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Erkennen oder Lieben?

Was vollendet den Menschen?

Von P. Engelbert Recktenwald

Der hl. Franz von Sales schreibt in seiner Abhandlung über die Gottesliebe: »Der Mensch ist die Vollendung des Universums, der Geist ist die Vollendung des Menschen, die Liebe (l’amour) die des Geistes, die Gottesliebe (charité) die der Liebe. Daher ist die Gottesliebe Ziel, Vollendung und Vortrefflichkeit (l’excellence) des Universums.«

Mit dieser Aussage steht der Kirchenlehrer im Gegensatz zu einem anderen Kirchenlehrer, zum hl. Thomas von Aquin. Dieser sieht die Vollendung nicht in der Liebe, sondern in der Schau Gottes. Da die Liebe ein Akt des Willens, die Gottesschau ein Akt des Intellekts ist, stehen sich hier Voluntarismus und Intellektualismus gegenüber. In der Philosophie haben diese Begriffe verschiedene Bedeutungen. In diesem Text meine ich damit nur die Antworten auf die Frage, welches der beiden Seelenvermögen das vorzüglichere und mithin jenes ist, auf dessen Konto die Vollendung des Menschen und mit ihm des ganzen Universums geht: der Wille oder der Intellekt? Ausschließlich in diesem Sinne ist jetzt von »Voluntarismus« und »Intellektualismus« die Rede. Wer von beiden hat Recht? Das ist die Frage, um deren Antwort wir in den folgenden Reflexionen ringen wollen.

Es gibt das bekannte irische Sprichwort: »Wenn Gott den Menschen misst, legt er das Maßband nicht um den Kopf, sondern immer um das Herz.« Das Herz ist der Ort der innersten Willenseinstellung und somit »Sitz und Quelle der Liebe« (Franz von Sales). Das Sprichwort besagt: Es ist nicht das Wissen, sondern die Liebe, die darüber entscheidet, welchen Wert der Mensch vor Gott hat. Durch das Wissen wird das Erkenntnisvermögen, durch die Liebe der Wille vollendet. Folglich ist der Wille das Vermögen, von dem der Wert eines Menschen abhängt. Wenn Gott den Menschen richtet, schaut er nicht darauf, wie groß seine Erkenntnis, sondern wie groß seine Liebe ist. In diesem Sinne sagt ein vielfach kolportiertes Wort, das dem hl. Johannes vom Kreuz zugeschrieben wird: »Am Abend unseres Lebens werden wir nach der Liebe gerichtet werden.« Der Wille entscheidet also über den moralischen Wert eines Menschen.

In diesem Sinne war auch Immanuel Kant ein Voluntarist. Ob ein Mensch im eigentlichen Sinne gut ist, hängt für Kant allein von seinem Willen ab. Nur der Wille kann Träger jenes Wertes sein, der mit dem eigentlich Guten identifiziert wird. »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille« (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten). Unsere Frage scheint also klar zugunsten des Voluntarismus entschieden zu sein.

Dagegen steht allerdings ein anderer Gedanke, dessen Berechtigung aus christlich theologischer Sicht schwer abzustreiten ist: Unsere Seligkeit im Himmel besteht in der Schau Gottes. Es ist also Schau, Erkennen, Kontemplation, worin letztlich unsere Seligkeit und Vollendung besteht. Natürlich gehört im Himmel beides zusammen: Gottesschau und Liebe. Dennoch bleibt die Frage bestehen, worin die Seligkeit genau – »formaliter«, wie die Scholastiker sagen – besteht: in einem Akt des Willens oder in einem Akt der Erkenntnis? Es kann nur eines von beiden sein. Um sich davon zu überzeugen, dass es sich bei dieser Frage nicht um Spitzfindigkeiten handelt, genügt ein vertiefter Blick in das Buch des Philosophen Josef Pieper Glück und Kontemplation. Es ist nach meiner Einschätzung das spannendste Buch, das Pieper geschrieben hat, und die beste mir bekannte Verteidigung der thomistischen Position.

Das Frappierende an dieser Position ist, dass sie eine Offenbarungswahrheit, nämlich das Dogma über die visio beatifica, die beseligende Gottesschau im Himmel, exakt mit der von Thomas übernommenen Philosophie des Aristoteles harmonieren lässt. Denn für Aristoteles besteht das Glück des Menschen in der Theoria, in der Kontemplation der Wahrheit. Natürlich dachte Aristoteles nur an das irdische Leben und war sich infolgedessen auch darüber im Klaren, dass dieses Glück … bitte weiterlesen in "Wirklichkeitserschließendes Sollen". Dieses Buch enthält neun Aufsätze von mir. Für philosophisch und theologisch Interessierte ist es ein ideales Weihnachtsgeschenk. Weitere Informationen über das Buch finden Sie auf dieser Seite.


Recktenwald: Die Rettung der Vernunft

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