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Die Rückkehr der Philosophie zum Objekt

Von Peter Wust

Dieser Text des saarländischen Philosophen Peter Wust (1884-1940) erschien 1922 in der von Carl Muth herausgegebenen Zeitschrift Hochland. Über sein Hauptwerk Ungewißheit und Wagnis hat Josef Bordat auf diesem Portal geschrieben.

I.

Am 29. Januar 1826 sagte Goethe zu Eckermann: »Ich will Ihnen etwas entdecken, und Sie werden es in Ihrem Leben vielfach bestätigt finden. Alle im Rückschreiten und in der Auflösung begriffenen Epochen sind subjektiv, dagegen aber haben alle vorschreitenden Epochen eine objektive Richtung. Unsere ganze jetzige Zeit ist eine rückschreitende, denn sie ist eine subjektive. Dieses sehen Sie nicht bloß an der Poesie, sondern auch an der Malerei und vielem anderen. Jedes tüchtige Bestreben dagegen wendet sich aus dem Innern hinaus auf die Welt, wie Sie an allen großen Epochen sehen, die wirklich im Streben und Vorschreiten begriffen und alle objektiver Natur waren«.

Der große Welt- und Lebensbeschauer rührt mit diesen Worten an ein tiefverborgenes und letztes Geheimnis alles Kulturschaffens, das uns Menschen von heute ganz besonders angeht, weil wir nämlich allerorten eine Abwendung von dem einseitigen Ichkultus der früheren Zeit zu bemerken glauben. Mag auch in Kunst, in Erziehung, Religion und Politik die neue Wendung des Geistes von gewissen Überspanntheiten der Einzelpersönlichkeiten begleitet sein, in deren Händen die Führung der Massen liegt, mir scheint trotz alledem, daß die sozialistische Idee, im weitesten Sinne gefaßt, schließlich nur das eine große Ziel hat, den Menschen von dem Götzenpriestertum des Ichkultus zu befreien. Der »Mensch« kann fernerhin nicht mehr, wie Auguste Comte noch meinte, dem Menschen als das »Grand Etre« verehrungs-, ja anbetungswürdig erscheinen, nachdem sich die Ohnmacht seines stolzen Autonomiegedankens enthüllt hat. Wir rücken der Welt und dem Objekt wieder näher, weil wir unsere Seibstgesetzlichkeit durch »ein anderes Gesetz in unseren Gliedern« merklich genug beschränkt finden. Nirgends aber zeigt sich dieser Prozeß einer allmählichen Rückkehr zum Objekt deutlicher als in der Philosophie, und zwar vielleicht deshalb, weil ja auch in der Philosophie der Autonomiegedanke, von einer religiösen Wendung ausgehend, seinen Anfang nahm und vielleicht seine größte Intensität erreichte. Der übersteigerte Kantianismus unserer Zeit war ein Anzeichen dafür, ja er war die innerste Triebfeder dessen, was wir so stolz das Wesen »des modernen Geistes« zu nennen pflegten.

Goethes Wort jedoch ist nicht so leicht zu verstehen, wie es auf den ersten Blick hin scheinen könnte. Es beleuchtet blitzartig eine Weltmetaphysik, wie sie von den größten Geistern, von Plotin z.B., geahnt wurde. Und es wird daher kein Umweg sein, wenn wir der Betrachtung unserer eigenen Zeit eine kleine prinzipielle Untersuchung voraufschicken.

Das Wesen der Geschichte, die als ein besonderes Seinsgebiet zwischen der Natur und Gott eingeordnet ist, hat man offenbar zu suchen in dem Steten zwiespiiltigen Ringen des Weltwillens außer uns mit dem Eigenwillen in uns. Nur der Mensch hat als einziges und völlig eigenartiges Seinswesen dem Gesetz einer doppelten Gravitation zu gehorchen. Nur er hat zwei Schwerpunkte in seinem Wesen, und diese beiden Schwerpunkte entfernen sich entweder dauernd voneinander oder sie nähern sich einander. Sie können jedoch niemals völlig auseinandergerissen werden und ebensowenig können sie jemals zusammenfallen. Nur zwischen der reinen und völlig einheitlichen Natur und dem reinen Geiste ist der Standort des Menschen, und nicht bloß der Standort, sondern die stets wechselvolle Bewegungskurve seines Schaffens zu suchen. Und eben diese veränderliche Bewegungskurve ist das geheimnisvolle Wesen dessen, was wir Geschichte zu nennen gewohnt sind.

Die Natur kennt nur die Einheit des Weitwillens. Sie gehorcht in ihrem reinen Daseinstriebe dem kosmischen Instinkt, der in allen ihren Einzelwesen, im Stein wie in der Pflanze und im Tier, als unverbrüchliches Gesetz wirksam ist. Und dieses Gesetz wirkt durch das Einzeiwesen hindurch für das Einzelwesen wie für das All, in dem das Einzelwesen seine besondere Stelle hat. Das ist das große Wunder der Notwendigkeit, die kein Ich und kein Du kennt, sondern nur das »Es« des allgemeinen und einen Weltwillens.

Gott aber ist der Gegenpol der Natur. In ihm ist von Ewigkeit her die Zweiheit des Weltwillens und des Eigenwillens wie in einer unvordenklich prästabilierten Harmonie zu höchster und schlichtester Einheit geordnet. Stärkster Allmachtsdrang und reinster Ordnungswille (wie menschlich ist all dies Reden von ihm!) haben in ihm einen heiligen Bund geschlossen, aus dem die Liebe als eine dritte und noch geheimnisvollere Kraft von Ewigkeit her entspringt.

So ist also die Zweiheit von Eigenwille und Weltwille des Menschen ganz besonderes Teil und Schicksal, im guten wie im bösen Sinne. Die Welten zu seinen beiden Seiten sind die der großen Notwendigkeit des »Es will« und der verklärten Freiheit des »Ich bin« — in der Mitte liegt die sonderbare Doppelnatur des Wesens, das die ineinandergreifende Gesetzlichkeit dieser beiden Reiche des »Es will« und des »Ich bin« als sein glücklich-tragisches Erbe hinzunehmen hat. Daher läßt sich denn auch in allem, was die Menschheit wirkt und schafft, in ihrer aufbauenden wie in ihrer abreißenden Kulturarbeit, der Kampf zwischen Subjekt und Objekt beobachten.

Greifen wir nur etwa, um diese Tatsache noch etwas besser zu beleuchten, ein Gebiet wie die Kunst heraus, die heute, in ein neues revolutionäres Stadium eingetreten, unserem Denken wieder so viele Rätsel aufgibt. Von unseren heutigen Beobachtungen aus ließen sich leicht für dieses Gebiet zwei markante Grenzfälle denken. Man könnte etwa den Fall setzen, daß wirklich einmal in der Kunst das Objekt ausschließlich zu gebieten hätte. Und ebenso ließe sich dann der andere Grenzfall setzen, daß in ihr das Subjekt völlig selbstherrlich aufträte. Diese Grenzfälle erst ergäben den reinen Naturalismus wie den reinen Expressionismus. Aber man sieht sich bei der Annahme dieser beiden Grenzfälle sofort vor die Frage gestellt: Sind sie denn überhaupt möglich? Und das ist nicht etwa eine Frage der Logik allein, es ist eine in die Tiefen der Metaphysik hinabweisende Frage.

Sind diese Grenzfälle möglich? Aber sie sind ja wirklich — nur nicht für die Kunst. Ziehen wir nur für einen Augenblick ein besonderes Beispiel aus der Kunst heran. Worin liegt das Wesen des Schauspielers? Jeder wird zugeben, daß der Schauspieler in dem Maße seine Kunst zu steigern fähig ist, je mehr er sein Ich dem Objekt seiner Darstellung anzugleichen vermag. In dieser Annäherungsamplitude liegt sein Geheimnis. Je mehr er sich aus sich heraus und in die Gestalt hineinversetzt, die er darzustellen hat, um so mehr nähert sich seine Kunst der Wirklichkeit an, und um so reiner und größer wird sie. Aber muß es nicht eine gewisse Grenzschwelle für diesen Prozeß der Annäherung zwischen darstellendem Ich und darzustellender Wirklichkeit geben? Können jemals die beiden Schwerpunkte der Handlung in der Seele des Schauspielers, insofern er Schauspieler ist, zusammenfallen? Nein, das ist unmöglich. Denn wo dieser Fall einträte, da hörte der Schauspieler auf, Schauspieler zu sein, Künstler zu sein. Er wäre dann als Mensch und Handelnder ein Glied der Wirklichkeit selbst; er verließe die Bühne der Kunst und bliebe auf der Bühne des Lebens zurück.

Wie in diesem Falle des Schauspielers, so ist es mit dem Wesen der Kunst überhaupt. Sobald das Objekt allein gebieten wollte, wäre das Wesensgesetz der Kunst überschritten, und die Wirklichkeit wäre an ihre Stelle getreten. Der extreme Naturalismus oder Verismus ist also bloß eine Hinbewegung auf den ersten Grenzfall. Wenn man allen Ernstes glauben wollte, diesen Grenzfall wirklich zu erreichen, so wäre das nichts anderes als das törichte Unterfangen Rousseaus, den Menschen völlig vom »Fluch« der Kultur zu befreien. Es hieße den Menschen als Menschen aufgeben, um ihn in der Einheit der Natur, in dem großen Notwendigkeitsreiche des »Es will« aufgehen zu lassen. Es wäre eine völlige Verkennung des Wesensgesetzes aller Kunst und damit überhaupt aller Kultur, wenn man aus ihr den letzten Rest von Subjektivität entfernen, wenn man »den Bruchteil des Geistes« aus dieser besonderen Gleichung ausklammern wollte. Man sieht, wie tief hinab in die Metaphysik alle Fragen dieser Art weisen, und alle Forscher auf dem weit verzweigten Kulturgebiete müßten eigentlich hier ihren Spaten einsetzen. Auch der Verismus Rankes für die Geschichtsdarstellung, auch der Verismus der sogenannten »wertfreien« Wissenschaft Max Webers hätte hier umzulernen.

Umgekehrt aber stellt sich auch der Grenzfall für die Kunst (und damit wieder für die Kultur überhaupt) als eine Unmöglichkeit heraus. Der Geist für sich allein, soweit er menschlicher und demgemäß also zur Zwiespältigkeit verurteilter Geist ist, kann nie die Grenze des Objekts überspringen. Auch im verwegensten Expressionismus findet sich noch »ein Bruchteil des Objekts« vor. Selbst dann, wenn der Expressionismus völlig freischöpferisch nur aus dem Geist heraus seine Formung bewirken zu können und jegliche Analogien des Objekts ablehnen zu dürfen glaubt, selbst dann »befleckt« er sich noch mit dem Objekt. Denn auf irgendwelche Linien, Punkte, Farbenkleckse und dgl. kann er doch nicht verzichten; irgendwelche Objektanalogien drängen sich ungerufen heran, und auch die Mittel der Darstellung wie Farbe usw. sind Reste des Objekts, die etwas von ihrer Eigengesetzlichkeit in den vermeintlich reinen Wein des Geistes hineinmischen. Aber auch dieser Expressionismus der Kunst ist wie der künstlerische Naturalismus nur ein Spezialfall des allgemeinen Wesensgesetzes der Kultur und des Menschen. Hier liegt die Wurzel für das Mysterium, das wir mit einem gewissen Gefühl des Schmerzes »den Sündenfall der Idee« zu nennen pflegen.

So sieht man also, daß die Kultur überhaupt durch den Kampf zwischen Subjekt und Objekt bedingt ist und dass Naturalismus wie Expressionismus, auf welchem Einzelgebiet der Kultur auch immer es sein möge, nur Annäherungen an unsre beiden angenommenen Grenzfälle darstellen. Es sind Versuche des Menschen, aus seinem eigenen zwiespältigen Wesen heraus in die glücklich-notwendige Einheit der Natur oder in die heitere und lichte Welt des völlig freien göttlichen Geistes hinüberzuschwingen. Aber Schöpfung ist göttliches Schicksal. »Über seine Natur kann kein Wesen hinaus.« Den vollendeten Naturalismus hat Gott der Natur vorbehalten. Den eigentlichen freischöpferischen Expressionismus behielt der Ewige sich selbst vor. Nur zwischen diesen beiden Polen soll sich das Schaffen des Menschen bewegen, und Fluch und Segen seiner selbst ist damit in seine eigene Hand gelegt. Kultur — das ist das Paradoxon einer determinierten Freiheit.

Von diesem Punkte aus aber fällt erst ein helleres Licht auf das tiefsinnige Wort Goethes an Eckermann, von dem wir ausgegangen sind. Nicht so nämlich kann dieses Wort verstanden werden, als ob Goethe nur in der extremen und extremsten Richtung des Kulturschaffens auf das Objekt hin das Voranschreiten der Epochen erblicken möchte. Das wäre ja, wie wir jetzt wissen, eine einseitige Schilderhebung des Naturalismus. Und ferner kann Goethe unmöglich auch jede Art der Subjekteinmischung im Prozeß der Kultur als dekadent ablehnen wollen. Wie sollte er es, der doch selbst sein Schaffen nur als Bruchstücke einer großen Konfession bezeichnete! Was Goethe mit seinem Wort im Auge hat, ist vielmehr das Wesen des Klassischen, das er einmal als »das Gesunde« der vorschreitenden, objektiv gerichteten Epochen charakterisiert hat. Das Klassische aber wird allemal nur da erreicht, wo die feinste Mittellinie auf der Bewegungskurve der Seele zwischen Natur und Geist getroffen wird. Und dann erhält man — als ein Abbild gleichsam der in sich einigen Natur — wie die Kunst »des Selbstverständlichen«, so auch überhaupt die Kultur »des Selbstverständlichen«. Freilich leuchtet es ein, daß dieses Größte ebenso schwer und ebenso kurzfristig sein muß, wie es einfach ist. Nur von ganz selten rein und glücklich veranlagten Menschen, nur in ganz seltenen und besonders begnadeten Zeiten kann diese schmale Mittelbahn zwischen Subjekt und Objekt beschritten und eingehalten werden. Gerade diese selteneren Oasen menschlichen Gestaltungsglückes sind dann ein Zeugnis dafür, wie schwer das Instrument der Freiheit zu handhaben ist und wie glücklich Umstände und Wille zusammenwirken müssen, wenn der Adelsbrief »der Humanität« erworben werden soll. Jetzt erst verstehen wir den Tiefsinn des Goetheschen Wortes an Eckermann, und es leuchtet uns ein, daß die Kulturphilosophie, um die heute alle Welt sich bemüht, seitdem sie durch Nietzsche und Simmel, Theodor Lessing und Spengler wieder aktuell geworden ist, in ihren Fundamenten schon längst vorhanden war. Dort nämlich sind die wahrhaften Ansätze zu einer Metaphysik der Geschichte zu suchen, wo der gewaltige Riß innerhalb der Menschennatur als eine nicht wegzuleugnende Tatsache gesehen und anerkannt wird. Mit dem hiatus irrationalis zwischen Natur und Geist ist alle Kulturentwicklung ein für allemal verbunden. Die Kultur aber, so können wir jetzt Goethe ergänzen, ist in Auflösung begriffen, wenn Subjekt und Objekt, Eigenwille und Weltwille, über eine gewisse Spannweite hinaus auseinanderklaffen. Dann entstehen jene Zeiten gekünstelter Zweckgebilde, von denen Ferdinand Toennies in seinem Buche »Gemeinschaft und Gesellschaft« handelt. Auch Spenglers schönste Intuitionen weisen in diese Richtung des Problems. Sobald sich jedoch der Eigenwille wieder in einer rückläufigen Bewegung auf den Weitwillen hin befindet, setzt auch eine Renaissance des Geistes ein. Genau das meint Goethe, wenn er sagt, daß jedes tüchtige Bestreben sich aus dem Inneren hinaus auf die Welt wendet.

Wie ganz anders aber muß sich nun von dieser prinzipiellen metaphysischen Betrachtung aus das Bild ausnehmen, das wir uns von der Philosophie der seit kurzem abgelaufenen Zeit bisher zu machen beliebten und wie ganz anders dasjenige, das wir uns jetzt davon zu machen haben! Denn auch die Philosophie muß als ein Werk der Kultur an dem wesensgesetzlichen Kampf zwischen Subjekt und Objekt ihren Anteil haben. Auch in ihr muß es die polaren Gegensätze von Naturalismus und Expressionismus geben. Und auch in ihr haben wir bei dem ewigen Auf und Ab der seelischen Bewegungs- und Gestaltungskurye nur ganz seltene Glücksfälle klassischer Wahrheitsrepräsentatjon. Es gibt in der Tat eine ewige und ideale Philosophie, auch als rein menschliche Angelegenheit. Es gibt auch für das menschliche Denken einen schmalen Saumpfad über den Kamm zwischen Objekt und Subjekt hinweg, einen Saumpfad, dein wir zustreben, oder den wir verfehlen können.

Und den wir vielleicht von Zeit zu Zeit verfehlen müssen, um ihn von neuem suchen zu müssen. Auch hier sind Naturalisten und Expressionisten schicksalsmäßige Vorboten oder schicksalsmäßiger Nachtrab einer kleinen Schar, die die Irrtümer der Mitsrrebenden und Vorbeistrebenden benützt, um den Kompaß der Wahrheitssehnsucht erneut zu befragen. Und so ist denn auch im Gebiet des reinen Gedankens der Kampf zwischen Subjekt und Objekt das ewige Grundmotiv, wie er überhaupt das Grundmotiv aller Kultur ist, das große Grundmotiv in der immer neu und doch nie zu Ende komponierten Partitur der Geister.

II.

Aus dem Gesagten erhellt nun zur Genüge, wie wir innerhalb der Geschichte der Philosophie den Kantianisinus etwa gegenüber der unvergänglichen Philosophie Platons einzuschätzen haben. Um Einzelheiten des Systems, sei es desjenigen Kants selbst, sei es der Kantianer, die ihn noch zu übertrumpfen hofften, brauchen wir keineswegs zu rechten. Die Polarität von Aktivität und Passivität des menschlichen Erkennens umschließt alle Einzelfragen der Philosophie von Platon bis zu Kant, und die Akzentuierung dieser Polarität in dieser oder jener Hinsicht entscheidet über den Charakter der Systeme. Daß aber Kant die alte Ontologie durch die »Kritik der reinen Vernunft«, also durch eine »transzendentale« Seinslehre die »transzendente« Seinslehre ersetzen wollte, das allein illustriert hinreichend, auf welchem Wege sich die Philosophie seit Kant eingefunden hatte. War es Vermessenheit, war es eine absinkende Kraft, die den Menschengeist dazu antrieb, von jetzt an das Ich als allmächtigen Faktor zu betrachten und nur mehr um seine eigene Achse rotieren zu lassen? Mir scheint, es war die Fortsetzung jener großen Aktion, die so glänzend mit Renaissance und Reformation anhub und schließlich so schmachvoll scheiterte in den unübersehbaren Wirren unserer Zeit.

Aber freilich, erst in der Nachblüte des Kantianismus seit den 70er Jahren gelang es, das »reine« Denken für eine völlig freischöpferische, man könnte sagen »expressionistische« Philosophie auszunützen. Von da ab erst sinkt das Sein völlig unter die Oberherrschaft des Denkens herab. Aber des endlichen Denkens, muß man hinzufügen. Gewiß, die Kantianer meinten es eigentlich nicht so. Sie stellten niemals, wenigstens nicht bis auf Emil Lask, die eigenartige Äquivokation im Begriffe des Denkens heraus. Sie glaubten (und waren sie damit nicht auch Mythologen?) allen Ernstes an ein freischwebendes Denken, das aus sich selbst heraus alle Kosten der Objektivität bestreiten könnte. Aber das war nichts weiter als eine freischwebende, im vollsten Sinne »luftige« Metaphysik wider Willen. Es war die Verwechselung von menschlich unmöglichem und göttlich-wirklichem Expressionismus. Unter einer Maske tritt so gleichsam ihr Begriff des »reinen« Denkens vor uns hin, als ob es ein Denken erster Natur sei, obwohl es nur ein Denken zweiter Natur war. Aber daß es auch wirklich nur ein solches Denken von sekundärer Natur war, mit dem sie freischöpferisch operieren zu können glaubten, das geht daraus hervor, daß sie mit Hilfe dieses Begriffes sich »der Tücken des Objekts« nicht zu erwehren vermochten. Sie hatten ja die Ontologie als abgetan betrachtet, obwohl ein wirklich primäres Denken nicht anders als ontologisch-freischöpferisch gedacht werden kann, aus dem dann das sekundäre Denken seine diskursiv zwischen Subjekt und Objekt hin- und herspielende Kraft empfängt. Es mußte sich also zeigen, wie weit sie ihre Arbeit ohne Metaphysik fortzutreiben imstande waren. Die Notwendigkeit einer primären freischöpferischen Denkkraft erkannten sie zwar; aber diese freie Schöpferkraft wurde nun in dem von Hermann Cohen rein heraus destillierten Kantianismus dem Denken zweiter Ordnung übertragen.

Das Denken wird zu einer völligen Privatsache der Logik gemacht, d. h. einer neuen, nicht ohne Scharfsinn und Tiefsinn erfundenen Logik des Erzeugens aller Ordnungen, die von der sogenannten formalen Logik sorgfältig unterschieden wurde. In dieser neuen Logik, dem Ersatz der alten Ontologie, in dieser entgötterten und der Eigengesetzlichkeit des Objekts völlig entzogenen Logik hatte das Denken freie Bahn für ein göttergleiches Spiel. Von diesem Punkte aus gesehen, erscheint uns Heutigen Hermann Cohens “Logik der reinen Erkenntnis” schon beinahe wie eine neue Mythologie jenes gottentfremdeten Zeitalters. Es ist eine große mythologisch anmutende Kategorienlehre des autonomen Geistes. Aus einem unbekannten »Ursprung« rein denksetzender Natur wälzt sich der logische Gestaltungswille in eine ebenso unbestimmte Zukunft hinein. Was war das anderes als der reine Expressionismus der Logik, mit derselben Ehrfurchtslosigkeit vor dem Objekt behaftet wie die Kunst der Gegenwart, und daher auch mit derselben Objektblindheit bestraft wie diese. Und mit Erstaunen stellt man jetzt fest, wie die eigenartige Naturmetaphysik Darwins und diese »Metaphysik der Logik« in der inneren Ziellosigkeit ihres Prozesses eine gewisse Verwandtschaft zeigen. Gewiß ist heute schon anzuerkennen, daß dieser logische Expressionismus, kulturgeschichtlich gesehen; ein notwendiges Durchgangsstadium in der Entwicklung es historischen Prozesses, im Fortgang der seelischen Bewegungskurve war, ein Gegenschlag sowohl gegen den Materialismus wie gegen die einseitige Psychologisierung der Werte. Aber mit derselben inneren Notwendigkeit mußte diese Übersteigerung des Subjekts den Geist vor die inneren Schwierigkeiten führen, die allem freischwebenden und freischöpferischen menschlichen Denken einwohnen. Die Rückkehr der Philosophie zum Objekt, war so, zunächst einmal in der Provinz der einen Logik, dem Lieblingsbezirk des Kantianismus, nur eine Frage der Zeit. Es ist ein Studium von besonders merkwürdiger und fesselnder Art, diese Überwindung der herrischen Ansprüche des Subjekts im Neukantianismus Schritt für Schritt zu verfolgen. Hier sei nur darauf hingewiesen, wie einerseits die Schule Windelbands und Rickerts dieses allmähliche Vordringen zum Objekt in der Logik vorbereitete, und wie anderseits die Schule Husserls diesen Prozeß weiter und zu einem gewissen Abschluß führte. Denn um nichts anderes handelt es sich bei der Einführung des »historischen Begriffs«, sowie der »Kulturwerte« in die Philosophie Windelbands und Rickerts, um nichts anderes auch bei der Wesensschau Husserls, als die Selbstgesetzlichkeit des Denkens unter Rücksichtnahme auf die Objektgesetzlichkeit einzuschränken. Mochten diese beiden neuen Schulen sich auch als Ableger vom Stamme des Kantianismus fühlen und aufgefaßt wissen, das war nur ein Opfer, das der alles überragenden Autorität Kants dargebracht wurde. Man wußte eben selbst nicht, was man tat. Man war nur ausführendes Organ eines geheimen kulturgeschichtlichen Geschehens, dessen Tragweite über die Ziele der Einzelträger der großen Gesamthandlung hinausreichte. Und nichts anderes war das Ziel und schließlich das Ergebnis, als das Rad des Geschehens vom Kantianismus nach dem Platonismus hin umzudrehen. Gegen Ernst Cassirer gewendet, ließe sich dieser bedeutsame Prozeß vielleicht charakterisieren als die Entthronung des Funktionsbegriffs zugunsten des seit Kant entthronten Substanzbegriffs. Oder anders ausgedrückt: Es war eine Schilderhebung der Ontologie gegen die Logik, die hier, man kann sagen wider Willen der Beteiligten, begann.

Zwei Denker aber stehen in diesem Ringen um das Objekt in der Logik gleichsam als repräsentative Gestalten im Vordergrunde. Ich meine Emil Lask: und Nicolai Hartmann: Der erstere weniger merkwürdig nach seinen Resultaten, sondern eher deshalb gerade interessant, weil er unentschlossen und unsicher zwischen den beiden großen Möglichkeiten »Platon« und »Kant« dauernd hin- und herschwankte, ja sich geradezu aufrieb in diesem steten Sichlosringen von Kant und doch von ihm Nichtloskönnen; Nicolai Hartmann dagegen mit seinem epochemachenden Werk »Die Metaphysik der Erkenntnis« (Berlin 1921), der Mann der längst erwarteten annähernden Erfüllung. Es ist hier nicht der Ort, bis ins einzelne bei Lask oder Hartmann Negatives und Positives zu sichten. Lask hat den hochbedeutsamen Unterschied zwischen einer ungekünstelten Ursphäre und einer gekünstelten sekundären Sphäre des Denkens wieder eingeführt. Das ist die wichtigste Unterscheidung, die seit langem in dem von Cohen ab geradezu einfarbig gewordenen Begriff des Denkens gemacht worden ist. Damit aber wurde, vielleicht sogar in einem übertriebenen Maße, die freischöpferische Aktivität des Denkens in eine höhere Sphäre hinaufgerückt und das Tor der Ontologie geöffnet. Es war eine Erkenntnis instinktiver Natur, wenn dieser Neukantianer sich mehr und mehr an die Antike, etwa an Aristoteles und Plotin annäherte, ja sogar die vielverkannte Lehre von den sogenannten Transzendentien des Mittelalters wieder auf ihren tieferen Sinn zu prüfen unternahm. Es gibt kaum ein Werk des Neukantianismus, in dem man das Ringen um eine objektive Kategorienlehre in seinen qualvollen Stadien besser verfolgen könnte als in dem Buche von Emil Lask über »Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre« (Tübingen 1911). Und ein Gleiches gilt von seinem vielleicht noch tiefer dringenden Buche »Die Lehre vom Urteil« (Tübingen 1912). Es ist zwar richtig, was die Kritiker sagen: Lask hat, trotz noch so tiefer Bohrarbeit den vollen Durchbruch zum Objekt nicht erreicht. Aber eben deshalb werden gerade die Bücher dieses so ernst um die Sache selbst ringenden Denkers, der von Kant loskommen wollte und doch wie durch ein Verhängnis an ihn gebunden blieb, in Zukunft einmal lehrreicher sein als alle übrigen Werke des Neukantianismus. Denn nirgendwo sonst läßt sich die furchtbare Qual des Kampfes zwischen Subjekt und Objekt deutlicher ablesen als an der auf- und absteigenden Skala seines Ringens um den tieferen Sinn des Kantischen Vermächtnisses.

Was bei Lask aber nur ein Prozeß der Selbstzersetzung innerhalb des Kantianismus genannt werden kann, das wird bei Nicolai Hartmann zur vollendeten Katastrophe, ja zu einer glänzenden Überwindung des modernen subjektivistischen Systems. In seinem Werke ist der Bruch mit Kant und mit allen Spielarten des Kantianismus fast völlig vollzogen. Und Hartmann geht noch weiter. Er benützt geradezu die wertvollen Ergebnisse der tiefdringenden Analysen des Neukantianismus, um nicht bloß die Erkenntnistheorie, sondern die Philosophie überhaupt auf eine neue Basis, auf die Basis des Seins, zu stellen. So wirkt er denn gar nicht mehr eigentlich abreißend und zerstörend, sondern aufbauend und synthetisch. Die lange genug geübte scharfe Analyse von Psychologie, Logik, Phänomenologie führt bei ihm zu einer wirklichen Metaphysik der Erkenntnis, hinter der die Gesamtmetaphysik ihre ersten scharfen Grundrisse abzeichnet. Und so entsteht ihm denn eine mehrfach gespaltene und doch zur Einheit verbundene Kategorienlehre des Objekts. Es entsteht eine Prinzipienlehre des Erkennens und des »Gegenstandes der Erkenntnis«. Beide aber ruhen auf einer allgemeinen Kategorienlehre des Seins überhaupt und seiner verschiedenen Arten. Der Gegensatz von Aktivität und Passivität wird in dieser Metaphysik der Erkenntnis so vorsichtig wie möglich nach bei den Seiten hin geprüft und abgewogen. Immer steht das »sozein tà phainómena« [das Retten der Phänomene] als Leitspruch über dem Ganzen. Im Grunde aber ergibt sich für Hartmann ein starkes Plus von Passivität im Prozeß der Erkenntnis: überall tritt auch für die Logik, die als Geistlehre nur ein Abglanz sein kann einer primär-schöpferischen und ontologischen Schicht, die Irrationalität der Prinzipien hervor. Das aber ist das genaue Gegenspiel zu dem herrischen Erzeugungscharakter der »Logik des Ursprungs« im System Hermann Cohens. Und so bedeutet denn dieses Werk Hartmanns in dem langen Prozeß einer Rückgewinnung des Objekts innerhalb der »Schulphilosophie« die entscheidende Niederlage des Kantianismus.

III.

Wenn sich nun auch hieraus ergibt, daß die Philosophie sogar ihrem »Schulbegriff« nach, d. h. in ihrer sogenannten wissenschaftlichen und einseitig vom Kantianismus beeinflußten Form sich gezwungen sah, die Bahn zum Objekt von neuem zu beschreiten, so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß sie auch so sich noch nicht völlig von einer gewissen Ichzentriertheit befreit hat. Sie wird ja als solche wissenschaftliche Philosophie noch ausschließlich in den reinen Formen des Denkens festgehalten und wagt es nicht, auf diese ganz besondere Seinssphäre beschränkt, durch den Ring der Logik zur Realität des gesamten Seins vorzustoßen. Sie ist deshalb auch in dieser Form nur eine Angelegenheit des Kopfes und nicht des ganzen Menschen. Ein Zeichen dafür ist schon ihre stolze Geistesaristokratie, mit der sie sich vom Volke wegwendet, um ihr Verständnis bloß in ihren eigenen Kreisen zu suchen. Sie ist (ein anderer Fall des l'art pour l'art) bloß »eine Philosophie für die Philosophie«, und nicht einmal der engere Volkskreis der Gebildeten hat ein Interesse, geschweige denn praktischen Anteil an ihr. Nun ist es keineswegs ein günstiges Vorzeichen für eine Philosophie, wenn sie vom Volke gemieden wird und wenn sie sogar selbst das »odi profanum vulgus« auf ihre Fahne schreibt. Die Schätze des von Hegel so genannten »absoluten Geistes« sind keineswegs bloß dafür da, in Schaukästen für feinere Genießer aufbewahrt zu werden. Gewiß möchte man ja die Religion, das eine dieser drei großen Güter des absoluten Geistes, dem Volke gern überlassen. Die Kunst aber, und namentlich die Philosophie, hat man oft genug fälschlich als einen Ersatz für die Religion gewissen Ausnahmegeistern vorbehalten wissen wollen. Mir scheint aber, daß genau so wie die Religion auch die Kunst und die Philosophie als geistige Gesamtgüter zu betrachten sind. Auch dem einfachsten Mann hat eine Kantate Bachs oder die »Missa solemnis« Beethovens etwas zu sagen. Das aber muß auch für die Philosophie gelten. Und es gilt auch für sie, wenn sie eben wirklich Philosophie ist. Sokrates und Platon verstanden sie so, vielfach auch die französischen und englischen Klassiker des Denkens. Erst seit Kant ward es üblich, ihren »Schulbegriff« von ihrem »Weltbegriff« zu trennen. Deshalb ward sie denn auch einsam auf ihrem Katheder, und das Volk erkannte sie nicht mehr als bedeutsam an für sein Leben. Es war das die Strafe für ihre Objektentfremdung.

In der Tat ging nun aber neben dem Neukantianismus dauernd eine Philosophie einher, die diesen Fehler zu vermeiden suchte. Sie erblühte fast immer abseits von den Lehrstühlen; sie erstand irgendwo in der Einsamkeit eines grübelnden Geistes, der im Leben darin stand und an den Problemen des Lebens schwer zu tragen hatte. Wo aber Philosophie so unmittelbar aus dem Mysterium des Lebens selbst entstand, da mußte sie auch die Objektnähe des Lebens offenbaren. Sie mußte den Kreis des Lebens selbst prüfend abschreiten, weil sie aus innerer Lebensnot hervorgetrieben wurde.

Man kann daher diese ganze Reihe der verschiedenen Systeme, die abseits von der Schule entstanden, unter dem gemeinsamen Namen einer Philosophie des Lebens zusammenfassen. Neben der ihnen gemeinsamen Art des Ursprungs aus dem Leben haben sie nämlich auch den Grundzug gemeinsam, daß der Begriff des Lebens, so vieldeutig er auch sein mag, für sie fast immer einen gewissen Mittelpunkt der Systematik ausmacht. Überall fragt man in diesen Systemen nach den letzten Prinzipien der ungeheuren beglückenden oder beängstigenden Bewegtheit, in der wir alle stehen. Ich will nur einige dieser Denker hier nennen, um die herum sich die besonderen Gedankenmassen dieser ganzen Richtung deutlicher oder weniger deutlich konzentrieren. Es sind etwa Geister wie Nietzsche und Bergson, Dilthey, Simmel und Troeltsch, vielleicht auch Rudolf Eucken; neuerdings dann vor allem Eduard Spranger, Theodor Lessing, Theodor Litt, und an letzter Stelle Oswald Spengler, das Wunder- und Schreckenskind unter den Philosophen dieser Art. Wer allerdings etwas genauer zusieht, muß bemerken, wie allmählich auch Vertreter der Schulphilosophie sich diesem Kreise annähern, woraus dann der Vorteil entspringt, daß die Probleme sich bei ihnen vertiefen und die Lösungen sich abklären. Die Schule Husserls vor allem hat mit ihrer Methode der Phänomenologie, sobald sie über den bloßen Methodenstreit einmal hinaus- und »ad res« voranging, diese Annäherung möglich gemacht. Am bedeutsamsten aber tritt unter diesen Phänomenologen Max Scheler in den Vordergrund, und man muß es bekennen, mit einer solchen Meisterschaft zuweilen, daß er allmählich eine Art Führerrolle in der heutigen Philosophie an sich zu reißen scheint.

Was nun aber die Lebensphilosophie von Nietzsche bis zu Spengler hin als eine gewisse einheitliche Denkrichtung erscheinen läßt, das ist auf der einen Seite ihre mehr oder weniger deutliche Abwehrstellung gegen den Kantianismus, wie überhaupt gegen alle bloße Formphilosophie; auf der anderen Seite ihre Sehnsucht, alle Seiten des Lebens zu umspannen und vor allem der Dynamik des Lebens von innen her nahezukommen. Aber wie die Vertreter dieser Richtung von einer stärkeren inneren Bewegtheit ihres persönlichen Seins auf das Bewegungsrätsel des Lebens hingewiesen werden, so bleiben sie auch fast alle im Relativismus stecken.

Ihre Polemik gegen den Kantianismus, die bei Nietzsche und Bergson am lautesten erklingt, aber bei allen hörbar ist, bei Spengler vor allem wieder ganz aufdringlich laut wird, richtet sich gegen die Auffassung, daß die Philosophie bloße Wissenschaft sei. Und in der Tat haben diese Denker einen besonders feinen Instinkt, um die Blößen und Schwächen der objektfremden Schulphilosophie überall zu wittern. Ihre stärkere dynamische Natur treibt sie in diese fast revolutionäre Opposition gegen die Schulphilosophie, die jene nüchterne Herrschaft des bloßen Begriffs, der scharfsinnigen Analyse und des diskursiven Verfahrens für allein berechtigt erklären möchte. Nicht bloße Wissenschaft soll ihnen die Philosophie sein, Wissenschaft, die das Leben tötet, um es auf das Streckbett ihrer Begriffe spannen zu können. Sie begehren Teilhaber des Lebens zu sein und sie fühlen sich von vornherein als diese Teilhaber, als dionysische Verwandte der dionysischen Kräfte des Seins. So drängen sie denn vom bloßen Begriff fort zu den realen Kategorien: sie denken in der Kategorie der Substanz. Deshalb ist ihnen denn auch statt der statischen Ruhe der Begriffe, die den Gegenstand der Schulphilosophie bildet, die Dynamik des Inhalts die Hauptsache. Bei Nietzsche setzt diese Lebensmetaphysik sofort mit dem klassischen Gegensatz von Apollo und Dionysos ein. Sie wird fortgeführt von Bergson mit der Polarität von Intellekt und Instinkt und mit solchen Hauptbegriffen wie »élan vital« und »évolution créatrice«, Ernst Troeltsch und Georg Simmel gehen auf ihre Weise in diesem Problemkreis weiter. Dabei sinnt Troeltsch mehr über den mystischen göttlichen Einfluß der Gnade, der aus metaphysischen Tiefen kommt, während Simmel das Leben mehr als ein tragisches Spiel mit sich selbst in seinem Kampf zwischen Kraft und Form betrachtet. Ihn faszinierte die tragische Selbstbegrenzung der Lebenskraft. Theodor Lessing treibt diese tragische Kulturphilosophie geradezu bis zu der grotesken Pointe »der verfluchten Kultur«. Bei Dilthey und Eduard Spranger steigt eine großzügige allgemeine intuitive Psychologie »der Lebensformen« herauf. Theodor Litt nimmt die Anregungen von Simmel, Troeltsch, Dilthey, Spranger und Toennies auf, um vorsichtiger als sie alle das Problem von »Individuum und Gemeinschaft« in seiner metaphysischen Tiefe zu ergründen. Ganz am Schlusse aber tritt dann Spengler wie ein trunkener Alkibiades, verwegen und genial, unter diese Schar, Nietzsche in dionysischer Lebenssehnsucht am meisten verwandt. Mit einer unheimlichen »Überbewußtheit« paart sich in ihm eine manchmal ganz naive Gestaltungslust, die mit Analogien leichtfertig und doch packend zwischen den fremdesten Dingen des Lebens hin- und herspielt. Der Extensität nach hat er den Durchbruch zur Realität am weitesten getrieben.

Nun muß von vornherein zugegeben werden (worauf wortreiche Kritiker, die nur nichts Neues »machen« können, so gern hinweisen!), daß dieser Vorstoß zum Objekt von seiten der Lebensphilosophen, inhaltlich betrachtet, keineswegs befriedigen kann. Wird er doch fast ausschließlich von stark expressionistisch gesinnten Naturen unternommen, denen die innere geistige Disziplin fehlt. Das läßt sich sogar für Simmel und andere aufrechterhalten, und nur der ganz vorsichtige und fast zu ängstlich abwägende Theodor Litt ist davon auszunehmen.

Es wäre indessen völlig falsch, wenn man auch die historische Bedeutung im allgemeinen Fortgang des Geistesprozesses diesen Denkern abstreiten wollte. Wo etwas Neues zum Durchbruch kommen soll, da läßt die Natur, verschwenderisch wie sie nun einmal ist, die Kräfte meist nach einer Seite hin über alle Wehren und Dämme hinweg brausen, und nur so kommt dann die Menschheit vom Fleck. “Man kann zum Vorteile der Regeln viel sagen”, betont Goethe einmal im Werther, “ungefähr was man zum Lobe der bürgerlichen Gesellschaft sagen kann. Ein Mensch, der sich nach ihnen bildet, wird nie etwas Abgeschmacktes und Schlechtes hervorbringen, wie einer, der sich durch Gesetze und Wohlstand modeln läßt, nie ein unerträglicher Nachbar, nie ein merkwürdiger Bösewicht werden kann; dagegen wird aber auch alle Regel, man rede, was man wolle, das wahre Gefühl von Natur und den wahren Ausdruck derselben zerstören! Sagst du, das ist zu hart! Sie schränkt nur ein, beschneidet die geilen Reben usw, - Guter Freund, soll ich dir ein Gleichnis geben? Es ist damit, wie mit der Liebe. Ein junges Herz hängt ganz an einem Mädchen, bringt alle Stunden des Tages bei ihr zu, verschwendet all' seine Kräfte, all' sein Vermögen, um ihr jeden Augenblick auszudrücken, daß er sich ganz ihr hingibt. Und da käme ein Philister, ein Mann, der in einem öffentlichen Amte steht, und sagte zu ihm: Feiner junger Herr! Lieben ist menschlich, nur müßt ihr menschlich lieben! Teilet eure Stunden ein, die einen zur Arbeit, und die Erholungsstunden widmet eurem Mädchen. Berechnet euer Vermögen, und was euch von eurer Notdurft übrigbleibt, davon verwehr' ich euch nicht, ihr ein Geschenk, nur nicht zu oft, zu machen, etwa zu ihrem Geburts- und Namenstage usw, - Folgt der Mensch, so gibt's einen brauchbaren jungen Menschen, und ich will jedem Fürsten raten, ihn in ein Kollegium zu setzen; nur mit seiner Liebe ist's am Ende, und wenn er ein Künstler ist, mit seiner Kunst. o meine Freunde! Warum der Strom des Genies so selten ausbricht, so selten in hohen Fluten hereinbraust und eure staunende Seele erschüttert? - Liebe Freunde, da wohnen die gelassenen Herren auf beiden Seiten des Ufers, denen ihre Gartenhäuschen, Tulpenbeete und Krautfelder zugrunde gehen würden, die daher in Zeiten mit Dämmen und Ableiten der künftig drohenden Gefahr abzuwehren wissen.” Diese Worte Goethes möchte ich allen allzu eilfertigen und wortreichen - nicht den ernsten - Kritikern Nietzsches und Spenglers ins Stammbuch eingetragen wissen, allen, die es noch nicht begriffen haben, daß Nietzsehe und Spengler die Sturmwinde waren, die in den Hafen brausen mußten, wo so viele ihr Schiff befriedigt vor Anker gelegt hatten.

Erst wer sowohl die neukantische Schulphilosophie als auch die Lebensphilosophie gerecht gegeneinander abwägt, kann erkennen, wie abhängig sie voneinander sind, wie notwendig sie sich gegenseitig hervortreiben mußten und wie erst in ihrer Resultante der Weg zum Objekt vollauf gefunden werden kann. Die logischen Spekulationen des Neukantianismus z. B. trieben zwar auf eine absolute Sphäre zu, aber es war eine Absolutsphäre ohne metaphysische Realität, ohne einen ontologischen Gehalt. Diese verdünnte Begriffsschicht aber trieb gerade ihre Gegner zur Dynamik des Seins, in der ihnen dann allerdings die Absolutheit verborgen blieb, weil sie überall nur endlose, nie rastende Bewegtheit sahen. So traten also bloß zwei völlig einseitig geschaute Provinzen des Seins in das Blickfeld der beiden Denkergruppen. Die einen klammerten sich in Anlehnung an die Autorität Kants an eine metaphysisch völlig entleerte Begriffswelt freischwebender Art; die anderen behielten nur eine inhaltlich bewegte immanente Lebenssphäre zurück. Aber es fehlte der Bezug zwischen beiden. Der Sinn für das platonische Problem der »Methexis«, der Verbindung und Einheit der verschiedenen Welten, war verlorengegangen. Die wahre Realphilosophie aber entsteht erst durch die sorgfältig alles gegeneinander abwägende Prüfung aller Seinssphären. Erst in der Harmonie zwischen heraklitischer und eleatischer Lehre wird die Schlichtung des Streites zwischen Subjekt und Objekt möglich, wofür Platon stets ein klassischer Zeuge bleiben wird. Mit Recht sagt Goethe einmal in den Wanderjahren: “Der Philosoph, der sich in die Mitte stellt, muß alles Höhere zu sich herab, alles Niedere zu sich heraufziehen, und nur in diesem Mittelzustand verdient er den Namen des Weisen.” Damit kommen wir denn wieder auf die klassische Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt zurück, die, wie wir betonten, auch in der Philosophie ihre Geltung hat, und zwar nicht bloß in der Erkenntnistheorie für die Abwägung zwischen Aktivität und Passivität im Denken, sondern erst recht in der Realphilosophie, die sich die Schau aller Seinssphären und ihr Verhältnis zueinander und zu ihrem absoluten Pol zum Ziel setzt. Was der Mensch sei innerhalb der gesamten Ordnung des Seins, wie er sich seinem Wesen nach verhalte zur Natur unter ihm und zu Gott über ihm, ferner, was er auf Grund dieser allgemeinen Ordnung der Dinge zu tun habe, um die Aufgabe seiner Natur, d. h. die Mission der wahren Humanität zu erfüllen, das allein ist und bleibt der ewige und ideale Inhalt jeder großen Philosophie, ein Inhalt, der ab und zu annähernd erreicht, öfters verfehlt und nie völlig in Begriffen realisiert wird.

An diesem Punkte aber, wo die logische Spekulation der Gegenwart und die ihr feindliche Lebensphilosophie sich gegenseitig fordern und nach einer Ergänzung verlangen, scheint mir gerade die Stelle zu sein, wo die Phänomenologie (nach Abstreifung des kantischen Elementes in ihr), und zwar hauptsächlich in der überragenden Gestalt Max Schelers den Ring zu schließen beginnt. Ich weiß genau, wie umstritten die Persönlichkeit Schelers ist und wie umstritten auch sein Werk. Und doch kann ich mir nicht helfen. Ich muß offen bekennen, daß in der einen Abhandlung wenigstens Vom Wesen der Philosophie, die im ersten Bande des Werkes Vom Ewigen im Menschen steht, ein gewisser letzter Gipfel in der heutigen Bewegung der Philosophie, in ihrer Losbewegung von Kant weg und in ihrer Hinbewegung auf Platon erstiegen scheint. In dieser Abhandlung haben wir einen Durchblick durch das Gesamtreich der verschiedenen Seinsordnungen von höchster und letzter Intuition, und ein gewisser Ruhepunkt ist erreicht, von dem aus der Weg eher abwärts als noch weiter aufwärts führen kann. Wenn ich daneben noch etwas anderes nennen soll, was mehr von der Logik her zu solchen Gipfeln führt, dann wäre es die kleine und unscheinbare Schrift von B. W. Switalski Zur Analyse des Subjektsbegriffes, die leider an völlig ungeeigneter Stelle (Programm der Akademie Braunsberg, 1914) veröffentlicht worden und daher unter den Tisch gefallen ist.

Mit allem diesem sind freilich nur die ersten Ansätze zu einer weiter auszubauenden objektiven Philosophie gegeben. Ob die Zeit, die noch in voller Gärung ist, die Möglichkeit und die Gewähr dafür bietet, daß in irgendeinem genialen Werk wieder einmal eine klassische Vollendung, eine reife Frucht langer Problementwicklung uns geschenkt wird, das ist freilich eine Frage, die weder menschliches Wissen noch menschlicher Wille allein entscheiden kann. In diesen letzten Dingen müssen sich menschliches Wollen und göttliche Gnade glücklich begegnen.


Eine Chance für die Metaphysik

„Der Grundsatz ‚Gib einer Metaphysik eine ernsthafte und das heißt eine Chance über einen längeren Zeitraum, uns ihre welterschließende Kraft auch erfahren zu lassen‘ ist nicht dogmatisch, sondern letztlich klug und erfahrungsgesättigt.“

Der Philosoph Holm Tetens, ein ehemaliger Naturalist, der jetzt die Möglichkeit von Metaphysik verteidigt, in: Zur Erkenntnistheorie des religiöse Gottesglaubens, in: Information Philosophie 1/2018, S. 8-16, hier 14.


Recktenwald: Das Gewissen zwischen Vision und Illusion


Der Herr ist mein Heil

Der Psalm 26 lehrt uns, dass wir nichts zu fürchten brauchen. Dürfen wir uns deshalb in absoluter Sicherheit wähnen? Darüber denke ich in dieser Predigt nach und erinnere u.a. an das Zeugnis des saarländischen Philosophen Peter Wust.

Recktenwald-Predigten · 4. So. nach Pfingsten: Der Herr ist mein Heil..

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