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Die menschliche Handlung

Von P. Engelbert Recktenwald

Der hl. Thomas von Aquin lehrt, dass der Mensch kraft seines Willens Herr über seine Handlungen ist. “Herr sein” bedeutet: Der Mensch entscheidet, welche Handlungen er vollzieht. Er ist für seine Handlungen verantwortlich, und deshalb ist der Mensch ein moralisches Wesen.

Durch die Handlungsfähigkeit unterscheidet er sich vom Tier. Das Tier ist nicht Herr über sein Verhalten. Es wird von seinem Instinkt getrieben. Wenn die Katze Hunger hat und eine Maus sieht, gibt es in ihr aufgrund ihres Instinkts eine Kettenreaktion. Sie verhält sich, wie sie sich aufgrund ihres Instinkts verhalten muss. Sie hat keine Wahl.

Beim Menschen ist es nicht so. Zwischen Wahrnehmung und Handlung tritt etwas dazwischen, nämlich der freie Entschluss. Wenn er Hunger hat und etwas Leckeres sieht, kommt es nicht automatisch zu einer Kettenreaktion, an deren Ende eine Triebhandlung steht, sondern dazwischen kommt die Entscheidung, ob er dem Trieb nachgibt oder nicht. Er kann sich z.B. sagen: Wie gerne würde ich das jetzt essen, aber es gehört mir nicht.

Der Mensch ist für seine Handlungen verantwortlich, weil ihnen ein freier Willensentschluss vorausgeht. Verantwortlichkeit setzt Freiheit voraus.

Dieser freie Entschluss ist seinerseits natürlich motiviert. Er hat seine Gründe. Der Mensch kann sich dazu entscheiden, sich gehen zu lassen und dem Trieb nachzugeben. Er sagt sich z.B.: Zwar gehören mir diese Kirschen nicht, aber das ist mir jetzt egal, ich esse sie trotzdem. In diesem Fall ist der Trieb der Grund seines Handelns. Er ist es aber nur deshalb, weil der Mensch es zugelassen hat. Es ist der Mensch, der es dem Trieb erlaubt, Motiv seiner Handlung zu sein. Der Trieb ist es nicht von selber, sondern aufgrund einer bewussten Entscheidung des Menschen. Wenn sich der Mensch dagegen sagt: Ich habe zwar große Lust auf diese Kirschen, aber ich beherrsche mich und esse sie nicht, weil ich keinen Diebstahl begehen will, dann handelt er aus Vernunft. Er gibt seiner sittlichen Einsicht den Vorrang gegenüber der Triebbefriedigung. Er handelt moralisch.

Man kann also in dieser Beziehung grundsätzlich zwei Typen von Menschen unterscheiden: Jene, die moralisch handeln, und jene, die ihrem Trieb nachgeben. Das eine sind Triebmenschen, das andere moralische Menschen. Für die einen zählt nur, was für sie subjektiv befriedigend ist. Für die anderen ist entscheidend, ob das, was sie tun, moralisch gut oder zumindest erlaubt ist. Die einen folgen ihrem Trieb, die anderen ihrem Gewissen; die einen handeln triebhaft, die anderen gewissenhaft; die einen handeln aus Vernunft, die anderen aus Lust und Leidenschaft.

Selten gibt es die beiden Typen in Reinform. Man kann allgemein sagen: Die sittliche Reife eines Menschen bemisst sich nach dem Maß der Herrschaft der Vernunft über seine Triebnatur. Diese Herrschaft besteht nicht darin, die Leidenschaften auszurotten, sondern zu ordnen und dem Tun des Guten gemäß der Vernunft dienstbar zu machen. Dass die Moralität in der Vernunftgemäßheit menschlichen Verhaltens besteht, ist eine Überzeugung, die die christliche Theologie mit den großen Philosophen von Aristoteles bis Kant teilt.

Leicht ist nun erkennbar, wie schnell der Gewissensbegriff missbraucht werden kann, wenn man sich bei einer Triebhandlung auf sein Gewissen beruft. Der Lehre von der natürlichen Empfängnisregelung etwa verlangt von einem Ehepaar zeitweise Enthaltsamkeit, also die Anstrengung, seinen Geschlechtstrieb zu beherrschen, den Verzicht auf Triebbefriedigung aus Gewissensgründen. Die Pille erlaubt eine ungehemmte Triebbefriedigung, also das Gegenteil dessen, was von einem moralischen Menschen erwartet wird. Diese ungehemmte Triebbefriedigung zu einer Gewissensentscheidung zu machen, bedeutet die Vereinnahmung des Gewissensbegriffs für eine Entscheidung zur Entthronung des Gewissens zugunsten der Triebherrschaft.

So wichtig die Unterscheidung zwischen Triebverhalten und moralischem Verhalten auch ist: Die Grenzlinie zwischen moralischen und unmoralischen Handlungen ist damit noch nicht hinreichend geklärt. Die Sache ist etwas komplizierter.

Nehmen wir einmal an, der Mensch aus unserem Anfangsbeispiel würde sich sagen: Ich esse diese Kirschen, auf die ich so große Lust habe, nicht, und zwar deshalb, weil ich dabei erwischt werden könnte. In diesem Fall widersteht er dem Trieb, und trotzdem ist sein Verhalten nicht moralisch. Er widersteht ihm bloß, weil er einen möglichen Schaden für sich voraussieht. Er handelt nicht aus Gewissenhaftigkeit, sondern aus egoistischer Klugheit. Er beherrscht sich nicht, weil es ihm um das moralisch Gute geht, sondern weil er mit seiner Vernunft erkennt, dass sein Handeln ihm schaden könnte.

Zu sagen, er handle aus Vernunft, wäre eine berechtigte Sprechweise, aber wir sehen sofort, dass wir nun zwei verschiedene Vernunftbegriffe unterscheiden müssen: einen Vernunftbegriff, der das Moralische einschließt, und einen, der es ausschließt. Für Letzteren haben sich verschiedene Namen gefunden; heute spricht man z.B. von technologischer oder instrumenteller Vernunft (Horkheimer): Bei dieser geht es um das Handeln, insofern es geeignet ist, bestimmte Ziele zu erreichen, nicht aber um das Beurteilen dieser Ziele unter moralischem Gesichtspunkt. Wenn Kant und die Scholastik von praktischer Vernunft sprechen, ist die moralische Vernunft gemeint, weil für sie das menschliche Handeln immer unter dem Anspruch des Moralischen steht.

Die Berufung auf das Gewissen ist also nur dann legitim, wenn sie nicht den Abbruch vernünftiger Rechtfertigung des eigenen Handelns bedeutet, sondern im Gegenteil das Handeln als vernunftgemäß auszuweisen vermag. Das aber ist nur möglich, wenn das Gewissen als ein Teilvermögen der Vernunft anerkannt wird, und zwar als jener Teil, der es mit dem moralisch Guten und Bösen zu tun hat. Vernunft ist das Erkenntnisvermögen des Menschen. Das Gewissen ist jener Teil der Vernunft, der uns Erkenntnis schenkt über den moralischen Wert oder Unwert von Handlungen. Es ist also nicht blind, sondern ein Erkenntnisorgan, das uns in Kontakt bringt zu einer Wirklichkeit, zur Wirklichkeit der Werte.

Das zu verstehen ist heute deshalb wichtig, weil Naturalisten wie Dawkins dem Gewissen jeden Erkenntnischarakter absprechen und es für einen blinden Trieb wie etwa den Sexualtrieb halten. Gut und Böse seien demnach nicht Teil der Wirklichkeit, mit der wir durch das Gewissen in Kontakt kommen, sondern evolutionär bedingte Fiktionen unserer Gene. Das Gewissen öffne uns nicht die Augen für die Wirklichkeit der Werte, sondern sitze uns im Rücken, um uns wie jeder andere Trieb blind zu dem anzutreiben, was uns von unseren Genen als moralisch gut vorgegaukelt werde Mittels dieser Fiktionen seien wir evolutionär zu einem Verhalten dressiert, das dem Überlebensvorteil der Gene statt dem des einzelnen Individuums diene. Altruistisches Verhalten des Einzelnen sei deshalb nur verkappter Egoismus der Gene.

Auf diesem Hintergrund können wir verstehen, warum es Benedikt XVI. ein so großes Anliegen war, den Vernunftbegriff wieder so zu erweitern, dass auch die praktische Vernunft darunter fällt. Selbst Kant wusste noch, dass die praktische Vernunft ein und dieselbe ist, nicht nur für alle Menschen aller Zeiten und Kulturen, sondern sogar für alle möglichen Vernunftwesen überhaupt. Die Rehabilitierung dieses Vernunftbegriffs ist die Voraussetzung, um der Diktatur des Relativismus zu widerstehen.

Noch einen Schritt weiter als der ethische Naturalismus geht der Neurobiologismus, der den Willen zu einem Produkt der Gehirnprozesse erklärt. Wolf Singer etwa findet nach eigenem Bekenntnis in den Gehirnen nirgends einen freien Willen, Wolfgang Prinz hält Handlungsentscheidungen für das Ergebnis subpersonaler Prozesse, die bloß nachträglich personalistisch interpretiert werden, und der Verhaltensphysiologe Gerhard Roth bringt es auf den Punkt, indem er kurz und bündig erklärt, das Ich sei “nicht der Herr im Hause.” Damit haben wir die exakte Gegenposition zu Thomas von Aquin erreicht. Aus dem Menschen, der Herr über seine Handlungen ist, wird eine Maschine, deren Verhalten durch blinde Naturprozesse gesteuert wird. Hier sehen wir, wie das Verständnis der menschlichen Handlung zum Scheidepunkt für das Menschenbild überhaupt wird. Zunächst wird die Moralität der menschlichen Handlung geleugnet, dann Verantwortlichkeit und Freiheit, aus der Leugnung der Willensfreiheit ergibt sich die Leugnung des Willens selber, und im letzten Schritt fällt mit dem Willen auch das Ich und die Vernunft des Menschen. Aus der menschlichen Handlung wird ein blinder Naturprozess, und die Vernunft wird im Namen der Vernunft abgeschafft. Damit erweist sich der Naturalismus als selbstwidersprüchlich ähnlich dem Kantischen System: Ohne Vernunft gelangt man nicht in ihn hinein, mit der Vernunft kann man nicht in ihm bleiben.

Diesen Beitrag kann man auch hören.


Guter Ruf und gute Werke. Zur Frage der Handlungsmotive.


Autonomie: Ich will, was ich soll

Autonomie [bei Kant] meint keineswegs Willkür, sondern vernünftige Selbstverpflichtung auf gutes Handeln. Es kommt auf die vorausgehende Einsicht an: Das sittlich Gesollte muss als Gutes verstanden sein, dann vollzieht man es zustimmend, «von selbst» = autonom. In den «Kritiken» wird Autonomie theoretisch verstanden als «Selbstgesetzgebung der Vernunft» und praktisch-moralisch als «Selbstgesetzgebung des Willens». Einfacher: Ich tue, was gesollt ist = was ich als gut eingesehen habe. Oder anders: Ich soll wollen, was ich soll. Noch kürzer: Ich will, was ich soll. (Keineswegs: Ich soll, was ich will.) Autonomie ist die verwirklichte Freiheit des sittlich guten Willens bei Kant. Autonomie ist jedoch kein individueller moralischer Freispruch zum Handeln.

Aus: Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Gibt es doch einen «Gesetzgeber der Vernunft»?: Zum ambivalenten Gottesbegriff in Kants «Religionsschrift», in der Communio 53 (2024).

Zum Thema Autonomie


Gewissen: Vision oder Illusion?

Ein Podcast von mir über Kants Idee der Autonomie zwischen atheistischer und christlicher Ethik

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