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Hans Scholls Quellen des Widerstands

Eine kritische Rezension des Werkes von Robert M. Zoske
Sehnsucht nach dem Lichte. Zur religiösen Entwicklung von Hans Scholl

Von Jakob Knab

Der Hamburger Pastor Robert Zoske hat ein gewichtiges Buch über die religiöse Entwicklung von Hans Scholl, dem führenden Kopf der Weißen Rose, vorgelegt. Der kundige Leser ahnt etwas von der überbordenden Lust des Autors auf neue Horizonte, er spürt auch dessen unermüdliche Hingabe und außergewöhnliche Schaffenskraft. Auf über 800 Seiten werden diese (z.T. widersprüchlichen) Kernthesen entfaltet: „Nicht Kirche und Eucharistie, sondern Kreuz und Erlösung standen für Scholl im Mittelpunkt. Scholl suchte die Essenz des christlichen Glaubens, keine Konfession. Der evangelische Glaube war das Fundament für Hans Scholls Widerstand. Scholl hat, Taten und Texte belegen das, Luthers Freiheit eines Christenmenschen gelebt. Der protestantische Glaube durchzog als Leitton und Leitmotiv seinen widerständig-revolutionären Freiheitskampf.“

Autor Zoske nennt die Freiheit, nicht die Rechtfertigung, den Zentralbegriff protestantischen Glaubens. Im Kapitel „Zur Freiheit befreit“ wird Martin Luthers Streitschrift „Vom unfreien Willen“ (1525) angeführt. Laut Luther ist der menschliche Wille wie ein Lasttier: Wenn Gott es reitet, will es wie Gott will und geht hin, wo er will. Reitet ihn der Teufel, geht es hin, wo der Teufel will. Es hat nicht die Freiheit, seinen Reiter zu wählen. Der katholische Humanist Erasmus, der Luther ein Jahr zuvor herausgefordert hatte, wird bei Zoske nicht erwähnt.

In Zoskes Sicht gründet Scholls Widersagen in Schleiermachers romantischer Gefühlsreligion. Friedrich Schleiermacher war der bedeutendste protestantische Theologe im 19. Jahrhundert. Dabei bewegt sich Autor Zoske freilich auf dünnem Eis, um dessen herausragende Bedeutung für Scholl zu begründen: „Aus Scholls Bibliothek ist ein Exemplar der Reden über die Religion [von Schleiermacher] erhalten geblieben.“ Es kümmert Zoske nicht, dass nirgendwo sonst in Scholls Briefen und Aufzeichnungen der Name Schleiermacher aufscheint. Dies ist nachvollziehbar, denn dessen nationalprotestantische Gesinnung passt nicht in Scholls Geschichtsbild: Im Januar 1809 hatte Schleiermacher bekundet, dass es „dem Christen unanständig sei, der Obrigkeit untertan zu sein um der Strafe willen, dass es ihm natürlich und notwendig sei, ihr sich zu unterwerfen um des Gewissens willen“.

Schleiermacher schafft es im Index auf 34 Einträge. Den Namen Karl Barth sucht man dort vergeblich. Dabei wird Barth immerhin in einer Fußnote kurz erwähnt. Nicht interessiert ist Zoske an der Umkehrung Schleiermachers, denn Barths „Römerbrief“ (1919) ist ein unüberhörbarer Protestschrei gegen die liberale Theologie und gegen nationalprotestantische Mentalitäten des 19. Jahrhunderts. Idealtypisch für jenes preußische und fromme Selbstbewusstsein steht der Name Schleiermacher.

Zoske schlägt eine ideengeschichtliche Brücke von Schleiermacher zu Max Horkheimer von der Frankfurter Schule. Ausführlich wird dabei dessen SPIEGEL-Interview vom Januar 1970 zitiert. Auf der anderen Seite interessiert sich der Autor nicht dafür, dass Horkheimer im Jahr 1936 Theodor Haeckers Buch „Der Christ und die Geschichte“ (1935) besprach. Vor allem durch die innewohnende Sehnsucht nach universaler Gerechtigkeit erweckte Haeckers Wort bei Horkheimer Achtung. Der Konvertit Haecker, einer von Scholls Mentoren, passt nicht in Zoskes Gesamtduktus, so zeichnet er ein Zerrbild. Dabei zählte Haecker für Scholl zu „jenen gewaltigen Erscheinungen, die das, was sie geschrieben haben, durch ihre Person noch steigern.“ Doch Zoskes Sympathien liegen anderswo, sein spürbares Wohlwollen gilt dem homoerotischen und esoterischen Dichter Stefan George.

Im Kriegsjahr 1941 las Scholl das Buch "Kierkegaards Folgen" des katholischen Philosophen Alois Dempf. Die Kennzeichnungen bei der Lektüre, so Zoskes These, zeigen u.a. Scholls Suche nach einem "Staat ohne Repressalien gegen den Einzelnen". Scholls Vorbilder seien die Dissidenten Ockham, Luther und Kierkegaard. Zoske erwähnt freilich nicht, dass Ockham für die erbsündig verderbte Welt eine möglichst wirksame "Staatszwangsgewalt" aufrichten wollte. Nachzulesen bei Dempf auf Seite 104! Ein weiteres Beispiel für Zoskes verkürzte und verzerrte Sicht: Paul Nordhues (1915 – 2004), der spätere Weihbischof von Paderborn, war im Herbst 1942 an Scholls Frontabschnitt als katholischer Militärseelsorger eingesetzt. Nach dem Krieg erzählte er, wie Hans Scholl seine Gottesdienste mitgefeiert und voller Eifer an seinen Bibelstunden teilgenommen habe. Nordhues war sehr erstaunt, als er darüber aufgeklärt wurde, dass Scholl evangelisch gewesen sei. Vergeblich sucht man den Namen Nordhues bei Zoske. Gleiches gilt für die Namen G.K. Chesterton, Etienne Gilson, Francis Jammes, Alfred von Martin, Charles Peguy und Karl Pfleger.

Wenn nun der Dissident Luther – laut Zoske – ein Vorbild Scholls auf der Suche nach einem "Staat ohne Repressalien gegen den Einzelnen" war, dann ist diese These ein weiterer Beleg für Zoskes Kopfgeburten. In seinem konfessionalistischen Übereifer kennt Zoske nur ein geschöntes und geplättetes Geschichtsbild, wenn es um seinen Heros Martin Luther geht. Richtig ist vielmehr: Schonungslos nahm Luther Partei für die Obrigkeit: „Der Esel will Schläge haben und der Pöbel will mit Gewalt regiert werden.“ Zoske kennt nicht Luther blutrünstiges Pamphlet gegen die aufständischen Bauern: „Wer auf fürstlicher Seite umkommt“, predigte der Reformator, „wird seliger Märtyrer, wer drüben fällt, fährt zum Teufel, darum soll hie zuschmeißen, würgen und stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, und gedenken, dass nichts Giftigeres, Schädlicheres, Teuflischeres sein kann denn ein aufrührerischer Mensch.“ Nota bene: Hans Scholl gehörte in seiner Zeit zu jenen „aufrührerischen Menschen“. Sapienti sat!

Dennoch wird der wohlwollende und kundige Leser bedauern, dass Autor Zoske nicht einfach seine kostbaren Funde als wohlfeiles Buch veröffentlichte; denn das vorliegende Werk leidet stark an Zoskes ungebremsten Ausflügen in die Ideengeschichte. Hier ein Absatz von Seite 253: „Da Nietzsches Schriften ein einziges ‚Nein!’ des Ungehorsams sind, konnten sie zu einer wichtigen Inspirationsquelle für Scholls widerständigen Geist werden. Der Versuch der Nationalsozialisten, den Philosophen für ihre Zwecke zu vereinnahmen, war so absurd wie die Instrumentalisierung Luthers. Beide Denker standen in ihrer Einmaligkeit gegen jede Vermassung, sie hatten ‚Charakter und eigne Art’, forderten und förderten das Anderssein. Scholl hatte erkannt, wie die Erziehungsmethoden des Regimes jede Menschlichkeit vernichteten, so dass nur noch, wie Nietzsche nahelegte, ein liebevoller göttlicher Blick sie wieder erwecken konnte. Scholl sah, wie Thomas Mann, den Philosophen ‚wesentlich als Protestanten.“

Hier muss man innehalten, wenn Nietzsche ‚wesentlich als Protestant’ gesehen wird! Für den NS-Ideologen Rosenberg lag es auf der Hand, an Nietzsches Verachtung des Christentums („Sklavenmoral”) anzuknüpfen. 1930 trat Alfred Rosenberg mit seinem Buch „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ an die Öffentlichkeit. In seinem „völkischen“ Kern bedient sich dieses Werk u.a. bei Paul de Lagarde (1827 – 1891) und Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844 – 1900).

Autor Zoske nimmt nicht zur Kenntnis, wie die Reformation auch eine Nationalisierung des Religiösen zur Folge hatte. Im Klartext: Luther wurde im Dritten Reich von seinen eigenen Leuten ‚vereinnahmt’ und ‚instrumentalisiert’. Als Beleg soll ein Auszug aus der Predigt des Berliner Generalsuperintendenten Otto Dibelius zur Eröffnung des Reichstages am 21. März 1933 dienen: „Wir haben von Dr. Martin Luther gelernt, dass die Kirche der rechtmäßigen staatlichen Gewalt nicht in den Arm fallen darf, wenn sie tut, wozu sie berufen ist. Auch dann nicht, wenn sie hart und rücksichtslos waltet.“

Auch die sog. „Godesberger Erklärung“ ist dem Autor Zoske nicht bekannt. Nachdem der Erzbischof von Canterbury die NS-Aggression gegen die Tschechoslowakei verdammt hatte und zur Einheit der protestantischen Kirchen aufgerufen hatte, unterzeichneten u.a. Repräsentanten von elf Landeskirchen die „Godesberger Erklärung“. Traurige Berühmtheit erlangte die erste Fassung der Grundsätze vom 26. März 1939. Hier der Kernsatz: „Indem der Nationalsozialismus jeden politischen Machtanspruch der Kirchen bekämpft und die dem deutschen Volke artgemäße nationalsozialistische Weltanschauung für alle verbindlich macht, führt er das Werk Martin Luthers … fort.“

Wer sich die Mühe macht, Zoskes Werk auf handwerkliche Professionalität zu überprüfen, wird auf folgende Manipulation stoßen, denn Zoske schreibt auf der besagten Seite 253: „Beide Denker [Luther und Nietzsche] standen in ihrer Einmaligkeit gegen jeder Vermassung, sie hatten ‚Charakter und eigene Art, forderten und förderten das Anderssein. Scholl hatte erkannt, wie die Erziehungsmethoden des Regimes jede Menschlichkeit vernichteten , so dass nur noch, wie Nietzsche nahelegte, ein liebevoller göttlicher Blick’ sie wieder erwecken konnte. Scholl sah, wie Thomas Mann, den Philosophen ‚wesentlich als Protestanten’.“ Als Beleg für den Ausdruck „liebevoller göttlicher Blick“ wird in der Fußnote 1196 die Seite 139 in Nietzsches Unzeitgemäßen Betrachtungen angegeben. Doch wird man dort nicht fündig. Richtig ist vielmehr: Den Ausdruck vom „liebevollen göttlichen Blick“ gebraucht Nietzsche in seinem Antichrist. Hier der Kontext, um Nietzsches Aussageabsicht und –inhalt zu verdeutlichen: „Aus der Höhe gesehn, bleibt diese fremdartigste aller Tatsachen, eine durch Irrtümer nicht nur bedingte, sondern nur in schädlichen, nur in leben- und herzvergiftenden Irrtümern erfinderische und selbst geniale Religion ein Schauspiel für Götter – für jene Gottheiten, welche zugleich Philosophen sind, und denen ich zum Beispiel bei jenen berühmten Zwiegesprächen auf Naxos begegnet bin. Im Augenblick, wo der Ekel von ihnen weicht (– und von uns!), werden sie dankbar für das Schauspiel des Christen: das erbärmliche kleine Gestirn, das Erde heißt, verdient vielleicht allein um dieses kuriosen Falls willen einen göttlichen Blick, eine göttliche Anteilnahme... Unterschätzen wir nämlich den Christen nicht: der Christ, falsch bis zur Unschuld, ist weit über dem Affen – in Hinsicht auf Christen wird eine bekannte Herkunfts-Theorie zur bloßen Artigkeit.“ (Nietzsche, Der Antichrist, Kapitel 39). Zoske liegt auch falsch mit seiner Behauptung, Nietzsche sei wesentlich als Protestant zu verstehen. Richtig ist vielmehr: Nietzsche rebellierte gegen ein düsteres deutsches Luthertum. Sein Entwuf vom „Tod Gottes“ als übernatürlicher Person verdankt sich auch Hegel, Schopenhauer und ist den Verhältnissen des deutschen Protestantismus im späten 19. Jahrhundert geschuldet. Sapienti sat!

Uneingeschränkte Anerkennung verdient der Widerstandsforscher Zoske zu guter Letzt für einen bedeutsamen Fund: er entdeckte Gedichte, die Hans Scholl im Jahr 1938 schrieb und die in der Forschung zur Weißen Rose bisher unbeachtet geblieben sind. In einer frühen Lebenskrise verfasste der junge Soldat Scholl auch stark religiös geprägte Gedichte wie „Nachts im Klostergarten“, „Sonnengesang“, „Gott“ und „Dom“. Ein Gedicht, das Zoske in den Beständen des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) München fand, ragt heraus, dreiundreißig mit Hand geschriebene Seiten umfasst der Marienhymnus. Es ist die Suche nach Reinheit, Glanz und Schönheit, wenn Hans Scholl, der am 7. Mai 1938 wegen Verfehlungen (u.a. § 175a StGB) angeklagt wurde, sich nur wenige Tage später an die fürsorgliche Mutter Jesu wendet: „Maria – Königin / du Starke – du tief / in Gott verschmolzne Rose der Höh’ / laß uns dich grüßen / so wie wir dich erahnen / in unsern engen Bahnen (…) Denn du bist ja Kristall / der tausend Glanze sprüht / und immer anders glüht / du thronest hell im Himmelsall (…) Fülle aus göttlichem Strahle / schütte aus ewigen Brunnen / die Glut in unser Gefäß / Flammen und Feuer und Licht / das ewig verbleibt / wenn Wand und Hülle zerbricht.“


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