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Adorno oder der zweideutige Fortschritt Von Prof. Dr. Walter Hoeres § 1 Die Dialektik der Aufklärung 1. Irrationale Rationalität Zweifellos besteht die geschichtliche Leistung Theodor W. Adornos darin, schonungslos und in einer ganz neuen Weise die selbstzufriedene Sicherheit zerstört zu haben, in der die Aufklärung bis heute als Segen und entscheidender Markstein der Menschheit auf dem Wege zum Fortschritt gesehen wurde. Daß er das aus der Aufklärung resultierende Verhängnis ausgerechnet in den fünfziger und sechziger Jahren beschwor, in denen sich Wissenschaftsfetischismus, der Kult der absoluten, als Selbstzweck gepflegten Technologie, die Auflösung der letzten gewachsenen Überlieferungen und Institutionen, die radikale „Entmythologisierung“ des Christentums mit dem Kritischen Rationalismus zu einer neuen, scheinbar unaufhaltsamen Welle der Aufklärung verdichteten, ließ sein Denken für die Gegenwart zum Scandalum schlechthin werden. Die „Dialektik der Aufklärung“, die 1947 zum ersten Mal erschien (Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Amsterdam 1947), ist zwar ein Gemeinschaftswerk Adornos und Max Horkheimers (18951973), wie sich überhaupt der Anteil der beiden an der Entfaltung der „Kritischen Theorie“ oder Begründung der „Frankfurter Schule“ nur schwer voneinander trennen läßt. Es trägt aber unverkennbar die Handschrift Adornos und es ist deshalb kein Zufall, daß diese Kritik der Aufklärung schließlich in seiner „Negativen Dialektik“ ihren unüberbietbaren Höhepunkt erreicht (Theodor W. Adorno: Negative Dialektik (stw 113) 3. Aufl. Frankfurt am Main 1982). Mit der ihm eigenen schöpferischen Brisanz, die vermutlich auch dazu beigetragen hat, sein Leben zu verkürzen, ist er ohnehin der spekulativere Kopf von beiden gewesen, sodaß die hier zu skizzierende philosophische Theorie tatsächlich trotz des Ehrgeizes der beiden Denker, Philosophie als team-work zu betreiben, ganz und gar als sein Werk betrachtet werden kann. Auf den ersten Blick ist es mehr als merkwürdig, daß ausgerechnet Adorno, der sich immer wieder über die angebliche Fadenscheinigkeit alter, gewachsener Bindungen und Uberlieferungen mokierte, in der „Dialektik der Aufkjärung“ zu dem Ergebnis kommen kann, „die vollends aufgeklärte Erde strahle im Zeichen triumphalen Unheils“ (S. 13). Ausdrücklich weist er damit die Schuld für das Entsetzen, das die Welt heute heimsucht, der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts und ihrer Nachwirkung zu. Dialektisch mißt er sie an ihren eigenen Maßstäben von Vernünftigkeit, um sie nach dem Grundsatz: „an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen!“ umso wirksamer ihrer eigenen Unwahrhaftigkeit zu überführen. Wie Kant in seiner berühmten Programmschrift: „Was ist Aufklärung?“ definiert, will diese nichts anderes als der Weg zur Mündigkeit sein, und sie sei der Versuch, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Adorno besteht unnachsichtig auf dieser Forderung und zwar nicht so sehr wie Kant in Frontstellung gegen die alten Autoritäten, sondern im Blick nach vorne auf die Irrationalität der heutigen, angeblich so aufgeklärten Gesellschaft. „Krampfhaft willentlich“, so Adorno, „wird verkannt, daß das Zuviel an Rationalität, über das zumal die Bildungsschicht klagt und das sie in Begriffen wie Mechanisierung, Atomisierung gern auch Vermassung registriert, ein Zuwenig an Rationalität ist, die Steigerung nämlich aller kalkulierbaren Herrschaftsapparaturen und -mittel auf Kosten des Zwecks, der vernünftigen Einrichtung der Menschheit, die der Unvernunft bloßer Machtkonstellationen überlassen bleibt und zu der das Bewußtsein, getrübt von unablässiger Rücksicht auf bestehende positive Verhältnisse und Gegebenheiten, sich überhaupt nicht mehr zu erheben getraut“.(Vernunft und Offenbarung. In: Stichworte. Kritische Modelle 2, ed. Suhrkamp 347, S. 23) 2. Vernunft als Herrschaftsprinzip Auch will die Aufklärung nur das als wahr und gültig akzeptieren, was sie tatsächlich als vernünftig durchschauen kann. Sie macht so die menschliche Vernunft, um mit dem antiken Aufklärer Protagoras zu reden, zum Maß aller Dinge: der seienden, daß sie sind und der nichtseienden, daß sie nicht sind. Und das scheint zunächst ganz im Sinne Adornos zu sein, der in seinem Essay über „Vernunft und Offenbarung“ alle Bindung an so etwas wie eine übernatürliche Offenbarung zu einem heute unmöglichen sacrificium intellectus, zu einer Selbstpreisgabe eigenen Denkens erklärt. Aber der Widerspruch zwischen dem Aufklärer Adorno und seiner vernichtenden Kritik der Aufklärung ist nicht bei ihm selbst, sondern in dem widerspruchsvollen Wesen der aufgeklärten Vernunft zu suchen, die der Menschheit zugleich zum Segen und zum Fluch gerät. Ihr verdanken wir die Herrschaft über die Natur, die sie so lange einteilt, organisiert, rationalisiert und mit ihren Kategorien reglementiert bis sie uns restlos dienstbar ist. Der Gewinn liegt auf der Hand: den Fortschritt kann nur leugnen, wer nicht die Phantasie aufbringt, sich drückende Not und Auslieferung an die ungezähmte Natur vorzustellen. Nach Adorno konnte die Vernunft diese Herrschaft aber nur erringen, weil sie alles dem Prinzip der Identität zu unterwerfen sucht, dessen Ziel es ist, Einstimmigkeit, Identifizierung als Fixierung des immer wieder auftretenden Typischen an den Dingen zu erkennen und herzustellen und so di~ Dinge in Griff zu bekommen. Mittel dazu ist der abstrakte Begriff, der als solcher nur auf die Gattung oder Art der Dinge geht und sie so nicht in ihrer Besonderheit oder Individualität, sondern nur als Spezialfall für die allgemeine Kategorie nimmt (Negative Dialektik, S. 149). Nur dadurch also gewinnt die Vernunft Übersicht und damit erst die Möglichkeit zur Herrschaft über die Natur, daß sie alles, was sich nicht dem abstrakten Begriff einfügt und durch ihn nicht eingefangen wird, übersieht und nicht in Rechnung stellt. Ausgemerzt wird, was nicht ins allgemeine Schema paßt, das sich folglich wie ein Prokrustesbett über die Einzeldinge zwängt und ihren konkreten Gehalt auf allgemeine Begriffe bringt, in denen er als Widerspiel des Abstrakten getilgt ist (a. a. O. S. 49). Dieser zwangshafte Charakter des Denkens, dem es allerdings nach Adorno alle Übersicht und allen Erfolg verdankt, zeigt sich an jedem Urteil, dem krönenden Abschluß der Erkenntnis, in dem endgültig festgestellt werden soll, was die Sache ist. Das Urteil etwa: „Peter ist ein Mensch“ erhebt denAnspruch, die Identität von Subjekt und Prädikat auszudrücken, während es doch in Wahrheit ihre Nichtidentität bezeugt, da die Individualität des Peter und damit gerade das, was seine konkrete Wirklichkeit ausmacht, über den Allgemeinbegriff hinausragt. Denken macht also identisch, was nicht identisch ist und in es nur eingeht um den Preis seiner Vergewaltigung. Dennoch kann es ohne den Allgemeinbegriff nicht auskommen. Adorno war kein Nominalist oder Positivist, für den die Allgemeinbegriffe bloße Etiketten sind, um mehr oder weniger ähnliche Dinge irgendwie zusammenzufassen in der nicht unbegründeten Hoffnung, daß sie sich auch ähnlich verhalten werden. Vielmehr hat er durchaus an der Erkenntnisfunktion der Begriffe festgehalten, die nur deshalb das Nichtidentische, Ungleiche in den Dingen übersehen können, weil sie in der Tat das Identische an ihnen begreifen. Eben deshalb dienen sie in der Praxis dazu, die gewonnene Ubersicht in Übersichtlichkeit umzusetzen. Die Gleichheit der Dinge, die der Begriff als ihre einzige Wahrheit präsentiert, ist immer schon die Aufforderung, den Rest, der nicht in den Begriffen aufgeht, auch in der Praxis zu tilgen. Um die gewünschte Herrschaft über die Natur und die Dinge zu gewinnen, muß ich sie allemal in die Organisation einfügen, die nur erfassen kann, was sich ihren immergleichen Schemata um Standards fügt. Solange die Vernunft in der abendländischen Tradition noch eingebettet war in das konkrete Leben und die natürlichen Bedürfnisse des Menschen, hatte sie sich das Gespür für den einzigartigen, im Denken gar nicht einzuholenden, im wörtlichen Sinne unbegreiflichen und damit auch unsagbaren Charakter der Dinge bewahrt. In ihr pulsierte dieselbe Natur, die sie andererseits in ihren Begriffen zu beherrschen suchte. So bleiben Subjekt und Objekt bei aller Spannung doch in einem übergreifenden Zusammenhang geborgen. Solange die menschliche Vernunft also noch im Dienste von Hoffnung und Erfüllung stand und den Sinn des Daseins in der beseelten Natur, in Mythos und Glauben, die Adorno freilich nicht auseinanderhält, zu finden vermochte, war die „Versöhnung“ nicht ausgeschlossen. „Versöhnung“ ist für Adorno in der Nachfolge Hegels nur ein anderer Ausdruck für die Heimat des Menschen in der Welt und den Zustand des Friedens! In der Aufklärung aber setzt sich die Vernunft absolut. Aus all jenen Zusammenhängen herausgerissen folgt sie nur noch ihrem eigenen Gesetz. Sie dient nicht mehr dem Menschen sondern dieser ihr, weil er sich nun gänzlich ihrer Dynamik überläßt, wie wir sie beschrieben haben: durch Vereinheitlichung und Abstraktion alle Verhältnisse in Griff zu bekommen. Herrschaft wird nun als Selbstzweck ausgeübt. So geht die absolut gesetzte, abstrakte Vernunft als absolutes Herrschaftsprinzip in ihr Gegenteil, die absolute Unvernunft über. Im Gefolge der Aufklärung kommt es schließlich zu einem Denken, das unerbittlich auf der totalen Durchsichtigkeit aller Dinge besteht. Sie pries schon Descartes am Anfang der neuzeitlichen Philosophie als höchstes Ideal der Wahrheit. Wo sie nicht zu erreichen ist, weil die Dinge in ihrer unauslotbaren Tiefe sich gegen solche Durchschaubarkeit wehren, müssen sie theoretisch in der Erkenntnis und praktisch in der Tat so lange zugerichtet werden, bis sie passend geworden sind. Sie sind dann nichts weiter als Figuren in einem Spiel mit der Welt, in dem höchste Abstraktion und höchster Formalismus triumphieren. Ideen und philosophischer Begriff, in denen noch die Erinnerung an die unergründliche und unwiederholbare Wirklichkeit enthalten waren, werden auf Formeln reduziert, die lebendige Geschichte auf pure Fakten, Dinge auf bloße Materie, Seiendes auf das, was an ihm zählbar ist (Dialektik der Aufklärung a. a. O. S. 17). Am Ende steht die totale Quantifizierung der Welt, die erst die exakte Voraussage kommender Ereignisse und damit die totale Herrschaft über die Natur ermöglicht. Denn natürlich ist diese Einstellung nach Adorno „nicht ohne Folgen für die Praxis“. Sie ist in sich selbst schon Praxis! Verlieren doch die Dinge in ihr automatisch ihre Eigenständigkeit und damit ihre Identität, weil sie nur noch als Träger austauschbarer Funktionen gewertet werden und damit als Momente eines dürch die abstrakte Vernunft hergestellten Zusammenhanges, in dem alles auf alles bezogen ist. Aber indem alles berechenbar wird, Objekt der Kalkulation im Dienste von Herrschaft, wird es in sich selbst belanglos wie das x und y in der mathematischen Gleichung. Totale Naturbeherrschung geht ihrer eigenen Logik nach in Naturzerstörung über (Marginalien zu Theorie und Praxis. In: Stichworte a. a. O. S. 169). So verhält sich die Aufklärung nach Adorno „zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann“ (Dialektik der Aufklärung a. a. O. S. 19). Indem sie sich die Dinge mit den immer gleichen Konstruktionsmustern verfügbar macht, befolgt aufgeklärte Vernunft genau die Devise, unter der sie angetreten ist: nur das als wirklich zu akzeptieren, was ihr von vorneherein plausibel ist. Angenommen wird nur, was ins abgesegnete System der Denkformen paßt, die zugleich Herrschaftsformen sind und sich als solche immer wiederholen. 3. Der Mensch als Objekt Entfremdung von der Natur aber setzt sich schließlich fort in die Selbstentfremdung des Ich. Hier erst im Verhältnis zum Menschen wird die widerspruchsvolle irrationale Rationalität der Aufklärung vollends offenbar. Angetreten unter dem Motto, ihm endlich zu seinem Recht, zu Mündigkeit, Selbständigkeit und zu irdischem Wohl und Fortschritt zu verhelfen, stellt sie zwar ihr ganzes ungeheueres, rationales Potential in den Dienst dieser Aufgabe. Aber dem Zauberlehrling gleich, der einmal angestoßen nicht mehr zur Ruhe kommt, dehnt sie ihre organisierende, reglementierende und schematisierende Herrschaft schließlich auch auf den Menschen aus. Er ist nun nicht mehr als das lebensvolle konkrete Individuum gefragt, das die Welt spontan auf seine ureigene Weise zu erfahren vermag. Gefragt ist jetzt nur noch das denkende Subjekt überhaupt: der in uns allen gleiche Denkapparat, der die Aufgabe hat, die blinden Fakten, in die sich die Natur nun verwandelt, in sich einzufüttern und nach einer festen Regel zu bearbeiten. So wird die totale Rationalisierung im Dienste blinder Herrschaft der Vernunft nicht nur dem Objekt, sondern auch dem Subjekt angetan, das zum austauschbaren, überall ersetzbaren Objekt degradiert wird. „Während der Animismus einst die Sachen beseelte, versachlicht der Industrialismus die Seelen“ (A. a. O. S. 41). Die Herrschaft über den Menschen ist der Tendenz nach genau so zerstörerisch und total wie die über die Natur. Denn sie beruht auf dem gleichen Prinzip der Identität, das hier darauf hinausläuft, die Ungleichen, die nicht in die vorgeformten Kategorien passen, sich nicht fügen wollen oder einfach anders sind, so lange „gleichzuschalten“, bis ihr Widerspruch zum System getilgt ist. Oder sie, falls dies nicht möglich ist, einfach auszurotten. Wem solche Schlußfolgerungen ausgerechnet im Blick auf die Aufklärung, die doch die Duldsamkeit auf ihre Fahnen geschrieben hatte, übertrieben vorkommen, dem ruft Adorno die Schrecken des vergangenen Jahrhunderts ins Gedächtnis. Denn in den Konzentrationslagern wurden nicht mehr einfach Menschen gequält, sondern fabrikmäßig ausgetilgt, sodaß der Mensch in ihnen in radikalster und deutlichster Weise als das erschien, was er heute ohnehin schon ist: als totales Objekt! Vernichtet wurden nicht mehr Herr Meier oder Herr Schulze, sondern „der Jude“, der „Kommunist“, der „Konterrevolutionär“. An einer berühmten Stelle der „Negativen Dialektik“ sagt Adorno: Auschwitz aber ist nach Adorno nur der vorläufige Endpunkt einer Entwicklung, die von der Naturbeherrschung zur äußeren und schließlich zur inneren Herrschaft über den Menschen führt, zur restlos verwalteten Gesellschaft, einem ebenso hermetischen wie künstlichen Daseinsapparat, in dem der Einzelne nur noch als ohnmächtiges Glied fungiert. § 2 Die Umkehrung des Marxismus 1. Die totale Produktion Die Drehscheibe, in der die Herrschaft über die Natur schließlich zu der über den Menschen wird, ist für den Gesellschaftskritiker Adorno natürlich Wirtschaft und Gesellschaft, deren totale Rationalisierung erst die endgültige Beherrschung des Menschen zur Folge hat. Wir stehen hier bei dem zweiten Grund, der nach der Entzauberung der Aufklärung Adornos Werk so ungeheures Echo verschaffte: der Totalrevision des Marxismus, die wenig übrig ließ von seiner ursprünglichen Gestalt und doch seine Sprengkraft in eigentümlicher Weise bewahrte. Auch dieses neue zweischneidige Verhältnis Adornos zum Marxismus und zu den Ideen, die ihn bewegten: Vernunft, Wissenschaft, Fortschritt läßt sich allein von Adornos Einschätzung der Aufklärung her bestimmen. Wirtschaft und Gesellschaft sind ihm zufolge nach denselben rational-irrationalen, wahnhaften, weil selbstzweckhaften Herrschaftsprinzipien organisiert, denen die Natur unterworfen wurde. Ziel ist nicht mehr der Mensch und das, was er wirklich braucht, obwohl es doch heute jedenfalls nach Adorno möglich wäre, alle Not und allen Existenzdruck von den Menschen zu nehmen. Das Ziel ist heute völlig abstrakt und gerade darin Ausdruck jener freischwebenden, im Dienste blinder Herrschaft stehenden Rationalität, die er nicht müde wird anzuklagen. Das abstrakte Ziel, um das es in dem ganzen ungeheuren Getriebe geht, ist das Kapital oder vielmehr seine ständige Vergrößerung. Diesem Ziel hat alles zu dienen: die das Leben künstlich zerschneidende Trennung von Arbeit und Freizeit und der Konsum, der von dem übrig geblieben ist, was man einst Glück und Erfüllung nannte. Die Vergrößerung des Kapitals aber läuft auf die der Produktionskapazität hinaus und die totale, alle Lebensbereiche umfassende Produktion ist es, von der wir alle leben. Besser noch ließe sich dieser vom Menschen gelöste, in sich selbst kreisende, abstrakte Charakter des Systems dahingehend umschreiben, daß wir gar nicht mehr anzugeben vermögen, was in ihm noch Mittel und was schon Zweck sein soll, da der Mensch ihm zwar zu dienen hat, ihm aber auch seine Existenz und seine relative materielle Wohlfahrt verdankt. Diese Kritik der heutigen Wirtschaft ist allerdings nicht ganz so originell wie das Pathos vermuten läßt, mit der sie Adorno verkündet. Man denke nur an die zahlreichen Untersuchungen etwa von Vance Packard, John Kenneth Galbraith oder Günther Anders. Alle heben hervor, daß die Wirtschaft davon lebe, immer künstlichere Güter zu erzeugen, für die dann erst die entsprechenden synthetischen Bedürfnisse geweckt werden müssen Vor allem Herbert Marcuse hat diesen Widerspruch zu einem Leitgedanken seiner kritischen Philosophie gemacht! Und die seltsame irrationale Rationalität des Ganzen, das nach einem bekannten Adorno-Wort das Unwahre ist, wird auch von seinen Kritikern in gewisser Weise zugegeben. Aber sie weisen darauf hin, daß es nur durch die Produktion solcher neuer, angeblich überflüssiger Güter möglich sei, unsere lebensnotwendigen Bedürfnisse zu befriedigen, und daß die Einstellung oder möglicherweise auch nur die Reduzierung dieser Produktion uns in ein unvorstellbares Chaos stürzen würde. Schon zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hat der Nationalökonom Lujo Brentano (18441931) die These von Karl Marx (18181883), nach der die wachsende Mechanisierung zur wachsenden Arbeitslosigkeit und Verelendung der Massen führen würde, mit dem Hinweis auf die grenzenlose Erweiterungsfähigkeit unserer Bedürfnisse zurückgewiesen. Die expansive Lohnpolitik von John Maynard Keynes (18831946) und die Nationalökonomie von heute weisen in die gleiche Richtung. Aber, so würde Adorno argumentieren, diese scheinbar so einfache Möglichkeit, unsere wirtschaftlichen Probleme zu lösen, ist nur gegeben, wenn man Bedürfnis und Erfüllung, Angebot und Nachfrage als völlig abstrakte Größen in die verselbständigte und gänzlich formalisierte, zur angewandten Mathematik gewordene Kosten-Nutzenrechnung einsetzt, zu der sich die heutige Nationalökonomie in der Tat immer mehr entwickelt. Wir erkennen in ihr nach Adorno genau jene Verfassung der aufgeklärten Vernunft, die auch den Menschen und seine Bedürfnisse wie Schachfiguren neben vielen anderen in ihren Kalkulationen hin und her bewegt. 2. Die Herrschaft des Tauschwertes Die dem Menschen gegenüber gänzlich gleichgültige, abstrakte Rationalität des Systems aber zeigt sich nach Adorno vor allem an der Konsequenz, mit der in ihm der wahre Wert der Dinge auf ihren abstrakten Tauschwert reduziert wird, der Unvergleichbares anhand einer fiktiven Wertquantität messe und gegenseitig in Rechnung stelle. Der Tauschwert ist nach Adorno das radikalste Mittel der Vernunft, alles zu vereinheitlichen und zu schematisieren, da er Abweichendes und Inkommensurables nicht mehr duldet. In dieser geradezu leidenschaftlichen Anklage des Tauschprinzips und des Marktes als dem Ort, an dem dieser „irrational rationale Austausch“ stattfindet, wird die Herkunft von Marx überdeutlich! „Das Tauschprinzip“, so Adorno in der „Negativen Dialektik“, „die Reduktion menschlicher Arbeit auf den abstrakten Allgemeinbegriff der durchschnittlichen Arbeitszeit, ist urverwandt mit dem Identifikationsprinzip. Am Tausch hat es sein gesellschaftliches Modell, und er wäre nicht ohne es; durch ihn werden nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel. Die Ausbreitung des Prinzips verhält die ganze Welt zum Identischen, zur Totalität“ (a. a. O. S. 149). Der irrational rationale Charakter des Systems, das um den Tauchwert kreist, kommt nach Adorno vor allem darin zum Ausdruck, daß sein Funktionieren automatisch der Herrschaft weniger dient: dem, was von Adorno bis zu Herbert Marcuse als „partikulares Interesse“ bezeichnet und dem der Gesamtheit gegenüber gestellt wird. Selbst wenn von Ausbeutung im Sinne der klassischen marxistischen Verelendungstheorie keine Rede mehr sein könne, so habe die Wirtschaft, in der um der Produktion und damit um des Kapitals willen produziert werde, damit automatisch schon den Gewinn zum Ziel, der als solcher immer schon der Gewinn weniger sei und somit Herrschaft über die anderen bedeute. 3. Die Suche nach Alternativen Günter Rohrmoser hat in seiner schon 1970 erschienenen Analyse der Philosophie Adornos, Horkheimers und Marcuses: „Das Elend der kritischen Theorie“ gewichtige Argumente gegen dieses unüberbietbar düstere Bild der Marktwirtschaft zusammengefaßt: In der Tat finden wir bei Adorno nur ganz wenige Andeutungen über die Gestalt einer wahrhaft gerechten, freien und vernünftigen Gesellschaft. Die wenigen Bemerkungen sind zudem äußerst vage. Gegen das einseitig quantifizierende Tauschprinzip setzt er „das Ideal des freien und gerechten Tausches“ (Negative Dialektik a. a. O. S. 150), das bis heute nur ein Vorwand geblieben sei, um den angeblich so irrationalen Tausch zu verewigen. Worin der Unterschied der beiden Formen besteht, wird nicht gesagt. Auf der anderen Seite aber ist diese Enthaltsamkeit nicht einfach ein Versäumnis. Sie ergibt sich vielmehr aus Adornos These, unsere Gesellschaft sei bereits so tiefgreifend durch die Herrschaft der rationalen Vernunft deformiert, daß auch der Entwurf einer neuen Gesellschaft die Spuren der alten an sich trage. Denn einerseits wäre dieselbe Vernunft, die die alte Gesellschaft reglementiert, auch zuständig für den Entwurf der neuen und andererseits wäre auch noch die mißratene Form der Vernunft Produkt und Widerschein der alten, unvernünftigen Gesellschaft. Was Adorno meint, können wir am Beispiel Marcuses studieren, der sich noch am ausführlichsten unter den Vertretern der „Kritischen Theorie“ über die Möglichkeit einer ganz anderen, wahrhaft vernünftigen Gesellschaft verbreitet hat. Wenn die kommende Gesellschaft, so führt Marcuse in seinem Werk über den „eindimensionalen Menschen“ aus, die Unvernunft der richtungslosen, auf ständiger Bedürfnisausweitung beruhenden Produktion beseitigen und uns statt der Herrschaft „partikularer Interessen“ die „wahrhafte Selbstbestimmung der Individuen“ bringen solle, dann müsse sie auf „wirksamer sozialer Kontrolle über die Produktion und Verteilung der lebensnotwendigen Güter“ bestehen. Denn „Selbstbestimmung bei der Produktion und Verteilung lebensnotwendiger Güter und Dienstleistungen wäre verschwenderisch“ und „in diesem Bereich“ sei zentralisierte Kontrolle rational (Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch (Slg. Luchterhand) Neuwied und Berlin 1970 S. 262). Man braucht nicht allzu viel Phantasie, um bei der Vorstellung einer solchen Kontrollinstanz, die über unsere wahren und falschen Bedürfnisse entscheidet und uns je nach unserer Bedürftigkeit, Eignung oder Würdigkeit die Güter und vor allem Dienstleistungen zuteilt, eine Gänsehaut zu bekommen! Was Marcuse hier vorschlägt, wurde noch nicht einmal in Sowjetrußland, allenfalls in chinesischen Volkskommunen maoistischer Prägung praktiziert. Der Teufel wird hier mit Beelzebub ausgetrieben und die verschwiegene Herrschaft der abstrakten, instrumentellen Vernunft durch die offene, totale der Staatskontrolle ersetzt, die vor jener nur den zweifelhaften Vorzug der Brutalität besitzt. Solche Vorschläge beweisen also nur, um jetzt wieder Adorno zu Wort kommen zu lassen, daß die Abhilfe das Übel womöglich noch verschlimmern würde und damit die Unausweichlichkeit des Verhängnisses. Darin zeigt sich der Unterschied des Politikers vom Philosophen, der auch dort noch Philosoph bleibt, wo der Politiker gefordert ist. Die unglückseligen Visionen einer totalen Staatskontrolle sind für Adorno nicht der Beweis dafür, daß die gegenwärtige Marktwirtschaft nach dem Prinzip des kleineren Übels noch immer die beste ist. Sie beweisen vielmehr nach der „Frankfurter Schule“, daß von allen Seiten nur noch das totale Verhängnis droht! 4. Der totale Pessimismus Damit sind wir bei dem entscheidenden Kernpunkt angelangt, in dem Adorno Marx radikalisiert und zugleich überwunden hat. Dieser hatte den Menschen die Hoffnung, ja die scheinbare Gewißheit gelassen, daß die objektive Ungerechtigkeit der kapitalistischen Gesellschaft und damit die Entfremdung des Menschen eines Tages in der klassenlosen Gesellschaft aufgehoben werde. Die Erwartung ist nach Adorno durch nichts gerechtfertigt: ein Ausweg aus der hermetisch geschlossenen Gesellschaft ist so wenig in Sicht wie ein Entrinnen aus der antiken Tragödie. Wollte man plakativ formulieren, dann könnte man sagen, daß Adorno die Hoffnung der Aufklärung auf allgemeinen Fortschritt, aus der dann bei Hegel und Marx die Lehre von seiner schicksalhaften und unausweichlichen Notwendigkeit wurde, auf den Kopf gestellt hat und daß gerade darin die unvergleichliche Resonanz seiner Philosophie beruht. „Keine Universalgeschichte“, so klagt er in der „Negativen Dialektik“, „führt vom Wilden zur Humanität, sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe. Sie endet in der totalen Drohung der organisierten Menschheit gegen die organisierten Menschen“ (Negative Dialektik a. a. O. S. 314). Ganz sicher ist die Resonanz dieser wahrhaft revolutionären Umkehr der Idee des Fortschritts und des aus ihr resultierenden Pessimismus auch in dem schizophrenen Zustand des heutigen Bewußtseins begründet, das sich auf der einen Seite nach den entsetzlichen Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts abgestoßen fühlt vom selbstzufriedenen Optimismus der Aufklärung, auf der anderen Seite aber dem technokratischen und wissenschaftsgläubigen Fortschrittstaumel bewußtloser denn je verfallen ist! Über die Tatsache hinaus, daß Adorno diesen Widerspruch zum Bewußtsein bringt, beruht die Gewalt seiner Umkehr des Fortschrittsglaubens noch auf drei weiteren Momenten. Zunächst wäre hier das Ungenügen der traditionellen Philosophie und Anthropologie zu nennen, die vom „Menschen an sich“ und der „Technik an sich“ so redet, als handele es sich um beliebige abstrakte Größen, die völlig ohne Beziehung zueinander stehen. Häufig hören wir von solcher Philosophie, die Technik an sich sei weder gut noch schlecht, sondern es komme nur darauf an, welchen Gebrauch die Menschen in ihrer Freiheit von ihr machen. Das ist gewiß richtig, aber nur im Hinblick auf den „Menschen an sich“ wie ihn die Philosophen betrachten! Für den konkreten, geschichtlich gewordenen Zusammenhang, in dem die Menschen in ihrer Schwäche und Not nun einmal leben, sagen solche abstrakten Betrachtungen herzlich wenig. Im Gegenteil: durch sie wird der philosophischen Wahrheit von der an und für sich bestehenden Willensfreiheit ein Bärendienst erwiesen. So kann dem Argument Adornos eine gewisse Berechtigung nicht abgesprochen werden, mit dem er sich gegen die Entwürfe einer abstrakten Gesellschaft und Technik an sich wendet, die dem ebenso abstrakt gesehenen „Menschen an sich“ gegenübergestellt wird. Der Gedanke, so Adorno, „es sei kein Fortschritt, weil keiner im Inwendigen sich ereigne, ist falsch, weil er die Gesellschaft als unmittelbar menschliche fingiert, die ihr Gesetz habe an dem, was die Menschen selber sind. Aber es ist das Wesen historischer Objektivität, daß das von Menschen Gemachte, die Institutionen im weitesten Sinne, ihnen gegenüber sich verselbständigen und zur zweiten Natur werden... Innerweltlicher Fortschritt hat sein mythisches Moment darin, daß er, wie Hegel und Marx erkannten, über die Köpfe der Subjekte hinweg sich zuträgt und diese nach ihrem Ebenbild formt“ (Fortschritt. In: Stichworte a. a. O. S. 43.) Was die abstrakte Philosophie vom „Menschen an sich“ und von der „Technik an sich“, so könnte man hier einwenden, zu wenig tut, das scheinen allerdings Hegel, Marx und Adorno nach der anderen Seite hin ins Maßlose zu übertreiben. Die objektive Gewalt der gesellschaftlichen Verhältnisse gewinnt hier eine solche absolute Macht, daß ihr gegenüber die Freiheit des Menschen bis zur Bedeutungslosigkeit schrumpft. Am Ende siegt immer der Weltgeist, die gesellschaftliche Tendenz oder der Genosse Trend! Aber das ist natürlich kein Grund für die gerade in christlichen Kreisen so weit verbreitete Annahme, daß die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse allein von unserem guten Willen abhänge! Damit sind wir bei dem zweiten Moment, das die eigentümliche Faszination von Adornos Pessimismus verständlich macht. Wie eine untergründige durchgehende Melodie zieht sich die Erfahrung des Leides, des bis ins Grenzenlose anwachsenden Jammers der Menschheit durch seine Philosophie. Gerade die Tatsache, daß das Leid hier durch keinerlei philosophische Spekulation neutralisiert und mit einem künstlichen Sinn versehen, sondern unendlich ernst genommen wird, macht ihre tiefe Menschlichkeit aus. Hierin besteht trotz aller Differenzen eine gewisse Nähe zum überlieferten Christentum, das noch den Mut hat, sich zur Botschaft vom irdischen Jammertal zu bekennen. Als Reflexion des Leides und damit des entstellten Lebens überhaupt unterscheidet sich Adornos Denken aber auch von aller akademischen Philosophie, die unbeeindruckt von dem grausigen Gang der Weltgeschichte so tut, als sei eigentlich nichts geschehen und in der künstlichen Abgeschiedenheit ihrer Seminare ihre ebenso künstlichen Fragestellungen pflegt. „Das Bewußtsein davon“, so klagt Adorno, „daß die als Sparte betriebene Philosophie mit den Menschen nichts mehr zu tun hat, denen sie die Fragen als eitel abgewöhnt, um derentwillen sie einzig mit ihr sich befassen, rumort schon im deutschen Idealismus“ (Negative Dialektik a. a. O. S. 70), ohne allerdings die verhängnisvolle Trennung von philosophischer Theorie und der Wirklichkeit des menschlichen Daseins aufzuheben. Die Philosophie als der ungeheure Versuch, der Sprach- und oft genug auch der Bewußtlosigkeit des menschlichen Leides zum Ausdruck zu verhelfen, steht hier nicht mehr im Verdacht, bloß „Guckkastenmetaphysik“ zu sein, in der der Einzelne nur noch als winziges Moment in einem grandiosen, von selbst fortschreitenden Prozeß fungiert, dessen absolute Folgerichtigkeit dem Zuschauer zum ästhetischen Genuß wird: bei Adorno wäre es der Genuß an einer antiken Tragödie. Aber den Zuschauer per distance soll es bei ihm nicht mehr geben. Philosophie ist hier immer schon leidvolle Erfahrung und das Hinaussein über sie in dem Versuch, sie kritisch zu reflektieren. Das dritte Moment, das Adornos Pessimismus bei all seinen Übertreibungen doch so große Resonanz verschafft hat, ist der originelle, ganz neue Maßstab für das, was Fortschritt und Rückschritt, Glück und Leid bedeuten. M. a. W. gelingt es Adorno, einen Fortschrittsbegriff zu entwickeln, der nichts mehr mit dem abstrakten Schema zu tun hat, wie es die Aufklärung und der Marxismus entwickelt haben und das von vorneherein nach Ideologie schmeckt. Vielmehr weist er auf den einzig gültigen und zugleich ganz konkreten Maßstab, den seiner Ansicht nach jeder denkende und fühlende Mensch gleich welcher Weltanschauung akzeptieren kann: Das Festhalten an der konkreten, nicht wirklich zu definierenden, in sich vieldeutigen Idee des Fortschritts aber gibt Adorno erst die Möglichkeit, ihre innere Dialektik zu entfalten und damit all jene rechthaberischen Ideologien zu entlarven, die genau wissen, wohin der Weg zu gehen habe, wenn der Mensch ihr synthetisch verordnetes Glück genießen solle. „Dialektik“, weil es in der Tat wirklichen Fortschritt gibt, der aber in seiner gegenwärtigen und bisherigen Gestalt zugleich das Unheil vergrößert, das auf den Menschen lastet. Und nochmals der Aufweis dieser inneren Dialektik ist jenes dritte Moment, das seinem Pessimismus und seiner Umkehr der Fortschrittsidee so starke Beachtung verschafft hat. Denn erst in der Verklammerung positiver und negative Momente läßt sich nach Adorno die hohe Zwangsläufigkeit des Prozesses erfahren, die darin besteht, daß der Fortschritt als solcher nicht rückgängig zu machen ist und doch in seiner realen geschichtlichen Gestalt immer unentrinnbarer der immer größeren Katastrophe zuzusteuern scheint. Dialektisch ist er auch darin, daß er nicht einfach „ein sich selbst entrollendes Rad“ von unentrinnbarer Notwendigkeit ist, sondern daß immer noch eine, wenn auch noch so winzige Hoffnung besteht, dem Schicksalswagen in die Speichen zu fallen und ihn zu wenden. Wiederum ist auch die Dialektik des Fortschritts nach Adorno in der widerspruchsvollen Rolle der Vernunft und damit in der „Dialektik der Aufklärung“ begründet. Denn dieselbe Vernunft, die den Menschen von den Schranken der Natur, der Not und Krankheit befreit, ist es auch, die als erbarmungsloses Herrschaftsprinzip Natur und Mensch unterdrückt, ja sie leistet die Befreiung von der Bedrohung durch Natur gerade durch deren Unterdrückung. Zugleich aber wäre nur von ihr die Befreiung vom zutiefst irrationalen Charakter der Gesellschaft zu erhoffen. Die Unentrinnbarkeit der Bewegung zeigt sich darin, daß wir hinter sie nicht zurückfallen können, weil sie wirklich Fortschritt bedeutet: Schon diese hypothetischen Formulierungen Adornos weisen darauf hin, daß es hier nicht um jene Binsenweisheit des „sowohl als auch“ geht, nach der Fortschritt immer auch mit Nachteilen verbunden ist: die Beweglichkeit etwa, die wir dem Auto verdanken, mit Lärm und Umweltschäden. Real ist zunächst einmal nur die Drohung der Bombe, die befriedete Welt dagegen eine bloße Vision! § 3 Die Demontage des Individuums 1. Die Ohnmacht des Einzelnen Wer uns bis hierher gefolgt ist, wird nun doch zu der Frage gedrängt, warum eigentlich eine Änderung so unmöglich sein soll, wenn die Zustände derart nach Abhilfe rufen und die Vernunft als Herrschaftsprinzip doch auch immer zugleich jene Vernunft sein könnte, die die Irrationalität des Ganzen durchschaut. Die marxistische Hoffnung ihrer Jugendjahre, daß das Proletariat zum Wegbereiter der „Befreiung“ werden könne, haben Adorno und Horkheimer rasch aufgegeben. Umso erstaunlicher ist es dann, daß sie nicht einfach annehmen, am Ende werde sich immer wieder jene Vernunft durchsetzen, die die angeblich so irrationalen Herrschaftsverhältnisse zu durchschauen und auch noch auf ihre eigenen Anmaßungen zu reflektieren vermag. Wenn schon die Zustände so entsetzlich sind, warum schließen sich dann nicht die vielen, die unter ihnen leiden, zusammen, um der wahren Vernunft zu ihrem Recht zu verhelfen und den Weg zu einer vernünftigen Gesellschaft frei zu machen? Sind die Zustände derart, wie Adorno beklagt, dann ist es doch seltsam, daß sich Protest und Widerstand zu seiner Zeit nur in Randgruppen artikulieren, die ihn zudem nur äußern konnten, weil ihnen die Gesellschaft auch noch diesen Protest ermöglichte. Wenn auf der einen Seite die Vernunft, die das Grauen totaler Herrschaft zu durchschauen vermag, immer da ist und auf der anderen Seite der Stand der technischen Produktivkräfte so ungeheuer angewachsen, warum geschieht dann so wenig, jenes Grauen aufzuheben, ja warum kommt es gar nicht in den Blick? Diese Frage ist umso berechtigter, als es gerade Adornos ständige Jeremiaden über den Zustand „des Ganzen“ waren, die die Radikalen auf die Barrikaden getrieben und zu der Schlußfolgerung gebracht haben, weil das Ganze der Gesellschaft so unheilvoll sei, gelte es zunächst einmal, dieses Ganze kaputt zu schlagen! Gewiß kann man Adorno nicht für diese Exzesse verantwortlich machen. Nachdem er noch kurz vor seinem Tode erleben mußte, daß sich totalitäre Gewalt, vor der er einst aus Deutschland floh, nunmehr in anderer, handgreiflicher Form gegen ihn selbst wandte, hat er den linksradikalen Radaubrüdern in einem meisterhaften Aufsatz über Theorie und Praxis eine vernichtende Absage erteilt: „Verzweiflung“, so heißt es da, „die, weil sie die Auswege versperrt findet, blindlings sich hineinstürzt, verbindet noch bei reinstem Willen sich dem Unheil“ (Marginalien zu Theorie und Praxis a. a. O. S. 176). Aber wenn auf solche Weise Praxis sich allzu rasch nach Adorno als vorschnelle Praxis disqualifiziert, die das Unheil noch verschlimmert, das sie mit einem Gewaltstreich zu lösen vorgibt, dann sind wir erst recht Eingesperrten in einem Käfig vergleichbar. Dann stellt sich erneut die Frage, warum die Zeitgenossen ihre Lage mit solcher Gelassenheit ertragen. Die Frage ist also noch nicht einmal so sehr, warum sie sich nicht zu einer wahrscheinlich in jedem nur denkbaren Falle fragwürdigen Praxis der Veränderung aufraffen können, sondern warum sie die düsteren Zustände noch nicht einmal als solche empfinden. 2. Der Panzer des Ich Wenn Adorno seine verzweifelte Diagnose der Gesellschaft von heute wirklich ernst meint, dann muß er sich diese Frage stellen. Seine Antwort, die uns nach allem nicht mehr überraschen dürfte, beweist, daß er sich bei aller kritischen Reflexion doch letzten Endes nicht von den Vorstellungen des Marxismus befreien konnte, für den das Individuum als selbständiges Wesen noch? nicht existiert. Zunächst ist „Individualität“ für ihn nicht mehr das in sich feste, abgeschlossene, allem anderen und auch der Gesellschaft gegenüberstehende Einzelwesen, als das die Philosophie Individualität bis heute begriffen hat. Gerade in einer wahrhaft freien und zu sich selbst gekommenen Gesellschaft würde das Individuum nach Adorno nicht krampfhaft sein Ich-sein festhalten, in dem es ohnehin mit allen anderen übereinkommt. Es wäre hier sowohl ganz und gar Wirkung des gesellschaftlichen Drucks wie aber auch das Kraftzentrum, das ihm widersteht (a. a. O. S. 279). Es wäre also dem Strudel vergleichbar, der sein Wasser im Austausch mit dem Umfeld stets erneuert und doch immer derselbe bleibt. Das Ich wäre hier grenzenlos offen und ohne Angst, sich durch diese Offenheit zu verlieren. Es wäre zwar Individuum, aber in einem völlig anderen Sinne als wir heute in der verhärteten Tauschgesellschaft, die sich in widerspruchsvoller Weise durch die Balance gegensätzlicher Profitinteressen erhält (S. 314), „Individuen“ genannt werden können. Je mehr die Individuen auf ihrem punktuellen Interesse bestehen, das nach Adorno das Wolfsgesetz dieser Gesellschaft ist, um so mehr wird diese ihnen fremd und tut ihnen Gewalt an. Indem also die Individuen nach dem Gesetz, nach dem diese Gesellschaft angetreten ist, ihr gegenüber auf sich selbst beharren, treten ihnen Staat und Gesellschaft und der Allgemeinheitsanspruch, den sie verkörpern, als fremde, feindliche Mächte gegenüber. Zugleich aber werden sie durch ihren eigenen Selbsterhaltungstrieb genötigt, sich für den Anspruch des Staates und der Gesellschaft zu engagieren, da sie nur durch deren schützende Kraft leben können. So wird die Zerrissenheit der Gesellschaft mit ihren widerstreitenden und dennoch aufeinander angewiesenen Interessen in die Individuen hineingetragen (S. 306). Nur weil die Einzelnen in der unversöhnten Gesellschaft in zwangshafter Weise den Anspruch der Allgemeinheit zu ihre ureigenen Sache machen müssen, kommt jener Anschein von Ubereinstimmung zwischen ihnen und der Gemeinschaft zustande, der trügerisch an den Ausklang von Hegels Rechtsphilosophie erinnert. Im idealen Staat sind nach Hegel Einzelner und Gemeinschaft in der Tat völlig versöhnt. Sie durchdringen einander, ohne doch ihr jeweiliges Wesen preiszugeben. Hier erkennt der Einzelne, daß er seine Individualität und Freiheit nur durch die Einrichtungen der Gemeinschaft hat und somit als Einzelner nur durch sie besteht, während umgekehrt die Gemeinschaft erkennt, daß sie nur durch den Einzelnen Bestand hat. Aber davon kann bei der bestehenden Gesellschaft nach Adorno keine Rede sein. „Nur durch das Prinzip der individuellen Selbsterhaltung hindurch, mit all ihrer Engstirnigkeit, funktioniert das Ganze“ (S. 307) und „nötigt jeden Einzelnen dazu, einzig auf sich selbst zu blicken“. Wie sehr sich die irrationale Zwangsgesellschaft nach Adorno erst den zu ihr gehörigen Menschen mit den entsprechenden Denk- und Antriebsstrukturen schafft, ergibt sich auch, wenn wir ihn nicht als Individuum, sondern als Subjekt, d. h. als Träger von Erkenntnis betrachten. In der bestehenden Gesellschaft sind nach Adorno Subjekt und Objekt im Zeichen der Vernunft als reinem Herrschaftsprinzip völlig entzweit. Das Subjekt, das nach den immer gleichen Denkformen seine Objekte zu Waren zubereitet, verliert gerade damit seinen persönlichen und individuellen Charakter. Es wird selbst zu einem Ding, dessen Kategorien und Ordnungsschemata, mit denen es sich die Natur unterwirft, genau so unbeteiligt studiert werden können wie eine Reihe Gesteinsproben oder sonstige Dinge. Indem die Unterdrückung der Natur zu menschlichen Zwecken immer totaler wird, schwindet der Primat des denkenden Menschen über sie, und das Verhältnis zwischen beiden verwandelt sich dem Darwin‘schen Muster gemäß in das zweier Bestien oder Naturwesen, von denen das eine stärker als das andere ist. Darin vollendet sich die vermessene Annahme der Aufklärung von der alles beherrschenden, siegreich den Fortschritt erbringenden Macht der Vernunft (S. 181). Daher ist das aufgeklärte Subjekt mit seinem Autonomie- und Herrschaftsanspruch eine einzige Lüge, „weil es um der Unbedingtheit der eigenen Herrschaft willen die objektiven Bestimmungen seiner selbst verleugnet“ (S. 274). So kommt Adorno schließlich zu der schockierenden Aussage, daß die Menschen, keiner ausgenommen, noch gar nicht sie selbst, keine wirklichen Subjekte sind. Erst wenn sie ihre Verschalung, den Panzer ihrer Identität abgeworfen haben, mit dem sie sich gegen alles, was Nicht-Ich ist, abdichten, könnten sie zu ihrem wahren Selbst finden. Wenn wir immer wieder diese Forderung Adornos vom Sich-Finden im Anderen, die auch von Hegel stammen könnte, hören, dann liegt es nahe, mit manchen seiner Interpreten ganz einfach zu sagen, die Liebe sei das Grundmodell seiner Gesellschaftsphilosophie gewesen (vgl. z. B. Martin Kerkhoff: Die Rettung des Nicht-Identischen. Zur Philosophie Theodor W. Adornos. In: Philosophische Rundschau 20. Jg. 1974 Heft 3/4 S. 152). Damit wäre auch ihr utopischer Zug zu erklären, der die kommende Gesellschaft der Liebenden und füreinander grenzenlos Offenen zu einem so vollkommenen Gegenbild der gegenwärtigen macht. Nicht umsonst spricht Adorno immer wieder von der Eiswüste und der „wahrhaft unerträglichen Kälte“, die sich über die heutige Gesellschaft zugleich mit dem alles ergreifenden, kommerziellen Tauschverhältnis immer mehr ausbreite (Negative Dialektik a. a. O. S. 280). 3. Das Individuum als Moment des Ganzen Fazit all dieser Überlegungen, die uns Adorno in nimmermüder Beharrlichkeit einschärft und die man geradezu als Grunddogma der „Frankfurter Schule“ bezeichnen könnte, ist die absolute, wechselseitige Abhängigkeit von Mensch, Natur und Gesellschaft, sodaß keines dieser Momente ohne das andere, sondern nur alle wechselseitig durcheinander bestehen und bestimmbar sind. Dabei können sich die Gewichte zwischen ihnen durchaus verschieben, womit sich dann aber auch Bedeutung und Wesen des Ganzen radikal verändern. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ist in dieser Weise geschichtlich entstanden und es kann deshalb keine Rede davon sein, daß das Individuum „von Natur aus“ irgendeine Art von Vorrang vor der Gesellschaft habe, wie auch umgekehrt heute „das ausweglos dichte Gewebe der vergesellschafteten Gesellschaft“ (passim bei Adorno), ihr totalitärer Charakter und ihr Vorrang vor dem Einzelnen Ergebnisse einer ganz bestimmten geschichtlichen Entwicklung sind. Der Zusammenhang formt aber nicht nur die Dinge, sondern auch ihre Erkenntnis, die ebenfalls durch den je verschiedenen gesellschaftlichen Standort vermittelt ist, sodaß es nirgendwo in der Philosophie einen objektiven, von der gesellschaftlichen Verfassung des Subjektes ungetrübten Standort der Betrachtung gibt. Alles verflüssigt sich immer wieder als Moment im ganzen und schreitet in ihm fort (Fortschritt a. a. O. S. 35). § 4 Kritische Anfragen 1. Die Preisgabe der Anthropologie Wir verstehen jetzt auch, warum Adorno und Horkheimer es zeitlebens abgelehnt haben, eine systematische philosophische Anthropologie zu entwerfen, ändert sich doch ihrer Meinung nach laufend der Bedeutungsgehalt aller Begriffe, die in ihr Verwendung finden können, und zwar zusammen mit dem Ganzen, von dem der Mensch nur ein Moment ist. Das ist der Grund dafür, daß Adorno auf alle begrifflichen Bestimmungen verzichtet. Trotz der messerscharfen Brillianz seiner Formulierungen hat man es gerade an den Nahtstellen seiner Argumentation mit völlig vagen Begriffen zu tun. Stets ist ohne Präzisierung von der Unterdrückung der Natur, der Herrschaft über sie oder über das Ich die Rede, wobei jeder dieser Begriffe bis zur Unkenntlichkeit vieldeutig ist und eine Gleichung aus lauter Unbekannten bekanntlich noch keine Erkenntnis ergibt. Daß „Herrschaft“ ebenso wie „Autorität“ nicht ohne weiteres auf Unterdrückung hinauslaufen, wäre durch ihre nähere begriffliche Entfaltung zu demonstrieren. Erst dann könnte die unheilvolle Ausübung von Herrschaft ausgegrenzt werden und der Begriff seinen Schlagwortcharakter bei Adorno verlieren. Bei seinen Nachfolgern gerät er leicht zum Totschlagwort. Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: daß die Zähmung der „Natur“ in uns und außer uns sehr human sein kann, ja die äußere Natur erst in jenen „Garten Eden“ zu verwandeln vermag, von dem doch gerade „linke“ Philosophen schwärmen, könnte überzeugend erst begründet werden, wenn wir an irgendeiner Stelle von Adorno genauer erfahren würden, was er sich denn eigentlich unter „Natur“, wie sie ist und sein könnte, vorstellt, zumal gerade er betont, daß nur der Fortschritt der Technik zur Wiederherstellung der verwüsteten Natur führen könne. Adorno würde auch hier entgegnen, der Begriff „Natur“, wie sie sein sollte, dürfe gar nicht konkret bestimmt werden; hieße es doch wieder die Hoffnung, daß alles besser werde, um ihre Kraft betrügen, wollte man im einzelnen angeben, worin denn der Fortschritt bestehe. Gerade an diesem Beispiel wird deutlich, daß er mit dem Verzicht auf alle näheren Angaben Gefahr läuft, die Philosophie zur leeren Klage über die bestehenden Verhältnisse zu machen, die an ihnen nichts zu ändern vermag und den wirklichen Fortgang der Dinge der von ihm so verteufelten technisch-wissenschaftlichen Vernunft überlassen muß. Von gleicher Vagheit ist der Begriff des „Geistes“, den Adorno mit einer Selbstverständlichkeit gebraucht, als hätten die langen Diskussionen der modernen philosophischen Anthropologie über den Unterschied von tierischer und menschlicher Intelligenz gar nicht stattgefunden. Auch der große, im Anschluß an Kant geschriebene Diskurs über Freiheit in der „Negativen Dialektik“ sagt nicht eigentlich, was „Freiheit“ ist, sondern setzt sie sogleich wieder in Beziehung zu Unfreiheit, Herrschaft und Unterdrückung. Man gewinnt so den Eindruck, es sei das Selbstverständlichste in der Welt, daß wir überhaupt eine Anlage zur Willensfreiheit haben, und als seien alle bisherigen Disputationen darüber leere Scholastik. Damit haben wir den entscheidenden Einwand, der in der Frage mündet, ob Adorno und die „Frankfurter Schule“ darin trotz allem getreue Marxisten nicht immer schon voraussetzen, was allererst zu beweisen wäre: daß der Mensch mit Haut und Haaren ein gesellschaftliches Wesen ist, das ebenso Produkt der jeweiligen Gesellschaft wie diese das seinige ist! Dabei können sich die Formen der gegenseitigen Hervorbringung radikal ändern. Aber der Mensch ist und bleibt nicht nur ein auf die Gesellschaft bezogenes, sondern ganz und gar in sie eingetauchtes, ja durch sie hervorgebrachtes Wesen. Automatisch ist damit auch die Annahme gegeben, in der sich Adorno mit dem von ihm so oft angegriffenen Heidegger trifft, daß der Mensch ein radikal geschichtliches Wesen ist, sodaß sich nicht nur seine Ausdrucksformen, sondern sein ganzes Menschsein radikal wandeln. Aber all diese Annahmen setzen immer schon ein ganz bestimmtes Menschenbild und eine ganz bestimmte Anthropologie voraus. Adorno würde hier antworten, gerade die Analyse der jeweiligen Gesellschaft zeige doch, wie sehr der Mensch erst in ihr entstehe oder aber durch sie in seiner Menschwerdung gehindert werde. Aber schon der Versuch, dies zu zeigen, setzt sein ganz von der Gesellschaft bestimmtes, hier eben doch marxistisches Menschenbild voraus. Damit stehen wir wieder bei unserer Alternative: entweder wird diese Voraussetzung unkritisch und dogmatisch gemacht oder aufgrund der sorgsamen Entfaltung einer philosophischen Anthropologie, die uns Adorno schuldig geblieben ist! Letztlich setzt auch seine ständige Klage darüber, daß die heutige Gesellschaft jede geistige Spontaneität und Freiheit und damit auch die Möglichkeit des Glücks verhindere, schon einen bestimmten Maßstab für Glück, Erfüllung und geistige Regsamkeit voraus. Dieser Maßstab aber kann wiederum nur in einer bestimmten Ansicht der menschlichen Natur begründet sein. Und es bedarf dieser Reflexion auf die Natur des Menschen und das, was ihr nutzt und fromm, schon deshalb so sehr, weil bekanntlich eine ganze Menge urteilsfähiger Leute mit guten Gründen versichern, die Menschen hätten niemals so viel Freiheit, Entfaltungs- und Kritikmöglichkeit gehabt wie heute. Die ungeheure Resonanz, deren sich die Kritische Theorie erfreute, ist der beste Beweis dafür. 2. Der versteckte Materialismus Daß Adorno ohne ausreichende philosophische Rechtfertigung ein bestimmtes, zum Materialismus tendierendes Menschenbild voraussetzt, zeigt sich am deutlichsten in den summarischen Ausführungen zum Materialismus-Problem in der „Negativen Dialektik“. Natürlich ist er kein Materialist im vulgären Sinne des Wortes. Aber irgendeine Form der Unabhängigkeit des geistigen Lebens von der leiblichen Sphäre kann es für ihn nicht geben. Diese Uberzeugung zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Werk (Negative Dialektik a. a. O. S. 193 ff.). Alle Erkenntnisleistungen, so heißt es einmal, seien dem eigenen Sinne nach „somatisch“, d. h. körperlich oder doch körperlich vermittelt! (S. 194) Was immer das im einzelnen heißen mag: es ist ohne Zweifel eine Verbeugung vor dem Materialismus! Von daher ist auch seine seltsame Behauptung vom krassen Gegensatz zwischen Offenbarungsreligion und dem gegenwärtigen Stand der Kosmologie zu verstehen (Vernunft und Offenbarung. In: Stichworte a. a. O. S. 27). Der Hinweis auf die Winzigkeit des Menschen im unermeßlichen All kann nur den überzeugen, der von vorneherein davon ausgeht, daß der Mensch nichts anderes ist als ein hochdifferenziertes Stück Materie und daher verglichen mit den ungeheuren Massen im All nur eine quantité négligéable. Trägt er aber, wie das immerhin der überwiegende Teil der europäischen Philosophie behauptet, ein geistiges Prinzip in sich, dann ist er inkommensurabel gegenüber aller Materie, und ihre Ausdehnung hat mit seinem Wesen nichts zu tun. Adornos vorgefaßter Materialismus wird auch in dem seltsamen Umstand sichtbar, daß sein Denken, das so großen Wert auf unmittelbare, ganz spontane Erfahrungen als Weg zur philosophischen Erkenntnis legt, kein Verständnis für religiöse Erfahrungen aufzubringen vermag: von Adorno nicht selten als Sinn für‘s Höhere abgetan. Dabei ist die Frage nach Gott und nach der Offenheit des menschlichen Geistes für Gott hier keineswegs so gleichgültig, wie das die rein innerweltliche Richtung von Adornos Gesellschaftskritik vermuten läßt. Gerade in ihr geht es um die Überzeugungskraft der Utopie eines besseren Daseins, derentwillen es sich nach Adorno allein zu philosophieren lohnt und die seinem Werk seinen unbeschreiblichen visionären Glanz verleiht. Wer vermöchte sich der beschwörenden Kraft des Appells zu entziehen, mit dem er die „Minima Moralia“ sein wohl persönlichstes Werk beschließt: Aber „Erlösung“ und „messianisches Licht“ sind für Adorno nur noch Denkfiguren, denen keine Realität mehr entspricht. Gerade deshalb muß auch er sich den Fragen stellen, die Karl Heinz Haag, Schüler Horkheimers und Adornos, in seinem Werk über den „Fortschritt in der Philosophie“ gegen die Marx‘sche Vision einer freien, gerechten Gesellschaft ins Feld führt: Vielleicht ist Adornos Verzweiflung an der Welt auf sich selbst zurückgewandt auch die Verzweiflung darüber, daß die Vision eines anderen besseren Daseins keine Konturen mehr hat und mit dem Verlust des Glaubens der Väter auch die Propheten nichts Tröstliches mehr zu sagen haben! Trotz dieser Bedenken gegen Adornos Anthropologie und ihre versteckten Voraussetzungen, seine Verteufelung der Gesellschaft, wie wir sie nun einmal haben, und den unausgegorenen Gegensatz zwischen materialistischem Erbe und religiöser Sehnsucht bleibt sein Denken von ungeheurer Eindrucksmacht. Er hat die Idole der Aufklärung und ihre falsche Selbstzufriedenheit so schonungslos wie kein zweiter Denker seit dem 18. Jahrhundert decouvriert. Er hat die Philosophie aus ihrer musealen Beschäftigung mit sich selbst und ihren Silbenstechereien herausgerissen und zudem noch die frohen, welttrunkenen Christen von heute daran erinnert, daß es in einer Zeit währenden Grauens keine größere Pflicht des Denkens und Suchens geben kann, als das Leid und die dagegen aufzurichtenden Möglichkeiten der Hoffnung zu reflektieren. Daß Adorno eine solche überzeugende Hoffnung nicht zu zeigen vermochte, ändert an seiner Größe nichts. Literatur: Zu Adorno: Es handelt sich bei diesem Text um das dritte Kapitel im Vierten Abschnitt (Maßstäbe für die neue Ethik? Auf der Suche nach der verlorenen Begründung) des empfehlenswerten Buches von Walter Hoeres Heimatlose Vernunft. Denker der Neuzeit im Ringen um Gott und die Welt, Verlag Franz Schmitt, Siegburg 2005, erschienen als Band XI in der Reihe Quaestiones non disputatae, begründet von Johannes Bökmann, herausgegeben von David Berger. Der Philosoph Walter Hoeres war Schüler von Adorno. Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis des Autors. Die Frankfurter Schule und das jüngste Gericht
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