein. Ebensogut könnten wir sagen, die Note auf dem Notenblatt, die angibt, weicher Ton auf dem Klavier angeschlagen werden soll, sei selbst eine Taste auf dem Klavier. Das Sittengesetz gibt uns die Melodie an, die wir zu spielen haben. Unsere Triebe sind lediglich die Tasten.

Versuchen wir noch auf eine andere Art klarzumachen, daß wir das Sittengesetz nicht einfach mit einem unserer Triebe gleichsetzen können. Wenn zwei Triebe in Konflikt miteinander geraten und der Sinn eines Menschen ausschließlich von diesen beiden Trieben bestimmt wird, dann muß, so sollte man meinen, der stärkere die Oberhand gewinnen. Doch befiehlt uns das moralische Gesetz nicht immer dann, wenn wir uns seiner am stärksten bewußt sind, uns für den schwächeren der beiden Impulse zu entscheiden? Wir wollen uns eigentlich lieber in Sicherheit bringen, als dem Ertrinkenden zu helfen. Aber das moralische Gesetz verlangt von uns, ihm trotzdem zu helfen. Und befiehlt es uns nicht oft, den richtigen Trieb zu unterstützen und stärker zu machen, als er von Natur aus ist? Ich will damit sagen: Wir fühlen uns oft verpflichtet, unseren Gemeinschaftssinn anzureizen, indem wir unsere Einbildungskraft anregen oder unser Mitleid wachrufen, um so genügend Energie zu gewinnen, das Richtige zu tun. Aber wir handeln bestimmt nicht aus dem Trieb heraus, wenn wir einen Trieb gezielt stärker werden lassen, als er an sich ist. Die Stimme, die uns sagt: »Dein Gemeinschaftssinn schläft. Weck ihn auf!« kann nicht der Gemeinschaftssinn selbst sein. Das, was uns sagt, welche Taste auf dem Klavier anzuschlagen ist, kann nicht die Taste selbst sein.

Es gibt noch eine dritte Möglichkeit, diesen Gedanken zu verdeutlichen. Wäre das Sittengesetz einer unserer Triebe, so müßte es möglich sein, einen ganz bestimmten Trieb in uns auszumachen, der immer »gut« ist, immer im Einvernehmen mit den Regeln der Ethik steht. Aber das können wir nicht. Es gibt keinen einzigen Trieb, den wir aufgrund des sittlichen Gesetzes nicht manchmal zu unterdrücken, und keinen, den wir nicht bisweilen zu fördern hätten.

Es ist ein Irrtum, einige unserer Triebe wie Mutterliebe oder Vaterlandsliebe für gut und andere wie Geschlechtstrieb und Kampflust für schlecht zu halten. Kampflust oder Geschlechtstrieb müssen zwar häufiger unterdrückt werden als Mutterliebe oder Vaterlandsliebe. Doch es gibt auch Situationen, in denen ein verheirateter Mann seinen Geschlechtstrieb, ein Soldat seine Kampflust steigern muß. Andererseits muß eine Mutter gelegentlich ihre Liebe zu ihren Kindern, ein Mann seine Liebe zu seinem Vaterland etwas einschränken, damit sie nicht zu Ungerechtigkeiten gegen die Kinder oder die Heimat anderer Menschen führen. Strenggenommen gibt es weder gute noch böse Triebe. Denken wir noch einmal an das Beispiel vom Klavier. Es hat nicht zwei Arten von Tasten, »richtige« und »falsche«. Jede einzelne Taste kann beim Gebrauch richtig oder falsch sein. Das sittliche Gesetz ist weder irgendein einzelner noch eine Reihe von Trieben. Es lenkt die Triebe und bringt dabei eine Art Melodie hervor, die wir »das Gute« oder »richtiges Verhalten« nennen. Übrigens hat dieser Aspekt ganz wesentliche praktische Auswirkungen. Es wäre überaus gefährlich, würden wir einen einzelnen Trieb herausgreifen und ihn zum Leitstern unseres Handelns machen. Es ist keiner dabei, der uns nicht zu Teufeln machen könnte, wenn wir ihn absolut setzen. Man könnte zwar meinen, Menschenliebe sei in dieser Hinsicht ungefährlich, aber das stimmt nicht. Wenn man die Gerechtigkeit dabei außer acht läßt, so wird man sich eines Tages dabei ertappen, wie man ein Abkommen nicht einhält oder vor Gericht falsche Aussagen macht alles um der Menschenliebe willen und schließlich zu einem grausamen und treulosen Menschen wird.

In anderen Briefen, die ich bekam, hieß es: »Ist das, was Sie Sittengesetz nennen, nicht lediglich eine gesellschaftliche Konvention, etwas, was uns anerzogen wurde?« Ich glaube, hier liegt ein Mißverständnis vor. Wer so fragt, hält es anscheinend für selbstverständlich, daß alles, was Eltern und Lehrer uns beibringen, nur menschliche Erfindung ist. Doch das ist natürlich nicht der Fall. Wir alle haben in der Schule das Einmaleins gelernt. Ein Kind, das einsam auf einer abgeschiedenen Insel aufwächst, würde vom Einmaleins nichts wissen. Aber daraus kann man doch nicht folgern, daß das Einmaleins nur ein menschlicher Brauch ist, eine Tabelle, die Menschen erfunden haben und die sie nach Belieben hätten anders aufstellen können. Zugegeben, wir lernen die Anstands- und Betragensregeln von unseren Eltern und Lehrern, von Freunden und aus Büchern, genauso wie alles andere auch. Und einiges von dem, was wir lernen, ist bloße Konvention und könnte genausogut anders sein. (Wir lernen, auf der rechten Straßenseite zu fahren. Ebenso könnte jedoch die Vorschrift gelten, links zu fahren.) Anderes wiederum, wie die Mathematik, ist unumstößliche Wahrheit. Die Frage ist, in welche der beiden Kategorien das Gesetz der menschlichen Natur gehört.

Zweierlei spricht dafür, daß es in dieselbe Kategorie gehört wie die Mathematik. Von dem ersten Grund war schon im Eingangskapitel die Rede. Zwar bestehen gewisse Unterschiede zwischen den sittlichen Auffassungen verschiedener Völker und Epochen, aber diese Unterschiede sind nicht sehr groß - bei weitem nicht so groß, wie die meisten denken -, und in all diesen Auffassungen ist das gleiche Gesetz erkennbar. Bloße Konventionen dagegen, wie Verkehrsregeln oder Kleidermoden, können die größten Verschiedenheiten aufweisen. Der zweite Grund ist dieser: Halten wir, wenn wir von den Unterschieden in den Sittenlehren der Völker sprechen, einige dieser Lehren für besser als andere? Haben sich gelegentliche Veränderungen als Verbesserungen erwiesen? Wenn nicht, dann könnte es keinen sittlichen Fortschritt geben, denn Fortschritt bedeutet nicht nur Veränderung, sondern Veränderung zum Besseren hin. Wenn jede Ethik so gut oder so schlecht wäre wie alle anderen auch, dann hätten wir keine Ursache, der Ethik des zivilisierten Menschen den Vorrang zu geben vor der Ethik des Wilden. In Wirklichkeit sind wir aber alle davon überzeugt, daß es höhere und geringere sittliche Anschauungen gibt. Wir sind davon überzeugt, daß Männer, die die ethischen Ideen ihrer Zeit zu ändern versuchten, mit Recht Reformatoren oder Bahnbrecher genannt werden; es waren Männer, die mehr von ethischen Grundsätzen verstanden als ihre Mitmenschen.

In dem Moment jedoch, wo wir zugeben, daß eine Ethik besser sein kann als eine andere, legen wir an beide einen Maßstab an und sagen, die eine komme diesem Maßstab mehr, die andere weniger nahe. Aber der Maßstab, den man an so etwas anlegt, ist natürlich etwas anderes als das Ding selbst. In Wirklichkeit vergleichen wir die beiden ethischen Systeme mit einer höchsten sittlichen Idee. Damit aber geben wir zu, daß es unabhängig von dem, was Menschen denken, so etwas wie eine letzte »Richtigkeit« gibt und daß die Anschauungen mancher Menschen dieser letzten Richtigkeit näher kommen als die von anderen. Oder drücken wir es anders aus: Wenn unsere ethischen Vorstellungen richtig sind, die der Nazis dagegen nicht, so muß es etwas geben - eine letzte, wirkliche Sittlichkeit -, woran beide gemessen werden können. Der Grund, weshalb Ihre Vorstellung von New York zutreffender sein kann als meine - oder auch nicht -, liegt darin, daß New York ein realer Ort ist, der ganz unabhängig davon existiert, was Sie oder ich uns darunter vorstellen. Wenn jeder, der »New York« sagt, damit eine Stadt meinen würde, die er sich selbst in seinen eigenen Gedanken ausgemalt hat, wie könnten wir dann sagen, die eine Vorstellung sei zutreffender als die andere? Die Frage nach richtig oder falsch würde sich gar nicht stellen. Wenn also alle Sittengesetze nichts anderes wären als das, was die einzelnen Völker jeweils gerade gutheißen, dann wäre es sinnlos zu behaupten, das eine Volk habe ein besseres ethisches System gewählt als das andere; es wäre sinnlos zu sagen, die Welt könne besser oder auch schlechter werden.

Das heißt also: Zwar lassen die Unterschiede in den ethischen Anschauungen der Völker den Verdacht aufkommen, daß es ein wirkliches, natürliches Sittengesetz nicht gibt. Doch die Folgerungen, die sich ergeben, wenn man diese Unterschiede überdenkt, beweisen gerade das Gegenteil.

Eine Bemerkung noch, ehe ich zum Schluß komme. Mir sind Leute begegnet, die diese Unterschiede unverhältnismäßig aufbauschen, weil sie nicht auseinanderhalten können, was Unterschiede in der Ethik und Unterschiede in der Überzeugung sind. So fragte mich z. B. jemand: »Vor dreihundert Jahren hat man in England Hexen verbrannt. Handelt es sich hier um das, was Sie als 'Gesetz der menschlichen Natur' oder 'rechtes Verhalten' bezeichnen?« Nun, es dürfte wohl klar sein: Wenn wir heute keine Hexen mehr verbrennen, dann doch einfach deshalb, weil wir nicht mehr an Hexen glauben. Würden wir wirklich noch glauben, es gäbe Menschen, die sich dem Teufel verkaufen und von ihm übernatürliche Kräfte erhalten, die sie dazu benützen, ihre Mitmenschen umzubringen, in den Wahnsinn zu treiben oder schlechtes Wetter herzuzaubern - dann wären wir uns sicher alle darin einig, daß solche Scheusale hart bestraft werden müßten. Hier geht es nicht um unterschiedliche sittliche Grundsätze, sondern um unterschiedliche Tatsachen. Es mag ein großer Fortschritt sein, nicht mehr an Hexen zu glauben. Ein sittlicher Fortschritt - wenn man sie nicht hinrichtet, weil man nicht mehr an sie glaubt - ist es nicht. Oder würden wir einen Menschen, der keine Mausefallen aufstellt, weil er glaubt, im Haus seien keine Mäuse mehr, deswegen schon human nennen?

Eine Übersicht über die Werke Lewis' findet man auf dieser Website.


Naturrecht

Wenn die Menschen im Wohlstand leben, dann werden sie Rechtspositivisten. Dann finden sie, man kann Gesetze nach Belieben machen. Wenn sie aber unter einer Tyrannei leben, dann bekehren sich alle zum Naturrecht. Wenn ich gefoltert werde, dann interessiert mich doch nicht, ob das jetzt gesetzlich erlaubt ist oder nicht, dann weiß ich nur, es ist ein Unrecht, was da geschieht. Fertig. Das heißt: Naturrecht. Hätte ein Kind im Mutterleib eine Stimme, würde es „Unrecht!“ schreien, wenn es abgetrieben und getötet wird.

Robert Spaemann in einem Interview mit der Welt vom 30. September 2011


Die Bundestagsrede des Papstes über das Naturrecht

Über C. S. Lewis und seine Bekehrung

Tolkiens christliche Botschaft (Tolkien war mit Lewis befreundet)


Die feierliche Majestät des Sittengesetzes

In der 74. Episode meines Podcasts geht es wieder philosophisch zu: Was bedeutet es, den Glauben an das Gute zu verlieren? Und wohin führt mich dieser Glaube, wenn ich an ihm festhalte?

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