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Moralische Norm und Sanktion
Von P. Engelbert Recktenwald Unter den Philosophen, denen es schwerfällt, das Phänomen des moralischen Sollens in seiner Eigenart zu erfassen und zu würdigen, gibt es die Tendenz, es mit etwas Anderem zu identifizieren. Einer dieser Identifikationskandidaten ist die Sanktion, die mit der Übertretung der moralischen Norm verbunden ist. Die Sanktion sei es, so lautet die These, die ein moralisches Sollen konstituiert und begründet. Erst die Sanktion verleihe einer Norm Geltung, mache sie also überhaupt erst zu einer Norm. Ich halte die Sanktionstheorie für falsch. Um Klarheit zu gewinnen, müssen wir uns dazu die Frage stellen: Was ist überhaupt eine moralische Norm? Nehmen wir dazu einen möglichst klaren Fall, eine Handlung, über deren moralische Verwerflichkeit ein Konsens bestehen dürfte, z.B. das mutwillige Quälen, Foltern und Töten von Kindern. Jeder Mensch, der ein Gewissen hat, sieht ein, dass solches Tun böse ist. Im Deutschen haben wir den schönen Ausdruck: Das verbietet sich von selbst. Das Verbot durch den Gesetzgeber und die damit verbundene Sanktionsandrohung ist nur die Folge davon. Die moralische Norm geht also der Sanktion voraus. Kindesmisshandlung ist nicht böse, weil sie verboten ist, sondern sie wird verboten, weil sie böse ist. Natürlich könnten wir uns jetzt die Frage stellen, warum sie böse ist. Mögliche Antworten darauf könnten auf die Menschenrechte oder die Menschenwürde von Kindern rekurrieren. Es liegt in der Natur von Rechten, dass deren Verletzung moralisch verwerflich ist. Das könnte uns zur Einsicht verhelfen, dass so, wie es in der Natur der Handlung des Kinderquälens liegt, böse zu sein, es in der Natur des Menschen liegt, Rechte zu haben. Die Rede vom Naturrecht drängt sich hier geradezu auf. Aber angesichts der Existenz von Zeitgenossen, bei denen sofort die Jalousien heruntergehen, sobald sie das Wort “Naturrecht” hören, braucht uns das hier nicht weiter zu stören. Auch unabhängig von der Reflexion auf die Gründe ist uns die moralische Verwerflichkeit jenes Tuns und damit die es verbietende moralische Norm sofort einsichtig. Den Anhängern der Sanktionstheorie scheint dies nicht einsichtig zu sein. Zu ihnen gehört Ernst Tugendhat. Er schreibt: "Es ist unklar, was es heißen soll, von einer Norm zu sagen, dass sie absolut gelte oder dass sie selbst richtig sei" (E. Tugendhat, Probleme der Ethik, Stuttgart 1984, S. 77). Klar werde das erst durch die Sanktion: "Ohne die auf dem Tun des Nichtgesollten stehende Sanktion wäre es nicht verständlich, was mit dem 'sollen'/'müssen' und dem 'gelten' der sozialen Norm gemeint ist" (ebd. 75). Brauche ich also erst eine Sanktion, um einzusehen, dass ich ein Kind nicht quälen darf? Ist es nicht so, dass die Verhängung der Sanktion die Folge davon ist, und nicht umgekehrt? Nehmen wir einmal an, der Gesetzgeber würde das Quälen eines Kindes nicht unter Strafe stellen: Würden wir dann nicht gerade eine solche Sanktionierung fordern? Kaum einer von uns käme auf die Idee zu sagen: Da Kinderquälen nicht sanktioniert wird, ist es erlaubt und in Ordnung. Wir würden doch eher genau umgekehrt argumentieren: Da Kinderquälen etwas Schreckliches ist, wird es höchste Zeit, dass diese Gesetzeslücke geschlossen wird. Der Grund ist klar: Die Sanktion ist eine Folge, nicht der Grund der moralischen Norm. Die Norm geht der Sanktion voraus, nicht umgekehrt. Ja noch mehr: Die Norm ist es erst, die die Sanktion rechtfertigt. Denn wir können zwischen Handlungen unterscheiden, die sanktioniert werden sollen, und solchen, die nicht sanktioniert werden sollen. Gerade die Kunst dieser Unterscheidung ist es, was einen guten Gesetzgeber ausmacht. Tugendhat würde diese Kritik an seiner Position nicht gelten lassen. Denn wenn er in diesen Zusammenhängen von Sanktion spricht, meint er nicht nur die äußeren, sondern auch und vor allem die inneren Sanktionen. Tatsächlich ist diese Unterscheidung wichtig. Äußere Sanktionen sind die Strafen, die - je nach Zusammenhang - die Eltern den Kindern, Vorgesetzte ihren Untergebenen, der Staat seinen Bürgern für bestimmte Handlungen androhen. Innere Sanktionen sind das schlechte Gewissen, das Schuldgefühl, der Verlust der Selbstachtung, die sich als Folge unmoralischen Tuns einstellen. Aber auch hier stellt sich die Frage: Soll ich das Quälen eines Kindes um des Kindes willen unterlassen oder um meines psychischen Wohlbefindens willen? Die Frage stellen heißt sie beantworten. Ich würde mein Kind niemandem anvertrauen, der kein echtes Interesse am Wohlergehen des Kindes selber hat. Wenn dagegen die innere Sanktion die Norm konstituiert, fällt mit ihr auch die Norm. Stellen wir uns vor, die Medizin wäre eines Tages imstande, Spritzen bereitzustellen, mit denen man das schlechte Gewissen in ein gutes verwandeln könnte. Oder man könnte erreichen, dass die böse Tat völlig vergessen würde, so dass keine Erinnerung an sie den Täter mehr belasten würde. Wäre mit dem Wegfall der inneren Sanktion auch die Norm hinfällig, so dass es sinnlos wäre, von einer moralischen Verwerflichkeit der Kindestötung zu sprechen? Ist nicht vielmehr die moralische Verwerflichkeit der Grund dafür, dass der Täter ein schlechtes Gewissen hat, und darüber hinaus auch dafür, dass er es haben sollte? Gerade deshalb erachten wir ja, wie auch Tugendhat es tut, den Ausfall des schlechten Gewissens als etwas Pathologisches. Auch hier haben wir im Prinzip dasselbe Grund-Folge-Verhältnis wie bei der äußeren Sanktion: Die Norm geht der Sanktion voraus. Die Übertretung der Norm ist der Grund der Gewissensbisse. Die innere Sanktion ist nicht der Grund, warum ich Kinder nicht quälen soll, sondern die Folge der Norm in dem Fall, in dem ich sie übertrete, obwohl ich sie einsehe. Es war Nietzsche, der diese Einsicht leugnete und daraus die einzig logische Konsequenz zog, nämlich die Behauptung, das Gewissen sei eine Erkrankung. Die Meinung Tugendhats und anderer Philosophen, der Ausfall des Gewissens, der “lack of moral sense” sei pathologisch, ist nur gerechtfertigt, wenn ich dem Spruch des Gewissens trauen darf, d.h. wenn es mir eine vorgegebene Norm nicht nur vorspiegelt, sondern wahrheitsgetreu zu erkennen gibt. Wenn es keine Norm gibt, die der inneren Sanktion vorausgeht, dann ist nicht der Gewissenlose, sondern der Gewissenhafte derjenige, der krank ist, d.h. derjenige, der sich zur Wirklichkeit, wie sie in Wahrheit ist, in einem unangemessenen Verhältnis befindet und sich durch das Blendwerk des Gewissens nur Zügel anlegen lässt im Ausleben seiner Gelüste und Machttriebe. Um Tugendhat Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ist es wichtig, klar festzustellen, dass er sich für eine Moral des gegenseitigen Respekts einsetzt. Doch wie kommt er dazu? Ausgangspunkt seines ethischen Ansatzes ist für ihn ein Begriff des Guten, der auf das Zuträgliche beschränkt ist. Das bedeutet, dass ich nur dann in einem vernünftigen Sinne moralisch handle, wenn es in meinem Interesse liegt. Nun kennen wir aber nicht nur den Sprachgebrauch des “gut für mich”, sondern auch des “gut an sich”. Was ist damit gemeint? Tugendhat interpretiert das “gut an sich” im Sinne von: “gut für alle”. Deshalb gibt er auf die Frage, warum ich meine Freiheit gemäß den moralischen Normen einschränken soll, die Antwort “Weil diese Normen die Eigenschaft haben, gut für alle zu sein, und weil du einer von allen bist. Die so begründete Moral ist die Moral des wechselseitigen Respekts, die gebietet, sich wechselseitig als ‘Zwecke an sich’ praktisch anzuerkennen (zu berücksichtigen)” (ebd. 162). Aber warum soll ich den egoistischen Standpunkt verlassen und den moralischen Standpunkt einnehmen, der in seinem Handeln auch das Interesse des Anderen berücksichtigt? Die Antwort Tugendhats ist konsequent: “Nach wie vor ist die Ausgangsprämisse das Interesse an einem intersubjektiv verstandenen Selbstwertgefühl, das Interesse, sich als schätzenswert ansehen zu können” (ebd. 163). An dieser Antwort können wir zwei Dinge beobachten: Als innere Sanktion zieht Tugendhat nicht das Leiden unter der Schuld, sondern das Selbstwertgefühl in Betracht, das er seinerseits wiederum an die gesellschaftliche Reputation geknüpft hat. Damit aber kann er nonkonformistisches Verhalten nicht mehr von unmoralischem Verhalten unterscheiden. Ein Mensch, der aus moralischen Gründen gegen etablierte Missstände vorgeht, kann sich die Verachtung der öffentlichen Meinung ebenso zuziehen wie ein Verbrecher, dessen Verhalten zurecht geächtet wird. Tugendhat beruft sich auf die Psychologie des Kindes, dessen Selbstwertgefühl von der Erfahrung des Geliebtwerdens abhängt und Schuldgefühle erst entwickeln kann, wenn es einen internen Zusammenhang zwischen Amoralität und Liebesentzug sieht. Das ist richtig, nur übersieht er, dass Erwachsene keine Kinder sind und die moralische Entwicklung des Einzelnen nicht auf diesem Niveau stehen bleiben darf. Es ist gerade ein Zeichen von moralischer Reife, im Konfliktfall zwischen moralischer Einsicht und gesellschaftlichem Druck nicht den Weg der Anpassung, sondern der gesellschaftlichen Ächtung zu gehen, wie es uns viele Dissidenten unter totalitären Regimen vorgelebt haben. Wer jedermanns Darling sein will wie ein Kind gegenüber seinen Eltern, hat sein Gewissen an die Gesellschaft abgegeben. Es ist ja gerade das Kennzeichen totalitärer Regime, über den gesellschaftlichen Druck widerspenstige Gewissen mürbe zu machen. Wie weit der Dissident dann tatsächlich mit der Versuchung zu Selbstzweifeln zu kämpfen hat, hängt von seiner psychischen Konstitution und Sensibilität ab. Umgekehrt gibt es bei Verbrechern das Phänomen, dass die gesellschaftliche Ächtung und Bestrafung gerade zu einer Trotzreaktion führt, die das Aufkommen jedes Schuldgefühls nur um so entschiedener schon im Keim abzuwürgen sucht, ein Phänomen, das Nietzsche scharf, wenn auch mit seiner gewohnten Einseitigkeit, beobachtet und beschrieben hat: “Der ächte Gewissensbiss ist gerade unter Verbrechern und Sträflingen etwas äusserst Seltenes, die Gefängnisse, die Zuchthäuser sind nicht die Brutstätten, an denen diese Species von Nagewurm mit Vorliebe gedeiht: darin kommen alle gewissenhaften Beobachter überein, die in vielen Fällen ein derartiges Urtheil ungern genug und wider die eigensten Wünsche abgeben. In's Grosse gerechnet, härtet und kältet die Strafe ab; sie concentrirt; sie verschärft das Gefühl der Entfremdung; sie stärkt die Widerstandskraft” (Zur Genealogie der Moral, Kap. 4). Im Volksmund heißt es dazu: “Ist der Ruf erst ruiniert, lebt’s sich leicht und ungeniert.” Es ist also fatal, die Norm mit der inneren Sanktion, das moralische Sollen mit internalisiertem, sozialem Druck gleichzusetzen. Dieser Gleichsetzung entspricht die Gleichsetzung von Schuld mit gesellschaftlich verursachtem Selbstzweifel. Schuld wird auf Schuldgefühl reduziert, und berechtigtes Schuldgefühl kann dann von unberechtigtem, gesundes von pathologischem Schuldgefühl nicht mehr unterschieden werden. Denn in Wirklichkeit kommt es ja darauf an, ob ich zurecht oder zu Unrecht verachtet werde. Die Moral entscheidet über die Berechtigung der gesellschaftlichen Erwartungen an mich, nicht aber umgekehrt konstituiert erst die gesellschaftliche Erwartung die moralische Norm, wie Tugendhat meint. Aus dieser Verwechslung resultiert dann die Ununterscheidbarkeit zwischen Nonkonformismus und Unmoralität und die Unmöglichkeit, etablierte gesellschaftliche Standards an einem ihnen vorgegebenen moralischen Maßstab zu kritisieren. Ihre Reform verlöre ihre moralische Berechtigung. Zweitens gründet Tugendhat den moralischen Standpunkt im egoistischen Standpunkt: Es liegt nach ihm einfach in meinem eigenen, aufgeklärten Interesse, Andere zu respektieren, weil ich sonst nicht geschätzt werde und diese Geringschätzung negative Folgen für mein Selbstwertgefühl hat. Mit anderen Worten: Moral ist aufgeklärter Egoismus. Der Grund, keine Kinder quälen zu sollen, liegt in der gesellschaftlichen Ächtung dieser Praxis. Aber ein Mensch, der Kindesmisshandlung nur unterlässt aus Angst vor der Blamage, handelt gerade nicht moralisch. Der Umkehrschluss aus Tugendhats Ansatz lautet: Sobald eine Praxis gesellschaftlich etabliert und anerkannt ist, ist sie auch moralisch gut, also etwa die Frauenbeschneidung in afrikanischen Kulturen. Oder nehmen wir als Beispiel eine Sklavenhaltergesellschaft: Sie hat ihre festen sozialen Normen, die die Sklaverei billigen. Ein nonkonformistisches Mitglied dieser Gesellschaft, das sich für die Abschaffung der Sklaverei einsetzte, würde nach der Logik Tugendhats unmoralisch handeln, weil es sich die soziale Ächtung der Gesellschaft zuziehen würde. Hier ist noch ein Wort zu sagen zu der von Tugendhat beanspruchten Universalität seiner Moral des Respekts, die er gegen einen Einwand Ursula Wolfs verteidigt. Er macht den “traditionalistischen” Moralkonzeptionen, die sich auf religiöse oder andere “höhere” Wahrheiten berufen, den Vorwurf, die moralischen Normen gruppenspezifisch so einzuschränken, dass nur den Mitgliedern der eigenen Gruppe Respekt zu zollen sei. Sobald solche höheren Wahrheiten wegfallen, falle auch jeder Grund weg, den Respekt einzuschränken, denn: “Die Menschen sind nicht von Natur gleich, aber qua Subjekte, die sich wechselseitig schätzen können, unterscheiden sie sich nicht voneinander; sie erheben daher auch einen gleichen Anspruch auf Respekt. Als Glieder der moralischen Gemeinschaft sind sie gleich” (Tugendhat a.a.O., 168). Diese Argumentation wäre stichhaltig, wenn der Anspruch auf Respekt in der Würde jedes Menschen begründet wäre, wenn sich die moralische Norm also aus dieser Würde ergäbe. Aber gerade das ist es, wie wir gesehen haben, was Tugendhat ablehnt und durch die innere Sanktion ersetzt. Diese aber wirkt nur innerhalb der Gruppe, der ich mich zugehörig fühle. Dem Mitglied einer Sklavenhaltergesellschaft ist es egal, wie die Sklaven über es denken. Es will von Seinesgleichen geachtet werden und als vollwertiges Mitglied seiner Gruppe gelten. Dieses Prinzip der gruppenspezifischen Relevanz sozialer Anerkennung lässt sich mehr oder weniger strikt auf Gruppen verschiedenster Art anwenden, solange sie ihren Mitgliedern ein genügend großes Identifikationspotenzial bereitstellen: soziale Klassen, Clans, Jugendbanden, Mafia, Parteien usw. Tugendhat muss sich also entscheiden: Entweder gründet er den Respektanspruch in der Menschenwürde oder in der inneren Sanktion. Im ersten Fall ist der Anspruch universal, im zweiten Fall reicht er nur so weit, wie es für den Adressaten dieses Anspruchs von Interesse ist. Wenn für ihn die Wertschätzung aller Menschen außerhalb jener Gruppen, mit denen er sich identifiziert, irrelevant ist, greift der Rekurs auf die innere Sanktion zur Konstituierung der moralischen Norm ins Leere. Natürlich hat die Sanktionstheorie auch Folgen für die Bedeutung des Wortes “Respekt”. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch meinen wir damit eine Achtung, die der Andere verdient, und zwar um seiner selbst willen. Abgesehen von verdienstvollen Taten, aufgrund derer wir bestimmten Menschen besonderen Respekt entgegenbringen, sind es Eigenschaften wie Personalität und Würde, die jenen von Tugendhat geforderten Anspruch auf Respekt begründen, der allen Menschen ohne Unterschied zukommt. Wenn dagegen mein Respekt sich nicht dem Bewusstsein der Respektwürdigkeit des Anderen, sondern meinem Interessenkalkül verdankt, dann ist mein Respekt nur ein simulierter. Mein respektvolles Verhalten wird unwahrhaftig. Eine letzte Folgerung aus dem Ansatz Tugendhats wäre schließlich die Tatsache, dass mit dem Ausstieg aus dem sozialen Gefüge die Moral ihr Fundament verlöre. Welchen Grund haben Robinson Crusoe und Freitag auf ihrer von der Zivilisation abgeschnittenen Insel, einander nicht zu schlachten, sondern zu respektieren, den anderen als Zweck und nicht bloß als Mittel zu behandeln? Entweder hat dieser Respekt seinen Grund in der Menschenwürde des Anderen, die ihn mit unveräußerlichen Menschenrechten ausstattet, die es zu achten gilt; oder aber in der inneren Sanktion, die gesellschaftlich vermittelt ist. Fällt die Gesellschaft weg, fällt auch die innere Sanktion und damit das moralische Sollen weg. Den Einwand, dass die soziale Norm internalisiert sei und sich das Gewissen nicht so einfach abschütteln lasse, bräuchten die beiden nicht zu fürchten: Denn es gäbe keinen Grund mehr, sich nicht vom Gewissen zu emanzipieren, da sein Spruch sich zur Wirklichkeit verhielte wie der berühmte Geruch zur leeren Flasche. Vielleicht würde der Emanzipationsversuch nicht vollständig gelingen, weil sich das Gewissen nicht auf Knopfdruck abschalten lässt. Das rechtfertigte aber keinen Zweifel an der Richtigkeit des theoretischen Urteils, dass die Schuldgefühle nur falscher Alarm seien. Der Skrupellosere der beiden, dem die Emanzipation von den internalisierten Vorgaben der Gesellschaft so sehr gelänge, dass er auf die Ermordung des Anderen auch noch stolz wäre, würde sich nicht nur als der Klügere, sondern sogar als der Moralischere erweisen, weil es ihm besser gelänge, den Geltungsgrund moralischer Normen, nämlich “das Interesse, sich als schätzenswert ansehen zu können”, zu verwirklichen. Doch dieses Moralverständnis widerspricht unserem gewöhnlichem Moralverständnis. Es ist in höchstem Maße kontraintuitiv. Das aber kann es nur sein, weil es tatsächlich grundlegende Intuitionen von Gut und Böse, von Gesolltem und Nichtgesolltem sind, die unsere moralische Deliberation tragen, und zwar selbst dort, wo in solchen Theorien wie der Sanktionstheorie sich die Reflexion von ihnen loslöst. Sie wirken als unbewusste Hintergrundevidenz nach und verleihen Begriffen wie “Respekt” noch eine Bedeutungsdichte, die sie aufgrund der theoretischen Reflexion gar nicht mehr haben dürften. Nur solange dieser versteckte Mechanismus nicht durchschaut wird, können Theorien wie die Sanktionstheorie ihren Anschein von Plausibilität wahren. |
PhilosophenAnselm v. C. AutorenBordat J. |
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