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Tolkiens christliche Botschaft Von Engelbert Recktenwald Cordelia Spaemann, eine ausgewiesene Kennerin Tolkiens und der phantastischen Literatur überhaupt, veröffentlichte 1992 im zehnten Band von “Inklings”, dem “Jahrbuch für Literatur und Ästhetik”, einen Überblick über die phantastische Literatur und ihre Geschichte. Auf Tolkien kommt sie zu sprechen, nachdem sie aufgezeigt hat, wie sich zuvor eine Ästhetik des Hässlichen breitgemacht hatte, die das Böse gegenüber dem Guten als die stärkere Macht darstellte: “Erst auf diesem Hintergrund kann man die immense Wirkung verstehen, die in der Mitte unseres Jahrhunderts das Werk Tolkiens hervorgebracht hat. Die allgemeine Erregung, die Ablehnung, die Begeisterung läßt vermuten, dass Der Herr der Ringe in der Welt des Lesers so etwas wie eine erneute Öffnung der Welt, einen Einbruch des Wunderbaren bedeutet haben muss. Dieser Einbruch hat allerdings den allergrößten Aufwand, den Einsatz eines ganzen Autorenlebens erfordert. Tolkien hat einmal gesagt, er könne sich an keine Zeit erinnern, in der er nicht am Herrn der Ringe gearbeitet hätte. Es ging ihm um nichts Geringeres als darum, die Welt noch einmal zu schaffen, mit einem eigenen Schöpfungsmythos, einer uralten Geschichte, einer eigenen Geographie und erdachten, nicht menschlichen Populationen, die je ihre eigene Sprache sprechen mit einem eigenen Vokabular und einer eigenen grammatischen Logik. Dieser Aufwand war offenbar notwendig, um die moderne Welt von etwas zu überzeugen, das es eigentlich gar nicht mehr geben konnte: den möglichen Sieg über die böse Macht.” John R. R. Tolkien wollte den Leser weder moralisch belehren noch ideologisch beeinflussen. “Ich hatte nirgendwo sehr viel Besonderes an bewussten, intellektuellen Absichten im Sinn.”[1] Er wollte eine spannende Geschichte schreiben. Aber es ist klar, dass sich in einem solchen Lebenswerk die Seele seines Autors widerspiegelt. Es enthält eine Botschaft unabhängig von der expliziten Aussageabsicht des Autors so wie die Schrift für den Graphologen eine Botschaft enthält unabhängig vom Inhalt des Geschriebenen. Das hat auch Tolkien gewusst, und in diesem Sinne hat er einmal geschrieben: “Der Herr der Ringe ist natürlich von Grund auf ein religiöses und katholisches Werk; unbewusstermaßen zuerst, aber bewusst im Rückblick.” [2] Der Charakter des Autors prägt auch den Charakter des Werkes. Der religiöse Mensch hat ein geschärftes Auge für Gut und Böse. Er weiß, dass es sich dabei um vorgegebene Wirklichkeiten handelt und nicht um Konventionen oder Produkte sozialer oder biologischer Evolutionsprozesse. Im praktischen Leben weiß dies im Grunde auch jeder andere Mensch, auch wenn er im reflexiven Bewusstsein anderen Theorien anhängt. Der religiöse Mensch ist sich dessen bewusst, dass der Kampf zwischen Gut und Böse, also die sittliche Bewährung, das Thema des ganzen Lebens ist. Unser Leben bekommt erst dadurch seinen Sinn. Wenn man in Tolkiens phantastische Welt eintritt, erscheint diese Wahrheit in neuem, herrlichen Licht, so wie die Natur in Lothlórien, die in den altbekannten Farben Gold, Weiß, Blau und Grün so frisch und strahlend aufscheint, als ob man der Farben zum ersten Mal gewahr werde. All die Werte, die das Gute in seiner mannigfaltigen Fülle ausmachen, wie Treue, Barmherzigkeit und Opferbereitschaft, erscheinen im Herrn der Ringe in neuer Plastizität, so dass dem nachdenklichen Leser ihr metaphysischer Status klar wird: Sie gelten für alle möglichen Wesen. “Wie er immer geurteilt hat”, läßt Tolkien Aragorn auf die Frage Éomers antworten, wie ein Mensch beurteilen soll, was er in solchen Zeiten tun soll. Denn: “Gut und Böse haben sich nicht in jüngster Zeit geändert; und sie sind auch nicht zweierlei bei Elben und Zwergen auf der einen und Menschen auf der anderen Seite. Ein Mann muss sie unterscheiden können, im Goldenen Wald ebenso wie in seinem eigenen Haus.” (HdR III,2). In der Gestalt Sarumans wird deutlich, dass schon die Relativierung von Gut und Böse, die Verwischung ihres Unterschieds, ein Werk des Bösen ist. Saruman glaubt, dass die Zeiten sich geändert haben und es nun “klug” sei, mit dem Bösen zu paktieren. “Unsere Absichten brauchen sich nicht wirklich zu ändern und würden sich auch nicht ändern, nur unsere Mittel.” (HdR II,2). Der gute Zweck heiligt nicht die bösen Mittel, dieser Grundsatz gilt entweder immer oder nie. Der Gedanke der Wandelbarkeit der Werte zerstört gerade ihren Wertcharakter. Die Schönheit sich selbst opfernder Liebe [3], Freundschaftstreue, Barmherzigkeit: Dies sind Themen, die sich durchs ganze Werk Tolkiens hindurchziehen und darin über alle Zeitalter und alle Grenzen zwischen Menschen, Elben, Zwergen und Hobbits hinweg gelten. Und jeder, der sich der Schönheit dieser Werte öffnet, merkt: Es ist wahr. Dass die praktische Vernunft für alle möglichen Vernunftwesen nur eine sein kann, wusste unter den Philosophen auch noch Immanuel Kant. Trotz allen gegenteiligen Anscheins weiß der Christ um die größere Macht des Guten. Genau dies ist das Zentralthema in Tolkiens Werk. Am Ende tragen die Opferbereitschaft Frodos und die Freundschaftstreue Sams den Sieg über die Übermacht des Bösen davon. Aber schon vorher gibt es Augenblicke, wo jene Wahrheit erahnt wird. Über Sam, als er sich mit Frodo in hoffnungsloser Lage im finsteren Land des Feindes befindet, heißt es: “Dort, zwischen dem Gewölk über einem dunklen Felsen hoch oben im Gebirge, sah Sam eine Weile einen weißen Stern funkeln. Seine Schönheit griff ihm ans Herz, als er aufschaute aus dem verlassenen Land, und er schöpfte wieder Hoffnung. Denn wie ein Pfeil, klar und kalt, durchfuhr ihn der Gedanke, dass letztlich der Schatten nur eine kleine und vorübergehende Sache sei: es gab Licht und hehre Schönheit, die auf immer außerhalb seiner Reichweite waren.” (HdR VI,2). Das Böse ist im Vergleich zum Guten trotz zeitweiliger Machtausübung etwas Nichtiges. Der Verlauf der Erzählung dient u.a. dazu, diesen Charakter des Bösen zu entschleiern. “Das religiöse Element ist in die Geschichte und ihre Symbolik eingelassen”, hat Tolkien im schon zitierten Brief an Murray geschrieben. Zu dieser Symbolik gehört die Rettung aus Gnade. Eigene Kraft reicht zum Sieg über das Böse nicht hin. Dies zeigt sich im finalen Scheitern Frodos, der der Macht des Ringes erliegt. “Frodo ist ‘gescheitert’ (...) Der Macht des Bösen in der Welt können leibliche Geschöpfe letztlich nicht widerstehen, auch wenn sie noch so ‘gut’ sind”, schreibt Tolkien im Entwurf eines Briefs an J. Burn vom 26. Juli 1956. “Er (und die Sache) wurden gerettet ? durch Gnade: durch den höchsten Wert und die Wirksamkeit des Mitleids und der Vergebung von Schuld.” Die “Errettung vor dem Verderben” hängt nicht von physischer Stärke ab (das waren der Irrtum Boromirs und Sarumans), sondern “von etwas scheinbar damit Unverbundenen”: “der allgemeinen Heiligkeit (und Demut und Barmherzigkeit) der Opferperson” (ebda.). [4] Der Ermöglichungsgrund dieser Verbindung zwischen Heiligkeit und Rettung liegt nach Tolkien in Gott. Rettung aus Gnade bedeutet Rettung durch ein unerwartetes Eingreifen Gottes: “Frodo verdiente alle Ehre, weil er jede Unze Willens- und Körperkraft eingesetzt hat, und das reichte eben aus, ihn bis an den vorbestimmten Punkt zu bringen, aber nicht weiter (...) Dann griff die Andere Macht ein: der Autor der Geschichte (womit ich nicht mich selbst meine), ‘die eine, immer gegenwärtige Person, die niemals abwesend ist und niemals genannt wird’ [5] (wie ein Kritiker gesagt hat).” [6] Gott ist im Herrn der Ringe stets im Hintergrund präsent. Aber Tolkien überlässt es dem Leser, dies zu entdecken, und begnügt sich mit Andeutungen: “Ich habe mich absichtlich bei allen Anspielungen auf die höchsten Dinge auf Andeutungen beschränkt, die nur der Aufmerksame erkennen kann, oder sie unter unerklärten symbolischen Formen gehalten. Darum kommen Gott und die ‘engelhaften’ Götter, die Herren oder Mächte des Westens, nur an manchen Stellen kurz zum Vorschein, wie in Gandalfs Gespräch mit Frodo: ‘Im Hintergrund war noch etwas anderes am Werk, das über die Absicht des Ringschöpfers hinausging’; oder in Faramirs númenórischem Danksagungsritus beim Essen.” [7] Tolkien will in der Handlung der Geschichte den Schauplatz bereiten, auf dem die Charaktere sich zeigen können. [8] Gegen eine allegorische Deutung hat sich Tolkien stets gewandt [9]: die Personen stehen nicht für bestimmte Werte oder Dinge, die sie personifizieren. Aber die Wahrheit, Macht und Schönheit der Werte wird in ihnen und ihren Handlungen sichtbar. In diesem weiteren Sinne sind sie Allegorien. Sie stehen zum Urbild im selben Verhältnis wie das wirkliche Leben. “In weiterem Sinne ist es, glaube ich, unmöglich, eine ‘Geschichte’ zu schreiben, die nicht in dem Maße, in dem sie ‘zum Leben erwacht’, allegorisch wäre; denn jeder von uns ist eine Allegorie, die in einer besonderen Erzählung und eingekleidet in die Gewänder von Ort und Zeit eine universelle Wahrheit und das ewige Leben verkörpert.” [10] Die Charaktere Frodos und Sams rühren uns nicht weniger an als die realer Menschen. Der Ermöglichungsgrund dieser Wirkung liegt in der Vorgegebenheit dessen, was als Wert, letztlich als göttliche Urschönheit, in diesen Charakteren aufscheint, gleichgültig ob im Buch oder im wirklichen Leben. Die Werte selber sind nicht erfunden, weder von Tolkien in Mittelerde noch von uns in der “Primärwelt”. Das Medium der Veranschaulichung ändert nichts an der Wahrheit dessen, was zur Veranschaulichung kommt. Das Wort “Primärwelt” verwendet Tolkien in einem Aufsatz “Über Märchen”, in dem er u.a. seine Theorie des künstlerischen Schaffens als einer Nachahmung göttlichen Schaffens darlegt. Es ist eine Zweitschöpfung. Die Freude, die das Märchen gewährt, liegt in der plötzlichen Wendung zum Guten, der guten Katastrophe, von Tolkien “Eukatastrophe” genannt. Bezeichnenderweise verteidigt Tolkien diese Freude gegen den Vorwurf, sie sei wirklichkeitsflüchtig. Sie verleugnet nicht Leid und Misslingen, wohl aber “die endgültige, allumfassende Niederlage, und insofern ist sie Evangelium, gute Botschaft, und gewährt einen kurzen Schimmer der Freude, der Freude hinter den Mauern der Welt, durchdringend wie das Leid.” Das christliche Evangelium ist die in der Primärwelt wahrgewordene Eukatastrophe. “Christi Geburt ist die Eukatastrophe der menschlichen Geschichte.” Die christliche Freude und die Freude, von der das Märchen kündet, sind nach Tolkien von derselben Art mit dem Unterschied, dass das Evangelium ein “Märchen” ist, das sich in der Primärwelt zugetragen hat und dessen Autor Gott ist. Tolkien war gläubiger Katholik. Er, der große Erfinder von Mittelerde, hielt es für unmöglich, dass das, was die Evangelien über Jesus sagen, erfunden sein könnte: “Es gehört ein phantastischer Wille zum Unglauben dazu, anzunehmen, dass Jesus nie ‘dagewesen’ sei, und noch mehr, anzunehmen, dass er nie gesagt habe, was von ihm berichtet wird Dinge, von denen es so unmöglich ist, dass irgendwer auf der Welt zu jener Zeit sie ‘erfunden’ haben könnte: so etwa, ‘ehe Abraham ward, bin ich’ (Johannes VIII); ‘wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen’ (Johannes IX); oder die Verkündigung des Heiligen Sakraments in Johannes VI: ‘Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben.’” [11] Das Allerheiligste Altarsakrament war Tolkiens große Liebe und der Inbegriff dessen, was das menschliche Herz ersehnt. An seinen Sohn Michael schrieb er: “Aus dem Dunkel meines so oft frustrierten Lebens zeige ich Dir das Große, das man auf dieser Erde lieben muss: das Allerheiligste Sakrament. Dort wirst Du Abenteuer, Ruhm, Ehre, Treue und den wahren Weg all Deiner Herzensneigungen auf der Erde finden, ja, mehr als das.” [12] Möge der Leser durch alle Begeisterung am Herrn der Ringe vordringen bis zur tiefsten Quelle, aus der Tolkien selber geschöpft hat und die alles überreichlich in sich birgt, was einem auf Erden und auf Mittelerde zu Recht lieb und teuer sein kann. Anmerkungen: [1] Brief vom 7. Juni 1955 an W.H. Auden [2] Brief vom 2. Dezember 1953 an Robert Murray [3] “Frodo unternahm seine Queste aus Liebe um die Welt, die er kannte, auf eigene Kosten, wenn er dazu imstande war, vor der Katastrophe zu retten; und zugleich in vollkommener Bescheidenheit, mit dem Eingeständnis, dass er für seine Aufgabe völlig ungeeignet sei.” Entwurf eines Briefs an Eileen Elgar vom September 1963 [4] An anderer Stelle schreibt Tolkien zum selben Thema: “In diesem Fall war es die Sache (nicht der ‘Held’), die triumphierte, denn durch Übung von Mitleid, Erbarmen und Vergebung von Schuld wurde eine Situation geschaffen, in der alles wiedergutgemacht und die Katastrophe abgewendet wurde.” (Brief an Amy Ronald vom 27. Juli 1956) [5] “So auch als ‘der Eine’ bezeichnet in Anh. A III, p.317 1.20. Die Númenórer (und die Elben) waren absolute Monotheisten” [Anmerkung von Tolkien selber zu dieser Stelle]. [6] Brief an Amy Ronald vom 27. Juli 1956. [7] Brief an Robert Murray vom 4. November 1954 [8] cf. Entwurf des Briefes an Joanna de Bortadano vom April 1956 [9] “Ich verabscheue die Allegorie die bewusste und beabsichtigte Allegorie” (Brief an Milton Waldman von 1951) [10] Brief vom 7. Juni 1955 an W.H. Auden [11] Brief an seinen Sohn Michael vom 16. Oktober 1963 [12] Brief vom 9. Juni 1941, hier in der Übersetzung Gisbert Kranzs im Inklingsjahrbuch 1992, Seite 14. Diesen Beitrag kann man auch hören. Es handelt sich bei diesem Text um das Nachwort zur Broschüre: Zitate Tolkiens: "Dort, zwischen dem Gewölk über einem dunklen Felsen hoch oben im Gebirge, sah Sam eine Weile einen weißen Stern funkeln. Seine Schönheit griff ihm ans Herz, als er aufschaute aus dem verlassenen Land, und er schöpfte wieder Hoffnung. Denn wie ein Pfeil, klar und kalt, durchfuhr ihn der Gedanke, daß letztlich der Schatten nur eine kleine und vorübergehende Sache sei: es gab Licht und hehre Schönheit, die auf immer außerhalb seiner Reichweite waren." "Der Trost des Märchens, die Freude über den glücklichen Ausgang, die plötzliche Wendung zum Guten ist eine wunderbare Gnade. Die Eukatastrophe aber zeigt uns in einem kurzen Aufblitzen, dass es eine höhere Antwort geben mag - einen fernen Widerschein oder ein Echo des Evangeliums in der wirklichen Welt." Drei Marksteine Es ist daher wohl kaum übertrieben zu sagen, wenn ich neben Martin Mosebachs „Häresie der Formlosigkeit“ und Ratzingers „Einführung in das Christentum“ Tolkiens Werk und zwar eher noch das „Silmarillion“ als den „Herrn der Ringe“ als die drei ersten Marksteine auf meinem (Rück-)Weg ins Christentum bezeichne. Aus: David Engels, Kinderliteratur? Widerstandsliteratur!, gestern auf Corrigenda Gefährliche Reise Den für mich charmantesten Beitrag verfasste der Organist, Dokumentarfilmer und TE-Redakteur David Boos. In der stilistischen Tradition Thomas Manns nimmt er uns mit auf die Reise seines Alter Egos „Adaham“ und erzählt auf sehr persönliche Weise, wie er vom linken Revoluzzer schließlich in den Schoß der heiligen Mutter Kirche heimkehrte. Im Laufe dieser Reise begegnet Boos Widerständen, die er zwar in sich aufnimmt, um seine Perspektive zu öffnen, in denen er aber sich selbst und seinem eigenen Wertesystem treu bleibt. Aus: Marcel Scholz, Zehn Zeugnisse der Hoffnung auf bessere Zeiten, eine Rezension des Buches David Engels (Hg.), Aurë entuluva! Der Tag soll wiederkommen! J.R.R. Tolkien zum 50. Todestag. Renovamen Verlag, Taschenbuch, 272 Seiten. Weitere Artikel: Tolkien und die Bekehrung von C. S. Lewis Cordelia Spaemann über David Jones Bewahre sie vor dem Bösen! Eine Predigt zum Sonntag nach Christi Himmelfahrt.
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