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Der Weg in die Frustration

Ein Interview mit dem Philosophen Robert Spaemann

Herr Professor, geht die Kirche in Europa wirklich "dem Licht entgegen", wie viele behaupten? Ist das auch Ihr Eindruck?

Robert Spaemann: Die Kirche geht immer dem Licht entgegen. Aber zu meinen, ihre Zukunftsaussichten in Europa seien rosig, ist wohl reines Wunschdenken. Der Wunsch, gerettet zu werden, ergreift heute in Afrika und Asien noch eine wachsende Zahl von Menschen. In der alten Welt nimmt dieser Wunsch ab. Die Evangelisierung Europas, die in den ersten zehn christlichen Jahrhunderten des Kontinents stattfand, geschah vor allem kraft der Tatsache, daß der Wunsch, an der Auferstehung teilzuhaben, die Menschen des ersten Jahrhunderts mächtig ergriffen hatte. Heute findet, was Europa betrifft, eine lautlose Abkehr der Massen von der Kirche statt.

Welche Gründe hat dieses Phänomen?

Spaemann: Es ist schwer, das in Kürze zu sagen. Aber eine Vorbemerkung ist wichtig: Man kann sich bei der Deutung dieses Phänomens nicht auf die Argumente derjenigen stützen, die der Kirche den Rücken kehren und von denen der heilige Johannes sagt: "Sie haben nicht zu uns gehört. Denn hätten sie zu uns gehört, so wären sie geblieben" (1 Joh 2,19). Die Unvollkommenheiten der Christen oder die Ärgernisse, die sie verursachen, können nie ausreichende Erklärungsgründe für das Verlassen der Kirche bieten. Daß das Plebiszit des Karfreitags zugunsten von Barabbas ausging, beweist, daß die Abkehr nicht in der mangelnden Glaubwürdigkeit des Verkündigers ihren Grund haben muß. Der Ungläubige kennt nicht den wirklichen Grund seines Unglaubens. Er kann also auch nicht sagen, unter welchen Umständen er glauben würde - zum Beispiel wenn er Tote auferstehen sähe oder wenn der Papst andere Bischöfe ernennen würde, wenn die Kirche aufhören würde zu behaupten, die Unfruchtbarmachung des Beischlafs sei gegen Gottes Gebot, wenn sie das Kirchensteuersystem ändern oder für den Sozialismus oder den Liberalismus optieren würde, wenn Frauen zu Priestern geweiht würden oder wenn der Pfarrer ein bißchen imponierender wäre. Wenn diese Bedingungen erfüllt wären, hätte der Unglaube sofort neue bereit. Glauben heißt nämlich: Fallenlassen der Bedingungen. Der Glaube ist ein rationaler, aber bedingungsloser Gehorsam, ein rationale obsequium.
Das eigentliche Problem in unserer westlichen Welt besteht nicht darin, daß die Kirche die Welt aufregt durch Ärgernisse, sondern daß sie eine ständig wachsende Zahl von Menschen einfach gleichgültig läßt. Leben aus dem Glauben erscheint immer weniger Menschen als eine echte, lohnende und vor allem wahre Alternative zu einem Leben "etsi Deus non daretur" - als wenn es Gott nicht gäbe.

In einem gewissen Sinn wird die Kirche gestraft für den Versuch, sich, koste es, was es wolle, mit der Welt "zu versöhnen", auch wenn das dazu führt, sich weltlichen Kriterien zu unterwerfen. Heute nimmt die Kirche mit Bestürzung wahr, daß die "Welt" sie ignoriert oder allenfalls für ihre Ziele mißbraucht. Muß sich etwas an der Art und Weise ändern, wie die Kirche ihre Beziehung zur Welt versteht?

Spaemann: Man muß klar sehen, daß sich der christliche Glaube in der Welt seit jeher im Kampf befindet. Schon der heilige Petrus sprach von einer übermenschlichen Gegenmacht, die "umhergeht wie ein brüllender Löwe" (1 Petr 5,8). Auch wie der Kampf ausgeht, ist bereits klar. Nämlich so, wie "in jener Zeit", als das ewige Wort Gottes 33 Jahre lang einen entlegenen Winkel dieses Planeten sichtbar bewohnte. Irdisch gesehen vergeblich. Das Unternehmen zur Rettung der Welt endete mit einer öffentlichen Hinrichtung dritter Klasse.
Dieses Ende war aber in Wirklichkeit der Anfang einer neuen Welt, nicht einfach eine fundamentale Umgestaltung "dieser Welt". "Diese Welt" ist für das Neue Testament der Terminus für das, was sich mit dem Tod Jesu das Urteil gesprochen hat, was dem Untergang geweiht ist und eigentlich schon nicht mehr zählt, da der Herr ausdrücklich "nicht für die Welt" mehr betet, sondern "für die, die Du mir gegeben hast" (Joh 17,9). Denn "die ganze Welt ist in der Gewalt des Bösen" (1 Joh 5,19). Was zählt sind die, die "sich retten lassen aus diesem verkehrten Geschlecht" (Apg 2,40), um "mitten unter einem verkehrten und verdrehten Geschlecht zu leuchten wie die Sterne im Weltall" (Phil 2,15).

Aber kann man denn von einem unaufhaltsamen Niedergang des Glaubens in Europa sprechen?

Spaemann: Wir sollten uns nicht anmaßen, bestimmte geschichtliche Situationen heilsgeschichtlich verbindlich zu deuten. Immerhin besitzen wir einige Fixpunkte für jede mögliche christliche Deutung. Es ist uns gesagt, daß am Ende der Geschichte der große Abfall kommt (2 Thess 2,3), daß der Menschensohn, wenn er wiederkommt, fast keinen Glauben mehr antrifft (Lk 18,8), daß auch die Christen sich Lehren nach ihrem eigenen Geschmack zurechtmachen werden (2 Tim 4,3), daß der Antichrist schließlich das Feld besetzen wird (2 Thess 2,4), daß die Liebe vieler erkalten wird (Mt 24,12) und daß, wenn die Tage nicht abgekürzt würden, kein Mensch gerettet würde (Mt 24,22). Mit einem Wort, man muß sich darüber im klaren sein, daß der wahre Glaube für "diese Welt" immer unplausibler werden wird.

Das sind, rein menschlich betrachtet, nicht gerade schöne Aussichten...

Spaemann: Gewiß. Aber diese Dinge sind uns andererseits zum Trost gesagt, damit, wenn es eintritt, "ihr euch erinnert, daß ich es bin" (Joh 13,19). Außerdem macht es paradoxerweise Mut, denn es macht den Sinn der Verkündigung des Evangeliums unabhängig von futurologischen Prognosen. Im übrigen wissen wir nicht, an welcher Stelle der Geschichte wir stehen, ob das Ende aller Dinge unmittelbar vor der Tür steht, ob Gott im Europa des nächsten Jahrtausends noch einmal "viel Volk" haben wird, oder schließlich, ob der Leuchter ganz einfach von der Stelle gestoßen wird, wie der der Gemeinde von Ephesus (Offb 2,5), und unser Kontinent wieder ins Dunkle sinkt. Es ist auch nicht notwendig, dies zu wissen, denn die Zukunft der Kirche ist nicht unsere Sache. Unsere Sache ist es nur, im jeweils gegenwärtigen Augenblick alles zu tun, was in unserer Macht steht, damit der Hausherr, wenn er kommt, die Knechte wachend findet (Luk 12,37). Und was wir zu diesem Zweck tun sollen, ist immer dasselbe: Gebet, Fasten, Verkündigung des Evangeliums, Taten der brüderlichen Liebe. Darüber hinaus gehören heute dazu Nüchternheit, Verblüffungsresistenz, die Bereitschaft, sich nicht in die eigene Tasche zu lügen, sondern der gegenwärtigen Realität ins Auge zu sehen, sie mit allen rationalen Mitteln zu analysieren, um sie dann im Lichte der Offenbarung zu beurteilen.

Wie reagiert die Kirche auf die schwierige Lage, in der sie sich heute in Europa befindet?

Spaemann: Es gibt zwei meines Erachtens falsche Weisen, darauf zu reagieren. Die eine dieser Reaktionen besteht darin, die Situation zu verharmlosen und zu harmonisieren. Man verhält sich einerseits wie der Fuchs, dem die Trauben zu sauer sind. Man erklärt die Volkskirche - die im Schwinden ist - überhaupt für ein Mißverständnis und die Konstantinische Wende für einen Sündenfall. Man plädiert für eine Kirche aus "Entscheidungschristen", ohne es andererseits für heilsnotwendig zu halten, einer solchen Entscheidungskirche auch wirklich anzugehören. Im Grunde sei ja die ganze Menschheit schon gerettet, und die Kirche nur das Zeichen ihrer Rettung. Wer ihr fern sei, sei allenfalls "noch fern", wie es in der deutschen Übersetzung des Kanongebetes euphemistisch heißt. Die Möglichkeit, daß jemand ein Leben lang fern ist oder sich nicht auf dem Weg zu Gott, sondern auf der Flucht vor ihm befindet, wird dabei gar nicht in Betracht gezogen. Der erste Satz des Athanasianischen Glaubensbekenntnisses, das, ebenso wie das Nicänische, Ost- und Westkirche verbindet, wird dabei sorgfältig unter Verschluß gehalten: "Wer immer gerettet werden will, für den ist es vor allem notwendig, daß er den katholischen Glauben festhält."
Man akzeptiert also die eigene Lage als Minderheit, sieht in ihr etwas Normales und mildert sie dann durch "Pluralismus".

Und wie sieht die andere falsche Reaktion aus?

Spaemann: Die entgegengesetzte Reaktion ist durch die Furcht vor dem Ghetto bestimmt. Sie besteht darin, die Volkskirche um jeden Preis zu erhalten, auch um den Preis, daß die Kirche ihre Identität als Gemeinschaft der Glaubenden preisgibt. Die Mysterien werden verramscht. Die heilige Kommunion wird zum Schlußverkauf. Von Zutrittsbedingungen ist überhaupt nicht mehr die Rede. Kindern, von denen bekannt ist, daß sie bis zum Sonntag davor nie eine heilige Messe besucht haben und spätestens am übernächsten Sonntag dort nicht mehr erscheinen werden, werden zur Erstkommunion geführt, nachdem sie ihre offizielle Vorbereitung durch nicht-katholische Frauen erhielten, die sonntags auch in ihre eigene Kirche gehen (ich bin bereit, das mit Beispielen zu belegen). Oder: Wenn wir auf die hohen Scheidungsziffern der Ehepaare blicken, die einmal kirchlich getraut wurden, dann ist nicht anzunehmen, sie alle hätten ihr Ansichten über Gott und die Welt im Lauf ihrer Ehe geändert. Näherliegend ist die Annahme, daß die Zulassung zur kirchlichen Trauung nicht an ein Gespräch geknüpft war, in dem die Zustimmung zur Unauflöslichkeit der Ehe als Bedingung deutlich ausgesprochen wurde. Die Kirche wird nicht dadurch zur Volkskirche, daß sie den billigen Jakob macht. Sie zieht sich dadurch nur Verachtung zu.

Wie aber ist darauf angemessen zu reagieren?

Spaemann: Die Alternative zum Ghetto ist weder die Selbstrelativierung zu einer Gruppe unter anderen, die "ihren Beitrag leisten" zu dem großen Ganzen unserer Zivilisation, noch der Versuch, die Unterscheidungsmerkmale zu verwischen und dadurch selbst das große Ganze zu sein. Die einzige christliche Alternative zum Ghetto heißt daher: Mission. Die Diskrepanz zwischen dem universalen Anspruch der Botschaft des Evangeliums und der Minderheitssituation derer, die diesen Anspruch anerkennen, wird bis zum Ende der Tage nicht verschwinden. Das bedeutet aber, da Mission nur möglich ist, wenn diejenigen, die in dieser Minderheitssituation leben, in dem Bewußtsein leben, "den besten Teil erwählt zu haben". Ohne ein solches Selbstbewußtsein ist diese Situation nicht zu verkraften, vor allem für Jugendliche nicht. Das sei "elitär", heißt es. Ja, gewiß. Aber nur da, wo der Glaube als unverdientes Privileg erlebt wird, kann das Christentum den Wunsch erwecken, an diesem Privileg teilzuhaben. Um andere zu gewinnen, muß man dasjenige, wofür man sie gewinnen will, 1. als wahr, 2. als gut, das heißt rettend und 3. als schön, das heißt als Quelle der Freude zeigen, als etwas, das durch seine innere Schönheit unwiderstehlich ist. Davon ist die Selbstdarstellung des Christentums heute ziemlich weit entfernt. Das Christentum wird zu einer möglichen und tolerierbaren Weltansicht unter anderen relativiert. Sie wird nicht als die Sicht der Wirklichkeit im Lichte ihres Ursprungs gezeigt. Es heißt, jeder müsse selbst seinen Weg finden, obgleich doch der Prophet Jesaja es als Zustand der Verlorenheit beschreibt, da "jeder seinen eigenen Weg" sucht (Jes. 53,6). Und obgleich wir allsonntäglich das Gebet hören "Rette uns vor dem ewigen Verderben", scheint die reale Gefahr, definitiv verloren zu gehen, in Wirklichkeit nicht mehr zu existieren. Wo aber die Gefahr nicht real ist, ist es die Rettung auch nicht, und das Christentum wird trivial.

Wo aber begegnet man dieser inneren Schönheit, die den Menschen unwiderstehlich anzieht?

Spaemann: Was die Schönheit betrifft, so ist sie nirgends besser und einleuchtender anzuschauen als im Leben der Heiligen. Ist heute einmal von ihnen die Rede, so müssen wir bis zum Überdruß hören, daß sie Menschen waren wie du und ich. Aber sie waren besser als du und ich. Nur deshalb sind sie für uns wichtig.

Mehr noch als die direkte Leugnung des Glaubens ist heute eine gewisse "kritische Distanz" zum christlichen Ereignis festzustellen. Ist es nicht das, was der Mission jede Energie nimmt?

Spaemann: Charles Peguy definierte den Modernismus einmal als die Haltung dessen, der "nicht glaubt, was er glaubt". Und verführen nicht die vielen Anführungszeichen in der Verkündigung und das Sich-Verstecken hinter der Philologie einem solchen "nicht glauben, was man glaubt"? Nehmen wir ein konkretes Beispiel. Womit soll ein Katechismus beginnen: mit der Erschaffung der Welt oder mit der Geschichte der Entstehung des Berichtes von der Erschaffung der Welt, also mit dem Buch Exodus? Ein Katechismus, der auf die zweite Weise beginnt, zerschneidet das Band, das uns mit dem Volk Israel verbindet und es uns ermöglicht, "von unseren Vätern, den Kindern Israels" zu sprechen, wie die Liturgie es tut. Dieses Band besteht nämlich in dem gemeinsamen Blick auf das, worüber uns die Heiligen Schriften berichten. Wenn stattdessen die Entstehung dieser Schriften der primäre Gegenstand ist, und der Schöpfungsbericht nur quasi in indirekter Rede erscheint, dann muß man sich fragen, wen das außer Philologen noch interessieren soll. Es gibt ja so viele Bücher. Warum soll einen gerade die Bibel interessieren, wenn sie nicht mehr das Wort Gottes ist? Katechismen dieser Art haben keine missionarische Kraft.

Die Liturgie ist ein anderes Gebiet, in dem traditionellerweise die Schönheit des Christentums zu Hause war...

Spaemann: Alle Verkündigung der Wahrheit, alle Warnung vor dem ewigen Verderben und alle Verheißung unsterblichen Lebens gehen ins Leere, wenn sie nicht mit einer geheimen inneren Anziehungskraft verbunden sind. "Niemand kommt zu mir, den der Vater nicht zieht" (Joh. 6,44). Diese Anziehungskraft heißt im christlichen Sprachgebrauch "Gnade"; das Wort "charis" bedeutet im Griechischen zugleich "Anmut". Was uns auf eine begrifflich unaussprechliche Weise von innen anzieht, nennen wir das Schöne. Die heilige Messe, die "göttliche Liturgie", wie die Ostkirche sagt, ist - gerade weil sie Anbetung und Opfer, also ganz dem Vater zugewandt ist - der Ort einer himmlischen Schönheit. In Europa war sie über tausend Jahre lang die Mitte aller Künste. Weil sie gewissermaßen der Prototyp des Kunstwerks ist, darf es in ihr nichts Beliebiges geben. Jedes Detail ist wichtig. Deshalb hat die Messe immer wieder große Dichter und Musiker inspiriert, und deshalb sind es gerade Künstler, die die Liturgiereform der katholischen Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil weitgehend für mißglückt halten - schon deshalb, weil mit ihr die Beliebigkeit und damit die Banalität in die Liturgie eingezogen ist. Unsere Spontaneität ist nicht, wie die der ersten Christengenerationen, so durchformt von einem "Leben im Geist", daß Priester oder Liturgieausschüsse spontan formulieren können, wozu jeder andere Christ "Amen" sagen kann. Beliebigkeit ist das Gegenteil von der jedem Kunstwerk innewohnenden Gesetzmäßigkeit. Erst als Konsequenz jener Gesetzmäßigkeit wird die geheime Anziehungskraft des Schönen erspürt. Wenn man beginnt, die Liturgie unter dem Gesichtspunkt des Abwechselnden, des Neuen und Interessanten zu "gestalten", dann wird sie unvermeidlich langweilig werden. Eine solche Erwartungshaltung kann am Ende doch nur enttäuscht werden. So interessant kann es in der Messe auch auf Dauer gar nicht sein. In einer Welt sich jagender Informationen und permanenter Berieselung durch Worte wird dagegen eine Feier der Anbetung, des Opfers und des Mahles in immer gleicher sakraler Form von Jahr zu Jahr faszinierender. Es wird heute oft geklagt über den Verlust des Zusammenhangs von Glaube, Kirche und Kultur. Dieser Zusammenhang wird nicht durch Tagungen und Veranstaltungen wiederhergestellt, sondern dadurch, daß dasjenige in seiner Strahlkraft wiederhergestellt wird, was die Mitte jeder christlichen Kultur bildet: der christliche Kult.

Die Langeweile stellt heute ein wenig die Grundverfassung des Christentums dar. Ist es nicht paradox, daß sie das Ergebnis all der Bemühungen ist, die Kirche für die Menschen unserer Zeit interessant zu machen?

Spaemann: Wenn wir uns fragen, warum heute die Kirche immer wieder Gegenstand von Enttäuschungen und Frustrationen ist, so scheint mir eine einfache Antwort auf diese Frage möglich zu sein: Das ist nicht paradox, sondern logisch. Die Kirche hat in den letzten zwanzig Jahren eine Erwartungshaltung ihr gegenüber gefördert oder doch unwidersprochen gelassen, die sie, wenn sie ihrem Wesen treu bleibt, am Ende eben doch nicht erfüllen kann: die Erwartung einer anderen Kirche. Die Folge sind Enttäuschung, Wut, Verbitterung. Man hat es geschehen lassen, daß in der Kirche die Begriffe "fortschrittlich" und "rückschrittlich" durch weltliche Parameter definiert wurden, also durch andere Parameter als die der Heiligkeit, und daß das Handeln der Kirche daran gemessen wurde. Das kann nur zu Frustrationen führen. Nehmen Sie ein Beispiel aus der Liturgie: Je mehr die Gestalt der Messe der Gestalt der protestantischen Abendmahlsfeier angeglichen wird, umso größer ist die Enttäuschung darüber, daß letztlich doch keine Kommuniongemeinschaft stattfinden darf. Es stört die Freundschaft zwischen der orthodoxen Kirche und den protestantischen Kirchen überhaupt nicht, daß zwischen Orthodoxen und Protestanten keine Interkommunion stattfindet. Die orthodoxe Liturgie ist vom protestantischen Gottesdienst so eindeutig unterschieden, daß niemand eine solche Erwartung haben würde. So tritt auch keine Frustration ein, wenn es keine Interkommunion gibt. Solche Frustrationen sind aber für den Ökumenismus sehr schädlich.

Herr Professor, jede Synode ist eine Gelegenheit für die Kirche, sich ihres Auftrages in der Welt neu bewußt zu werden. Was wünschen Sie sich für die Synode zu Europa?

Spaemann: Es muß Schluß sein mit Orientierungen, die am Ende nur neue Frustrationen produzieren. Die Zukunft des Glaubens hängt davon ab, daß der Glaube als eine Quelle der Freude sichtbar wird. Der Mensch kann nichts Gutes und Richtiges tun ohne Freude. Und die Freude, die etwas ganz anderes ist als ein keep smiling, ist unzertrennlich geknüpft an die Eindeutigkeit des Zeugnisses. Zu lange schon spielen sich Theologen als "Herren unseres Glaubens" auf, statt "Diener unserer Freude" (Paulus) zu bleiben. Nur wenn die falschen Erwartungen offensiv als illusionär und unbegründet aufgewiesen werden, wird der Glaube wieder als Quelle der Freude sichtbar. Die Neuevangelisierung hängt davon ab. Denn am Ende wendet sich jeder dorthin, wo er die tiefste Freude erwartet.

Das Interview wurde von Tommaso Ricci geführt und erschien zuerst in der Monatszeitschrift 30 Tage in Kirche und Welt (11/91).


Weitere Beiträge von Prof. Dr. Robert Spaemann

Martin Mosebach über die Liturgie


Schulen der Heiligung gründen

Am Ende seines Meisterwerks „After Virtue“ vergleicht der Philosoph Alasdair MacIntyre die Umstände, unter denen heute Menschen mit traditionellen Sichtweisen leben, mit jenen der Männer und Frauen im sogenannten „Finsteren Mittelalter“. Er stellt fest, dass es für sie damals – wie für uns heute – entscheidend war, überschaubare Gemeinschaften zu bilden, in denen die Umgangsformen sowie das intellektuelle und moralische Leben durch die dunkle Zeit – in der wir mitten drin sind – erhalten bleiben können. Und wenn diese Tradition der Tugenden während der jüngsten dunklen Zeiten durchgehalten werden konnte, sollten auch wir nicht die Hoffnung verlieren.
Diesmal erwarten uns die Barbaren jedoch nicht außerhalb der Mauern – sie regieren uns schon seit geraumer Zeit. Dass wir uns dessen so wenig bewusst sind, ist unser Dilemma. Wir warten nicht auf Godot, sondern auf einen neuen – zweifellos ganz anderen – hl. Benedikt.
Wenn ich MacIntyre richtig verstehe, so besteht eine der Möglichkeiten, wie wir in einer so tief gespaltenen Welt fruchtbar wirken könnten, darin, Pfarren, Seminare, Clubs, Universitäten und Familien ins Leben zu rufen, die wahre Schulen der Heiligung sind.

Aus einem Vortrag von Erzbischof Charles J. Chaput OFMCap vom 6. August 2014, auszugweise auf deutsch in der Zeitschrift Vision 2000 erschienen (Januar 2018). Das Original im Crisis Magazine. Sein Vorschlag entspricht der Benedikt-Option.

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