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Kant und die Bestimmung des Menschen

Von P. Engelbert Recktenwald

In vielen Zusammenhängen erfahren wir die Moral als eine Verbotsgrenze, als eine Einschränkung unserer Möglichkeiten. In der Wirtschaft etwa gebietet sie einem hemmungslosen Konkurrenzkampf, in Fragen der Karriere einem rücksichtslosen Erfolgsstreben Einhalt. Oder wir erleben sie als eine Spaßbremse. “Moral ist, wenn man so lebt, dass es gar keinen Spaß macht, so zu leben,” meint Edith Piaf.

Oder sie wird als ein Instrument der Repression hingestellt: “Moral ist weiter nichts als die Haltung, die wir Leuten gegenüber einnehmen, gegen die wir eine persönliche Abneigung haben”, meint Oscar Wilde in einem seiner vielen Aphorismen, die natürlich cum grano salis zu nehmen sind. Neben diesen mehr oder weniger saloppen Formen der Moralkritik, die eher auf den Missbrauch der Moral oder auf ihre Fehlformen zielen als auf die Moral selbst, gibt es in der Philosophie ernsthafte Formen ihrer Infragestellung. Seit Bernard Williams wird unter Philosophen diskutiert, was er “das Problem Gauguins” nennt. In Anlehnung an die Biographie Paul Gauguins schildert Williams den Fall eines Malers, der seine Familie im Stich lässt, um in die Südsee auszuwandern und dort seiner künstlerischen Berufung zu folgen. Ohne diesen Verrat an seinen moralischen Pflichten wäre er nicht der große Künstler geworden, der er war, und wäre die Welt um große Kunstwerke ärmer geblieben. Williams nimmt dies als Beleg für seine These, dass es Fälle geben kann, in denen die Ansprüche der Moral zurückgewiesen werden dürfen. Der Rechtsgrund dieser Zurückweisung liegt in dem Umstand, dass der Einschränkungscharakter der Moral in diesem Fall so weit geht, dass sie sogar unserer eigentlichen Bestimmung im Wege steht. Selbstverwirklichung und Moral stehen miteinander im Konflikt.

Dieses Problem wird auch aufgeworfen in der berühmten Entgegensetzung von Pflicht und Neigung, die die kantische Ethik charakterisiert. Immanuel Kant löst die Spannung natürlich zugunsten der Moral: Dem Kategorischen Imperativ ist ohne Wenn und Aber zu folgen, ohne Rücksicht auf die eigenen Neigungen und Interessen. Ich habe moralisch zu sein selbst auf Kosten dessen, was ich für meine Bestimmung halte.

Aber dieser Schein trügt. In Wirklichkeit löst Kant das Problem auf einer tieferen Ebene: Er sieht die Moral nicht in Konkurrenz zur menschlichen Bestimmung, sondern im Gegenteil: Sie selber ist die tiefste und eigentlichste Bestimmung des Menschen. Sie ist nicht eine lästige Grenze, sondern Ziel und Sinngrund der menschlichen Existenz. Wir finden bei ihm schöne Formulierungen, die das treffend ausdrücken. So spricht er z.B. vom “Gefühl der Erhabenheit seiner [des Menschen] moralischen Bestimmung” (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 59). Der Mensch hat also eine moralische Bestimmung, und diese Bestimmung ist erhaben. Die eigene Bestimmung woanders zu suchen, ist nur jenem möglich, der das Gefühl für diese Erhabenheit verloren hat. Wenn also Gauguin seine Bestimmung auf unmoralischen Wegen sucht, dann liegt der Fehler nicht bei der Moral, sondern bei Gauguin. Er irrt sich über seine Bestimmung.

Nach Kant reißt uns das Erhabene mehr hin als alles Schöne (RGV B12, Anmerkung). Wir brauchen uns also um mangelnde Motivationskraft des Moralischen keine Gedanken zu machen. Das Gefühl der Erhabenheit befähigt uns, dem moralischen Gesetz in allen Entscheidungen den Vorrang zu geben, in kantischer Formulierung: ihm in unserer Maxime “das Übergewicht über alle anderen Bestimmungsgründe der Willkür einzuräumen” (RGV B 45). Deshalb sollen wir es kultivieren: “Dieses Gefühl der Erhabenheit seiner moralischen Bestimmung öfter rege zu machen, ist als Mittel der Erweckung sittlicher Gesinnungen vorzüglich anzupreisen, weil es dem angebornen Hange zur Verkehrung der Triebfedern in den Maximen unserer Willkür gerade entgegen wirkt, um in der unbedingten Achtung fürs Gesetz, als der höchsten Bedingung aller zu nehmenden Maximen, die ursprüngliche sittliche Ordnung unter den Triebfedern und hiemit die Anlage zum Guten im menschlichen Herzen in ihrer Reinigkeit wieder herzustellen” (RGV B 59).

Kant spricht von der “Majestät” des Sittengesetzes. Es “flößt Ehrfurcht ein.” Ehrfurcht ist nach ihm die “Achtung des Untergebenen gegen seinen Gebieter.” Im Fall des Sittengesetzes liegt aber der Gebieter in uns selbst. Und deshalb nimmt diese Ehrfurcht gegenüber der Majestät des Gesetzes die Form des Gefühls des Erhabenen unserer eigenen Bestimmung an. Insofern schulden wir es uns selbst, moralisch zu sein. Ein Verrat an der Moral ist ein Verrat an uns selbst.

In der Kritik der praktischen Vernunft finden wir denselben Sachverhalt ausgedrückt. Es ist das moralische Gesetz, das “uns die Erhabenheit unserer eigenen übersinnlichen Existenz spüren” läßt (A 158). Im Vergleich zum moralischen Gesetz hat das Leben “mit aller seiner Annehmlichkeit, gar keinen Wert”. Die Moral ist also nicht um des Lebens willen da, sondern das Leben um der Moral willen. Wir leben, um höchste Moralität zu verwirklichen, oder christlich ausgedrückt: um heilig zu werden.

Für Kant ist es also a priori ausgeschlossen, dass die Moral jemals in die Rolle dessen geraten könnte, was den Menschen an seiner Bestimmung hindert, da sie selber gerade dasjenige ist, was diese Bestimmung definiert. Er denkt also sehr hoch über den moralischen Wert. Das hat er mit dem Christentum gemeinsam, und dadurch unterscheidet sich seine Idee der Moral wohltuend von jenen kümmerlichen Anschauungen, die aus der Moral eine platte Kosten-Nutzen-Berechnung im Hinblick auf das individuelle oder soziale Glück machen. In christlicher Sprache kann man die Einsicht Kants so ausdrücken: Die höchste Bestimmung des Menschen besteht in der Heiligkeit. Die Heiligkeit ist der höchste Wert, der alle anderen Werte, Vorzüge und Begabungen, die ein Mensch haben kann, wie Intelligenz, Genialität, Kunstsinn, Stärke oder Schönheit, überragt. Sie ist jene Gutheit des Willens, von der Kant in seinem berühmten Anfang zur Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ausführt, dass sie allein dem Willen einen inneren unbedingten Wert verleiht, so dass allein ein guter Wille schlechthin und ohne jede Einschränkung für gut gehalten werden kann.

Der höchste Wert ist also der moralische Wert, der Wert der moralischen Gutheit. Er ist das, was im biblischen Sprachgebrauch den Gerechten auszeichnet, der im Gegensatz zum Sünder steht. Es ist unmöglich, dass ein Mensch jemals eine Bestimmung haben könnte, die er nur auf Kosten seiner moralischen Integrität verwirklichen kann. Dass es individuelle Berufungen gibt, die in der Entfaltung der jeweiligen persönlichen Talente und Fähigkeiten bestehen, ist nicht ausgeschlossen. Aber sie bleiben stets der Berufung zur Heiligkeit untergeordnet. Das größte Genie bleibt an Würde hinter dem gewöhnlichsten Menschen zurück, wenn es ihm an Gerechtigkeit fehlt. In diesem Sinne sagt Kant, dass, wenn er sich auch vor einem Vornehmen - im Sinne eines sozial Höhergestellten - verneigt, sein Geist sich nicht vor ihm bückt. Aber “vor einem niedrigen, bürgerlich-gemeinen Mann, an dem ich eine Rechtschaffenheit des Charakters wahrnehme, die größer ist als meine, bückt sich mein Geist, ich mag wollen oder nicht” (KpV A 136). Der katholische Pädagoge Heinrich Bone drückt dasselbe so aus: “Ohne Sittlichkeit hört die menschliche Würde auf.”

Das Sittengesetz ist also nach Kant das Einzige, was von uns unbedingte Achtung erheischt. Es ist ein unfehlbarer Indikator unserer Bestimmung. Die Neigungen sind dagegen nur unzuverlässige Wegweiser. Sie können uns in die Irre führen und uns eine Bestimmung vorgaukeln, die in Wirklichkeit ein Irrweg ist. Dem moralischen Gesetz dagegen zu folgen ist nie verkehrt. Es hat in allen Konfliktfällen den Vorrang vor den Neigungen; wertethisch ausgedrückt: Der moralische Wert muss allen anderen Werten vorgezogen werden.

In der Anerkennung der Vorrangstellung der Moral stimmen also Kant und die christliche Ethik (zumindest in ihrer katholischen Form) überein. Die Moral bedeutet keine Einengung des Menschen, sondern die Freisetzung jener Fähigkeit, die seine ganze Würde ausmacht: die Fähigkeit zur Heiligkeit. Das moralische Gesetz lässt uns nach Kant, wie schon erwähnt, “die Erhabenheit unserer eigenen übersinnlichen Existenz spüren.” Die übersinnliche Existenz ist der sinnlichen entgegengesetzt, in der wir uns durch unsere Neigungen bestimmen lassen und somit der Heteronomie, der Fremdbestimmung durch die Gegenstände jener Neigungen verfallen. Diesem Gegensatz zwischen Autonomie aufgrund des Sittengesetzes und Heteronomie aufgrund der Neigungen entspricht in etwa der Streit zwischen Geist und Fleisch, den der hl. Paulus im Römer- und Galaterbrief thematisiert.

Kant hat also eine sehr hohe Vorstellung von der Bestimmung des Menschen. Deren Erhabenheit gründet in der Heiligkeit des Sittengesetzes. Der wesentliche Unterschied zum Christentum besteht darin, dass Kant bei der Heiligkeit des Sittengesetzes stehen bleibt und sie ihrerseits nicht wiederum verankert in der Heiligkeit Gottes. In der christlichen Ethik dagegen gilt als Grundsatz das Wort Gottes: “Seid heilig, weil auch ich heilig bin” (1 Pe 1,16; Lev 11,45).

Dieser Unterschied hat große Konsequenzen. Er wird virulent in dem Augenblick, in dem die Befolgung des Sittengesetzes uns zu Opfern eines Unrechts macht, das unseren Lebensentwurf zum Scheitern bringt oder uns gar das Leben kostet. Was hat der Dissident davon, dass er sich seine moralische Integrität bewahrt (etwa indem er sich der Komplizenschaft mit einem totalitären Unrechtsstaat verweigert), wenn er dafür Gefängnis, Qual und Tod in Kauf nehmen muss? Kant hat Recht, wenn er diese Frage für unbefugt hält, insofern sie die Geltung des moralischen Imperativs in Frage stellen will. Dieser Imperativ gilt kategorisch. Ihm ist zu folgen ohne Rücksicht auf Verluste. Aber die Frage ist: Welche Konsequenzen hat es für den Begriff der Moral selber, wenn sie diese Verluste nicht aufwiegen kann?

Diese Frage stellt sich beim Christentum nicht, weil es in der Person Gottes ein Sittengesetz kennt, das alles aufwiegen und für vollendete Gerechtigkeit sorgen wird. Der christliche Märtyrer, der, wie z.B. Franz Jägerstätter, lieber den Tod wählt als am Unrecht mitzuwirken, weiß sich getragen von einem liebenden Gott, der diesen Tod in einen Triumph verwandelt. Dieser Gott ist keine anonyme Macht, dem unser Schicksal gleichgültig ist. Vor solchem Verdikt kann ein Sittengesetz, das in kantischer Manier von Gott getrennt wird, nicht bewahrt werden, auch wenn wir uns den treffenden Worten anschließen, mit denen Kant die Erhabenheit des Sittengesetzes schildert: “Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir” (KpV, Beschluss). Trotz aller Bewunderung, die das Sittengesetz verdient: Es bleibt sowohl meiner Bewunderung als auch meiner Klage gegenüber taub und gleichgültig. Ich habe es nicht mit einer lebendigen Person zu tun, der etwas an mir liegt. Auch dass das Sittengesetz ein Faktum meiner Vernunft, dass es der Garant meiner Autonomie und Würde ist, ändert nichts an meinem Schicksal, dass ich im gesetzten Fall das machtlose Opfer von Unrecht bin. In diesem Fall gereicht mir das Sittengesetz zum Unheil: Indem ich seinem Imperativ folge, treibt es mich in den Untergang. Es nimmt auf mein Schicksal keine Rücksicht, kann mich nicht retten und lässt mich in meinem Elend allein. Kann so etwas meine Bestimmung sein? Dass Philosophen dies zum Anlass nehmen, gegen die Zumutungen der Moral zu protestieren, geschieht mitunter gerade aus einem inneren Gerechtigkeitsempfinden heraus, das es nicht erträgt, dass der Gute auf Dauer der Dumme, ja noch schlimmer: der durch das Moralgesetz Geschädigte sein soll. In dieser Optik gerät das Sittengesetz angesichts des realen Weltverlaufs in Widerspruch zu sich selbst: Es verlangt vom Einzelnen Gerechtigkeit, macht ihn aber zum Opfer der Ungerechtigkeit. Es schenkt ihm zwar die Würde des Gutseins, es erhebt seinen Wert “unendlich”, wie Kant sagt (KpV, Beschluss), lässt ihn aber mitsamt seinem Wert unter die Räder kommen.

Die in aller Schärfe formulierte Frage lautet also: Ist Moral schädlich? Ist mit der Heiligkeit des Sittengesetzes der Gedanke vereinbar, dass der Mensch, aufs Ganze gesehen, ein “loser by his integrity” (David Hume) werden kann? Kann die moralische Bestimmung in einem Schicksal bestehen, das zum Scheitern verurteilt ist und das mit dem Tod des Gerechten auch dessen moralischen Wert, also gerade das, was seinem Leben Sinn verleihen soll, zum Verschwinden bringt? Kann der Sinn des Lebens in solcher Sinnlosigkeit bestehen? Wenn dies das letzte Wort wäre, dann wäre das der Verrat der Moral an sich selbst.

Es geht also bei diesem Problem nicht darum, den kategorischen Charakter des moralischen Imperativs eudämonistisch aufzuweichen, sondern ihn vom Vorwurf der Sinnlosigkeit und dem Makel innerer Widersprüchlichkeit zu befreien.

Gott als nachträglichen Wiederhersteller der gerechten Ordnung und der Übereinstimmung von Wohlverhalten und Wohlergehen bloß zu postulieren, wie Kant es tut, ist eine Scheinlösung, die zu spät kommt, um das Sittengesetz von jenem Makel zu befreien. Es steht der Charakter der Erfahrung eines unbedingten Sollens als solchem auf dem Spiel. Darf ich dieser Erfahrung trauen? Der Protest und das philosophische Misstrauen gegen dieses Sollen, von Nietzsche über Norbert Hoerster bis Susan Wolf und Michael Slote, verdienen eine Antwort, die nicht einfach nur auf dieser Erfahrung insistiert, sondern sie einordnet in eine Metaphysik, in der sie ihre logische Konsistenz bewahrt und die dem solcherart Erfahrenen erlaubt, ohne fremde Hilfe das zu sein, als was es sich ausgibt.

Diese Konsistenz wird nur bewahrt, wenn das Sittengesetz gleichzeitig jene reale Macht ist, die verhindert, dass seine Befolgung den moralischen Wert durch Zementierung ungerechter Verhältnisse desavouiert und die Idee einer moralischen Bestimmung ad absurdum führt, wenn also Gott das Sittengesetz in Person ist, wenn also die höchste normative Macht und die höchste reale Macht in eins fallen. Der Fehler Kants liegt darin, dass er Gott und Sittengesetz auseinanderreißt. Gott ist für ihn der moralische Weltherrscher. Er ist dadurch moralisch, dass sein Wille mit dem Sittengesetz übereinstimmt. Dabei wird das Sittengesetz als jene Instanz gedacht, der Gott unterworfen ist und die über seinen moralischen Wert richtet. Die Moralität Gottes wird ebenso wie die des Menschen durch die Übereinstimmung des Willens mit dem Sittengesetz konstituiert. Der Unterschied zum Menschen besteht lediglich darin, dass Gottes Wille auf vollkommenste Weise und ohne Überwindung sinnlicher Neigungen mit dem Sittengesetz übereinstimmt, das moralisch Gute also gegenüber Gott nicht der nötigenden Kraft einer Pflicht bedarf, um sich gegen konkurrierende Triebfedern durchzusetzen. Dennoch bleiben Gott und Sittengesetz zwei verschiedene Instanzen, jener die höchste Instanz in der realen, diese in der normativen Sphäre. Damit bleibt Kants Gottesbegriff hinter dem des hl. Anselm von Canterbury zurück, der Gott als das dachte, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. Kant treibt einen Keil in diese Größe und macht daraus zwei größte Entitäten: das Sittengesetz als die größte normative Macht, Gott als die größte reale Macht. Diese Spaltung, in der sich der kantische Dualismus von praktischer und theoretischer Vernunft widerspiegelt, gehört zu den Geburtsfehlern von Kants Philosophie. Ein moralischer Weltherrscher, der zwecks nachträglicher Herstellung der Proportionalität von Tugend und Glückseligkeit postuliert wird, vermag diesen Riss im Ursprung der kantischen Architektonik nur noch notdürftig zu übertünchen, aber nicht zu heilen.

Wenn dagegen die im moralischen Sollen erfahrene Majestät des Sittengesetzes der Reflex der Heiligkeit Gottes selber ist, dann erfährt unsere Beziehung zum Sittengesetz eine tiefgreifende Transformation. Sie wird eine interpersonale Beziehung zu einem lebendigen Du als Gegenüber. Das Sittengesetz erhält ein menschenfreundliches Antlitz. Als moralisch Handelnder gehorche ich dann nicht mehr bloß einem Gesetz, sondern einer Person, die um mich weiß und die es gut mit mir meint. Die Gutheit, um die es beim Sittengesetz geht, ist nicht mehr nur die Gutheit, die das Sittengesetz mit aller Strenge von mir fordert, sondern auch Güte, die sich mir schenkt. Das Gute an sich wird auch das Gute für mich. Gott ist nicht nur das Sittengesetz, das ein kategorisches Sollen an mich richtet, sondern auch das Gute als diffusivum sui, als sich verschenkende Güte. Er ist nicht nur Gebieter, sondern Liebender. Auch die moralische Verfehlung bekommt einen anderen Charakter: Aus der Übertretung eines allgemein geltenden Gesetzes wird die Zurückweisung einer mir persönlich geltenden Liebe, aus der Verletzung der moralischen Ordnung die Verwundung eines liebenden Herzens. Gott als Liebe will mir nicht nur Anteil schenken an seiner Heiligkeit, sondern auch an seiner Glückseligkeit, welche wiederum ganz und gar darin besteht, zu lieben und geliebt zu werden. Es ist somit ein und dieselbe Entität, nämlich die Liebe, die die Quelle sowohl der Heiligkeit als auch der Glückseligkeit darstellt. Die wesenhafte Einheit von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit in Gott als der Liebe in Person will sich spiegeln in der gnadenhaft geschenkten Einheit beider im vernünftigen Geschöpf. Im Angesicht Gottes als der Quelle alles Guten verwandelt sich die Bestimmung des Menschen aus einem Weg, der ihn die Forderungen des Sittengesetzes ohne Rücksicht auf Verluste erfüllen lässt, in einen Weg, der gleichzeitig alle Verluste in Gewinn verwandelt und so das Sehnen des Menschen nach einem Sinn seiner Bestimmung erfüllt, der sich nicht als trügerisch herausstellen kann. Der Weg zur Heiligkeit wird gleichzeitig der Weg zum Heil. Das Sinnbedürfnis des Menschen umfasst beide Kategorien: Er will Wertvolles tun und Gutes erfahren. Ein Weg, der den Menschen zur heroisch guten Tat, aber in den persönlichen Untergang führt, verfehlt den vollen Sinn dieser Bestimmung ebenso - wenn auch auf andere Weise - wie der Weg, der ihn zum Glück, aber nicht zur Heiligkeit führt. Gott ist weder Güte, die bloß schenkt, noch Sittengesetz, das bloß fordert, sondern beides in höchster Einheit. Er ist Quelle der sittlichen Forderung nach Heiligkeit und Quelle der Güte, die uns beseligt. Er ist Liebe, die Liebe schenkt und Liebe fordert. Als Quelle des Sittengesetzes will er uns - wie Duns Scotus sagt - als Mitliebende, und als Mitliebende werden wir würdig, seine Liebe als Quelle allen Glücks zu empfangen. Seine Liebe macht uns sowohl glückswürdig als auch glückselig. Sie ist Gesetz und Gnade, Forderung und Erfüllung, Selbstlosigkeit und Glückseligkeit. Die Bestimmung des Menschen liegt in eben dieser Einheit von Heiligkeit und Heil, indem er ein Liebender wird.

Dieser Text erschien zuerst in Kirche heute, Januar 2021

Man kann ihn auch hören.


Engelbert Recktenwald: Die menschliche Handlung


Kants Autonomie im Strudel heutiger Theologie

Am 25. Mai 2023 hielt ich auf dem Symposion „Freiheit von oder vor Gott? Autonomie als Schlüsselfrage heutiger Theologie“ diesen Vortrag über "Kants Autonomie im Strudel heutiger Theologie". Die Tagung wurde von der Philosophisch-Theologischen Hochschule Münster veranstaltet und von Prof. Dr. Thomas Möllenbeck geleitet. Ich setze mich in diesem Vortrag mit den Thesen von Magnus Striet und Saskia Wendel auseinander.

Bei Minute 41:28 ist mir ein sinnzerstörender Versprecher unterlaufen. Statt "Kant" muss es "Gott" heißen: "Sobald ich die Beziehung des Sittengesetzes zu Gott nicht kantianisch denke ..."

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