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Wir suchen am falschen Ort

Über den paradoxen Sinn unseres Lebens, den wir gleichzeitig finden und verwirklichen müssen

Von P. Engelbert Recktenwald

I. Wofür es sich zu leben lohnt

“Und das Leben habe ich erst lieben gelernt, seit ich weiß, wofür ich lebe.”
So schrieb die hl. Edith Stein 1924 in einem Brief an Roman Ingarden, nachdem dieser verständnislos auf ihre Konversion zum katholischen Glauben reagiert hatte.

Mit diesem Bekenntnis drückt sie eine weit verbreitete Erfahrung aus: Unser Leben trägt seinen Sinn nicht von selber in sich selbst, sondern empfängt ihn von woanders her. Es muss ein Ziel geben, das unserem Leben Sinn, Wert und Bedeutung verleiht. Es muss etwas geben, wofür zu leben sich lohnt. Ob es das wirklich gibt, haben wir nicht in der Hand. Wir müssen es herausfinden.

Damit wird ein Grundzug der menschlichen Existenz sichtbar: Wir sind bedürftige Wesen. Im physischen Bereich ist das offensichtlich. Wir kommen als Wesen auf die Welt, die ganz und gar bedürftig sind und ohne fremde Hilfe nicht überleben könnten. Ein Baby kann sich nicht selber ernähren, sich nicht selber vor Kälte, Hitze, Gefahren jeder Art schützen. Wenn der Mensch heranwächst, überwindet er schrittweise diese Bedürftigkeit - aber nur bis zu einem gewissen Grad. Er kann sich zwar selber Nahrung verschaffen, bleibt aber weiter auf sie angewiesen. Er kann sich in der Welt einrichten, aber nicht ihren Bedingungen entfliehen. Der Spielraum seiner Selbstbestimmung innerhalb der Welt ist klein. An den Naturgesetzen kann er nicht das geringste ändern. Je größer sein Ehrgeiz ist, die Natur zu beherrschen, um so gewissenhafter muss er sie erforschen. Jeder Irrtum kann sich bitter rächen. Der Mensch bleibt ein bedürftiges Wesen: Er bedarf der Nahrung, der Luft zum Atmen, des Lichtes zum Sehen. Er ist in eine Wirklichkeit hineingeworfen, die ihm eiserne Bedingungen diktiert, von denen er sich nie emanzipieren kann. Er muss sich, ob er will oder nicht, mit ihr arrangieren.

Aber das gilt nicht nur für seinen Leib, sondern auch für seine Seele. Auch sie hat Bedürfnisse. Auch für sie gelten Gesetze, die man nicht ungestraft ignorieren kann. Wir sind nicht nur physisch, sondern auch metaphysisch bedürftig. Dazu gehört das Bedürfnis nach einem Sinn im Leben. Dieses Bedürfnis können wir nicht beliebig stillen, auch wenn der Philosoph Jean-Paul Sartre meinte, genau darin bestehe unsere Freiheit. Der Mensch habe keine vorgegebene Natur, sondern sei nur das, wozu er sich in Freiheit mache. Er könne folglich selber entscheiden, was seinem Leben Sinn gäbe. Das ist letztlich so absurd wie die Vorstellung, der Mensch könne selber bestimmen, welche Pilze für ihn giftig seien und welche nicht.

Dagegen lautete die Erkenntnis der hl. Edith Stein: Der Mensch kann das, wofür es sich zu leben lohnt, nicht aus sich heraus autonom bestimmen, sondern muss es herausfinden. Der Psychiater Viktor Frankl drückt es so aus: “Das Leben ist kein Rorschach-Test, sondern ein Vexierbild. Der Sinn des Lebens kann nicht erfunden, sondern muß entdeckt werden.” Die Freiheit des Menschen besteht in der Fähigkeit zur Auswahl: Er kann wählen zwischen einer gewissen Anzahl vorgegebener möglicher Zwecke seines Handelns und Lebens, und alles kommt darauf an, jene Zwecke, für die es sich zu leben lohnt, von jenen zu unterscheiden, für die zu leben nur eine Verschwendung kostbarer Lebenszeit bedeutet.

II. Das Sinnparadox

“Immer erst, sobald man weiß, dass man auch andern etwas ist, fühlt man Sinn und Sendung der eigenen Existenz.”
Diese Aussage findet sich in Stefan Zweigs Roman Ungeduld des Herzens. Sie enthält ein Paradox. Normalerweise meinen wir den Sinn des Lebens in dem zu finden, was uns so viel bedeutet, dass es uns ganz und gar zufriedenstellt. Zweig kehrt dieses Verhältnis um. Es kommt darauf an, dass wir anderen etwas bedeuten. Im ersten Fall machen wir uns zum Maßstab für den Wert der Dinge, die uns begegnen. Im zweiten Fall suchen wir einen Maßstab für den Wert, den wir selber haben. Das setzt die Fähigkeit zur Selbstrelativierung voraus. Nicht wir sind das Maß aller Dinge, sondern etwas Anderes ist das Maß für uns. Selbstrelativierung bedeutet die Bereitschaft, einen Maßstab anzuerkennen, an dem wir selber gemessen werden und der den Wert unseres Lebens bestimmt. Erst wenn wir mit diesem Wert zufrieden sind, erkennen wir in unserem Leben einen Sinn. Es kommt nicht darauf an, etwas zu finden, mit dem wir zufrieden sind, weil es unseren Ansprüchen genügt, sondern so zu leben, dass wir mit uns selbst zufrieden sind, weil wir Ansprüchen genügen, die an uns gerichtet sind.

Frankl bringt es auf die Formel, dass wir die richtige Frage stellen sollen, nämlich nicht: Was erwarte ich vom Leben?, sondern: Was erwartet das Leben von mir? Doch was ist mit diesem Leben, das etwas von mir erwartet, gemeint? Bei Frankl, der hier als Psychotherapeut spricht, ist der Ausdruck “Leben” ein bloßer Platzhalter für eine Instanz, die je nach Weltanschauung eine andere ist. Bei Zweig ist es ein anderer Mensch, bei gläubigen Christen ist es Gott. Der Weg, den Zweig uns weist, ist nicht abwegig. Aber wir gelangen so nur zu einem vorläufigen Sinn, weil der Mensch, dem wir etwas bedeuten, ja seinerseits wiederum jemand ist, der den Sinn seines Lebens finden muss. Auf diesem Weg bleiben wir bei der Sinnsuche in etwas Relativem und Vergänglichem stecken. Natürlich kann zum Beispiel eine Mutter die Erfahrung machen, dass die Sorge für ihre Kinder ihrem Leben Sinn gibt. Was kann es, so sollte man denken, Sinnvolleres geben, als Menschen das Leben zu schenken und sie zu glücklichen Persönlichkeiten zu erziehen? Aber kommt es nicht vor, dass sich der Mutter, sobald die Kinder aus dem Haus sind, ein Gefühl der Leere bemächtigt, das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden? Wenn sie den ganzen Sinn ihres Lebens in die Bedeutung gesteckt hat, die sie für ihre Kinder hat, dann ist dieser Sinn nun aufgebraucht und verschwunden.

Außerdem gilt: Wenn der ganze Sinn unseres Lebens von der Bedeutung zehrt, die wir für einen anderen Menschen haben, dann begeben wir uns in eine gefährliche Abhängigkeit, die mit der Gleichheit der Menschen unvereinbar ist. Ist denn der Andere von größerem Wert als ich selber, wenn erst er meinem Leben Sinn verleiht? Doch muss der Satz Stefan Zweigs nicht unbedingt in diesem Sinne gelesen werden. Er kann auch so verstanden werden, dass die Erfahrung, anderen etwas zu bedeuten, bloß ein Indikator, nicht die Ursache für den Wert unseres Lebens ist. Wir erfahren: Unsere Existenz hat ein solches Gewicht, dass sie auch für Andere von Wert ist. Dabei geht es nicht bloß um einen Nutzwert, etwa um unsere nützliche Funktion im gesellschaftlichen Gefüge aufgrund unseres Berufes. Dass ein Arzt der Gesellschaft von Nutzen ist, kann zwar zur vermehrten Sinnerfahrung beitragen, trifft aber nicht den entscheidenden Punkt. Es geht nicht um unsere soziale Funktion, die jemandem nützt, sondern um unsere eigene Existenz, die jemandem von Bedeutung ist. Hier bedeutet “jemandem von Bedeutung sein”: von ihm geliebt werden. Dadurch erfahren wir uns als kostbar und liebenswert. Wir erfahren uns nicht nur als ein nützliches Werkzeug im Dienste fremder Interessen. Harry Frankfurt drückt es so aus: “Es muss gewisse Dinge geben, die wir um ihrer selbst willen schätzen und verfolgen” (Gründe der Liebe, S. 62). Wenn wir geliebt werden, erfahren wir, dass wir zu diesen “Dingen” gehören. Wir sind es wert, um unser selbst willen geliebt zu werden.

Der Egoist verdirbt sich die Möglichkeit zu dieser Erfahrung. Denn je egoistischer er sich verhält, um so schwerer macht er es Anderen, ihn zu lieben, um so weniger bekommt er liebendes Feedback und um so weniger macht er die Erfahrung der eigenen Liebenswürdigkeit. Je mehr er auf sich selbst aus ist, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um so weniger wird sein Bedürfnis nach Sinn befriedigt. Und umgekehrt: Je mehr der Mensch von sich selbst absieht und seine eigenen Bedürfnisse vergisst zugunsten der Liebe zum Anderen, um so mehr wird sein Sinnbedürfnis befriedigt. Wer sein Leben liebt, verliert es, wer es hasst, wird es erhalten zum ewigen Leben (Joh 12, 25). Die Fähigkeit zur Selbstrelativierung bedeutet die Fähigkeit zur Selbsttranszendenz. Wenn wir uns für das Wichtigste halten, bleiben wir arm. Wenn wir etwas Wichtigeres als uns selbst anerkennen, werden wir reich.

In höchstem Maße wird unser Sinnbedürfnis durch Gott befriedigt. Wenn wir Ihm etwas bedeuten, dann sagt das mehr über unseren Wert aus als alles, was wir uns sonst noch vorstellen können. In Gott haben wir einen ewigen, untrüglichen Maßstab. Er ist das absolut Gute in sich. Er ist allmächtig, souverän und bedarf keines Seins außerhalb seiner, um glücklich zu sein. Um so größer ist das Wunder, dass wir Ihm trotzdem etwas bedeuten können.

Wenn wir unseren Wert von der Wertschätzung eines anderen Menschen abhängig machen, ist er auf Sand gebaut, denn diese Wertschätzung kann schwanken und vergehen. Außerdem können wir nie wissen, ob sie unserem wahren Wert auch wirklich entspricht. Vielleicht hat der Andere ein falsches Bild von uns, sei es zum Besseren, sei es zum Schlechteren. Bei Gott ist das anders. Wir haben genau jenen Wert, den er uns beimisst. Das aber wiederum liegt nicht daran, dass Gott unseren Wert bloß richtig einschätzt, so als ob ihm dieser Wert vorgegeben wäre und es für ihn darauf ankomme, ihn richtig zu erkennen. Vielmehr erhalten wir erst durch seine Wertschätzung unseren Wert. Seine Wertschätzung ist wertschöpferisch. Nicht, weil wir Wert hätten, bedeuten wir Ihm etwas, sondern umgekehrt: Weil und indem wir Ihm etwas bedeuten, sind wir wertvoll. Seine Liebe zu uns ist wertstiftend. Es gibt keinen Wert unabhängig von Gott. Das wiederum darf umgekehrt nicht so verstanden werden, als ob wir an und für sich ohne Wert wären und uns der Wert von Gott einfach nur äußerlich angerechnet würde. Vielmehr ist die Totalität unseres Seins und Wertseins von Gott gestiftet und ununterbrochen innerlich von Gott durch das Durch-Ihn-Erkanntsein getragen.

Die Wertschöpferkraft Gottes geht so weit, dass er uns an ihr teilhaben lässt. Er befähigt uns, durch eigenes Wollen und Handeln unseren Wert zu steigern. Das geschieht durch die Liebe. Je mehr wir Gott lieben, um so wohlgefälliger werden wir Ihm. Unsere Liebe hat für ihn die höchste Bedeutung. Er sehnt sich nach ihr.

Deshalb liegt der höchste Sinn unseres Lebens in der Liebe. Gottes Liebe ist der Resonanzraum unserer Liebe, die dadurch allerhöchsten Wert bekommt. Gäbe es Gott nicht, dann könnte die Liebe unserem Leben niemals jenen Sinn verleihen, nach dem wir uns sehnen. Einerseits fühlen wir in jeder Tat aufrichtiger Liebe so etwas wie die Verheißung eines solchen Sinnes. Albert Camus hat diese Erkenntnis auf einzigartige Weise ausgedrückt: “Wer ein einziges Mal das Strahlen des Glücks auf dem Gesicht eines geliebten Menschen gesehen hat, weiß, dass es für einen Menschen keine andere Berufung geben kann, als dieses Leuchten auf den ihn umgebenden Gesichtern hervorzurufen” (Tagebuch 1942-1951). Andererseits wusste der Philosoph des Absurden, dass diese Berufung in einer Welt ohne Gott, die durch ihre Vergänglichkeit zur Sinnlosigkeit verurteilt ist, sofort wieder entwertet wird. Einzelne kleine Sinn-Inseln, die von einem riesigen Ozean der Sinnlosigkeit doch immer wieder überschwemmt werden, können uns nicht retten. Wenn es aber einen Gott gibt, dem unsere Liebe etwas bedeutet, dann wächst die Bedeutung der kleinsten Tat solcher Liebe sofort ins Unendliche.

Gott sagt zu uns: Du bedeutest mir so viel, dass ich für dich am Kreuz gestorben bin. Deshalb sagen wir zu Gott: Du bedeutest mir so viel, dass ich ganz für dich leben will. Durch diesen Entschluss erfüllen wir unser Leben mit einem Sinn, der den Tod überdauert.

Tatsächlich können wir Sinn in unserem Leben nicht nur finden, sondern auch verwirklichen. Aber wir können ihn nur verwirklichen, nachdem wir den Raum dieser Verwirklichung entdeckt haben, der uns durch die Liebe Gottes eröffnet ist. Wenn wir die Liebe Gottes erkennen, entdecken wir, was für einen Sinn unser Leben haben kann. Wenn wir Gott und den Nächsten lieben, hat es ihn tatsächlich.

Die Regisseurin Natalie Saracco durfte diese Wahrheit schauen, als sie bei einem Autounfall eine Begegnung mit Herzen Jesu hatte, die ihr Leben veränderte: “Der Roman über unser Leben soll eine Liebesgeschichte mit dem Herrn und mit unseren Brüdern und Schwestern werden. Darin besteht der ganze Sinn unserer Existenz. Liebe, Liebe, Liebe, alles andere sind nur literarische Worte” (Zurück aus dem Jenseits, Illertissen 2020, S. 33).

Diesen Text können Sie auch hören.


Freiheit bei Saskia Wendel

Die Theologin Saskia Wendel wendet sich in ihrem Buch "In Freiheit glauben" vehement gegen jede Art göttlicher Bevormundung und verteidigt mit Berufung auf Kant einen Freiheitsbegriff, der sich bei näherem Zusehen als erbärmliche Heteronomie (Fremdbestimmung) herausstellt. Das zeige ich in dieser Folge meines Podcasts.


Befreiung, die das Christentum bringt

In seinem Blick auf die Grunddogmen des christlichen Glaubens (Schöpfung und Erlösung) zeigt Chesterton, dass das Christentum eine echte „geistige Befreiung“ gebracht hat. Manche moderne Philosophie erscheint äußerlich wie ein Kunstwerk, während sie in Wirklichkeit einer denkerischen Verzweiflung entspringt, sofern ein Philosoph „nicht wirklich daran glaubt, dass es im Universum Sinn und Bedeutung gibt“ (ebd., 291). Der christliche Glaube hingegen bezeugt einen umfassenden Sinn der menschlichen Existenz und kann deshalb die Freude „zu etwas Gigantischem“ machen.

Aus: Josef Kreiml, Amüsant führt Chesterton ins Christentum ein.


Dangerous Traditions?

We see this approach not only in moral theology but also in liturgy. Sacred traditions that have served the Church well for hundreds of years are now portrayed as dangerous. So much focus on the horizontal pushes out the vertical, as if God is an experience rather than an ontological reality.
There is an implied understanding by the proponents of practical atheism that faith somehow limits the person. They take St. Irenaeus’ axiom – “the glory of God is man fully alive” – to mean the highest end of man is to be fully himself. This is true if we understand man as a creature made for God, but the practical atheists see God and his moral order as a limiting factor. Our happiness, according to this way of thinking, is found in being who we want to be, rather than conforming ourselves to God and his order. 

Aus: Robert Kardinal Sarah, The Catholic Church’s Enduring Answer to the Practical Atheism of Our Age, Rede vom 14. Juni 2024. Hier auch auf Video (ab min 9.48).


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