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„Was überall, immer, von allen geglaubt wurde“
Überlegungen zum Jahr des Glaubens nach Vinzenz von Lérins

Von Prof. Dr. Michael Fiedrowicz

Kriterien der Wahrheitsvergewisserung

Vinzenz von Lérins lebte als Priestermönch in einem Kloster auf der kleinen Mittelmeer-Insel Lérins, unweit des heutigen Cannes gelegen. Hier verfasste er im Jahre 434 das sogenannte Commonitorium [1]. Der Titel, der ursprünglich „Merkbuch“ oder auch „Denkschrift“ bedeutete, war zu jener Zeit für kleine Traktate primär dogmatisch-antihäretischen Inhalts gebräuchlich. Vinzenz behandelt hier, drei Jahre nach dem Konzil von Ephesus, Fragen der Christologie. Doch weitaus wichtiger sind seine grundsätzlichen Überlegungen zur theologischen Erkenntnis. Gleich zu Beginn fragt er, „mit welcher sicheren und zugleich allgemeingültigen Methode man die Wahrheit des katholischen Glaubens von der Falschheit häretischer Entstellung zu unterscheiden vermag“ (comm. 2,1). Der zunächst erwogene Rekurs auf die Heilige Schrift allein erweist sich alsbald als Aporie, wie die kontroverse Auslegungsgeschichte der Bibel und die Argumentation mit Schrifttexten bei sämtlichen Irrlehrern beweisen. Die Schrift müsse daher im Licht der Überlieferung ausgelegt werden. Soweit hat Vinzenz eigentlich nur den consensus unanimis patrum referiert, den einhelligen Väterkonsens. Neuland beschreitet der gallische Priestermönch, wenn er nun genaue Kriterien benennt, wie sich denn die authentische Tradition ermitteln lasse. Hier folgt der berühmte, vielfach zitierte, also klassische Grundsatz, auch „Kanon des Vinzenz“ genannt: „In der katholischen Kirche ist in besonderem Maße dafür Sorge zu tragen, dass wir das festhalten, was überall, was immer, was von allen geglaubt wurde: das ist nämlich wahrhaft und eigentlich katholisch“ (comm. 2, 5).

Um die Wahrheit des katholischen Glaubens von der Falschheit des häretischen Irrtums unterscheiden zu können, fordert Vinzenz also den persönlichen Anschluss an das Glaubensbewusstsein der Gesamtkirche (ecclesiasticus et catholicus sensus: comm. 2, 4). Dessen verschiedene Dimensionen und Manifestationen fasst er mit der klassischen Formel zusammen: „Es ist das festzuhalten, was überall, was immer, was von allen geglaubt wurde“ (comm. 2, 5). Was es konkret bedeutet, sich bei der Wahrheitsfindung an diesen Kriterien zu orientieren, wird anschließend erläutert. Das Prinzip der Universalität (ubique) befolgt, wer den wahren Glauben der Gesamtkirche bekennt; dem Alter (semper) schließt sich an, wer gegenüber Neuerungen am Glauben aller Zeiten festhält; dem Grundsatz des Konsenses (ab omnibus) entspricht, wer sich am alten Glauben orientiert, wie er sich in Dekreten eines Universalkonzils oder im Konsens bewährter Glaubenslehrer manifestiert (comm. 2, 6; 3, 1-4). Die Kriterien greifen nacheinander. Sie sind sukzessiv anzuwenden. Das jeweils folgende Kriterium kommt nur in Ermangelung des vorangegangenen zum Einsatz. Wenn das erste versagt, wird das zweite befragt; wenn auch dieses nicht genügt, kommt das letzte zum Tragen. Das heißt: Wird eine Irrlehre nur von einer Minorität vertreten, soll man sich an das allgemeine Glaubensbewusstsein der Gesamtkirche halten; hat sich eine Irrlehre bereits in der ganzen Kirche verbreitet, so dass das Kriterium des „überall“ keine Unterscheidung mehr ermöglicht, dann bietet das von der Neuerung noch unberührte Alter Orientierung; kann schließlich eine Irrlehre selber schon ein hohes Alter aufweisen, so dass das Glaubenszeugnis auch dieser Epoche nicht mehr einhellig ist, dann ist innerhalb des Altertums auf die Beschlüsse eines allgemeinen Konzils oder, falls ein solches fehlt, auf übereinstimmende Aussagen der maßgeblichen Glaubenslehrer zu rekurrieren (comm. 3, 1-4; 27, 3-4).

Historische Beispiele der Anwendung

Vinzenz illustriert die Anwendung dieser drei Kriterien, indem er die jeweilige Reaktion der Kirche angesichts des Donatismus, Arianismus und Nestorianismus schildert (comm. 4, 1-7; 29, 7-30, 7). Gegenüber dem donatistischen Schisma, wo die Gültigkeit der Sakramente an die subjektive Heiligkeit des Spenders gebunden wurde, rekurrierte die Kirche auf das Prinzip der Universalität. Hier hatte der Irrtum nur Nordafrika erfasst. In diesem Falle genügte allein schon die Gegenüberstellung des universalen Glaubens der Kirche, um den Irrtum jener Minorität zu erweisen (comm. 4, 2). Securus iudicat orbis terrarum („Der Erdkreis urteilt zuverlässig“), sagte damals Augustinus (c. ep. Parm. 3,24); ein Wort, das übrigens auch für J.H. Newman prägend wurde, um zur katholischen Kirche zu konvertieren. Die universale Bezeugung einer Glaubenslehre galt der frühen Kirche stets als sicheres Kriterium der Zugehörigkeit zur Offenbarungswahrheit. Nur weil etwas aus apostolischer Überlieferung stammt, wird es überall übereinstimmend geglaubt (consensio universitatis). Umgekehrt gilt dann: Was gegenwärtig in dieser Weise geglaubt wird, gehört unbezweifelbar zum Depositum fidei.

Das Kriterium der universitas kann jedoch als Unterscheidungsmerkmal ausfallen. Nicht aufgrund eines generellen Irrtums oder Glaubensabfalls der Kirche, die sich einer falschen Lehre zuwandte, sondern aufgrund einer zeitweiligen Verwirrung der Gläubigen in einer bestimmten Epoche. Wenn infolge einer zeitweiligen Orientierungslosigkeit innerhalb der Kirche der universale Charakter einer bestimmten Glaubenslehre nicht evident ist, muss auf das zweite Kriterium, das Alter (antiquitas), d.h. die Überlieferung der Vergangenheit zurückgegriffen werden. Die Situation, dass eine Irrlehre nahezu den ganzen Erdkreis erfasste und große Teile selbst des Episkopates verwirrte, sah Vinzenz (comm. 4, 3) in den arianischen Wirren Mitte des 4. Jh. gegeben. Arius hatte bekanntliche die göttliche Wesensgleichheit des Sohnes bestritten und diesen nur als Gottes höchstes Geschöpf betrachtet. Im Jahre 359 hatten die über 400 in Rimini versammelten westlichen Bischöfe ebenso wie die 150 in Seleucia tagenden Bischöfe des Ostens unter dem Druck des Kaisers dem homöischen Bekenntnis zugestimmt: der Sohn sei dem Vater ähnlich (homoios) gemäß der Schrift. Das nizänische Homousios („gleichen Wesens“) wurde verboten und die homoios-Formel zum Reichsbekenntnis erhoben. Hieronymus (c. Lucif. 19) kommentierte: „Der Erdkreis seufzte auf und wunderte sich, dass er arianisch geworden war.“

Vinzenz schildert nun das Vorgehen des Bischofs Ambrosius in diesen trinitätstheologischen Wirren nach Nizäa (comm. 5, 1-4), „als das Gift der Arianer nicht nur einen kleinen Teil, sondern beinahe den ganzen Erdkreis verseucht hatte“ (comm. 4, 3). Indem der Bischof von Mailand vor allem in seinem Kaiser Gratian gewidmeten Werk De fide „die Weisungen der Alten“ (praecepta maiorum: comm. 5, 2), insbesondere das Glaubensbekenntnis von Nizäa, zum verbindlichen Maßstab machte, gelang es der Kirche zurückzufinden „vom neuen Unglauben zum alten Glauben, vom Irrsinn der Neuerung zur alten Vernünftigkeit, von der Blindheit der Neuerung zum alten Licht“ (comm. 5, 4).

Auch das zweite Kriterium (semper) kann versagen, wenn sich der universale Glaube der Kirche des Altertums nicht klar manifestiert. Vinzenz rechnet mit der Möglichkeit, dass auch im Altertum nicht nur einzelne Irrlehrer aufgetreten sind, sondern ganze Provinzen vom Irrtum erfasst wurden. In diesem Fall kann in zweifacher Weise vorgegangen werden. Wenn Lehrdekrete eines Universalkonzils vorliegen, sind diese dem Irrglauben entgegenzuhalten (comm. 3, 3; 27, 4; 28, 4; 29, 5), sofern hier zumindest indirekt oder implizit eine Antwort auf die aktuelle Frage gegeben ist. Falls aber keine Entscheidungen eines ökumenischen Konzils Orientierung bieten, bleibt der Rekurs auf bewährte Glaubenslehrer der Vergangenheit, deren Konsens das gesuchte Kriterium der Wahrheitsvergewisserung bietet (comm. 3, 4; 27, 4; 28, 1.7; 29, 6). Ausdrücklich betont Vinzenz, dass zur Klärung von Lehrfragen nicht isolierte Zeugnisse einzelner Väter heranzuziehen sind, vielmehr erst der Zusammenklang ihrer Stimmen, der Konsens ihrer Aussagen die erforderliche Gewissheit bietet (comm. 3, 4). Der Konsens manifestiert sich darin, dass die fragliche Lehre ausdrücklich, häufig und beständig (aperte/manifeste, frequenter, perseveranter: comm. 3, 4; 28, 7) in Wort und Schrift verkündet wurde. Gerade wenn die einzelnen Stimmen chronologisch und geographisch weit voneinander entfernt liegen (diversis licet temporibus et locis: comm. 3, 4), kommt ihrem Einklang umso größeres Gewicht zu. Exemplarisch sieht Vinzenz dieses Vorgehen auf dem Konzil von Ephesus (431) verwirklicht. Gegenüber dem Nestorianismus, der göttliche und menschliche Natur in Christus allzu sehr voneinander trennte, wurde in Ermangelung einer konziliaren Entscheidung des Altertums die Einmütigkeit autoritativer Traditionszeugen herangezogen. Die dort gegen Nestorius angeführten Väterzitate vermochten geographisch (Griechenland, Kleinasien, Nordafrika, Rom) wie chronologisch (3.-5. Jh.) den Glauben der Gesamtkirche zu repräsentieren, obwohl es insgesamt kaum mehr als zehn Kirchenväter waren, die damals gegen Nestorius aufgeboten wurden. Vinzenz schmückt seine Aufzählung jener „Zeugen und Richter“ (testes et iudices) mit glanzvollen Epitheta, die die einen als Bekenner, andere als Martyrer preisen, allen aber theologische Weisheit und unbeirrbare Glaubenstreue zuerkennen. Der repräsentative Charakter dieser Stimmen gestattete es, auf weitere Zeugnisse zu verzichten, die den schon sichtbar gewordenen Konsens nur bestätigt, nicht aber modifiziert hätten (comm. 30, 7). Wenngleich nicht die Übereinstimmung einiger weniger, sondern der großen Mehrheit der Väter notwendig ist, um den Glauben der Kirche authentisch zu bekunden, so können doch das Ansehen der Personen, die weite Spannbreite von Zeit und Ort sowie die Ausdrücklichkeit der Aussagen bewirken, dass das Zeugnis einiger den Konsens aller mit Sicherheit zum Ausdruck bringt.

In seinem Kanon Ubique, semper, ab omnibus hat Vinzenz also die verschiedenen Reaktionsweisen der Kirche auf Irrlehren – den Rekurs auf die Prinzipien universitas, antiquitas, consensio - systematisiert und als Methode auch für künftige Krisensituationen empfohlen (comm. 2, 1; 27, 5).

Unterscheidung der Geister im Nebeldunst

Ein Vorwurf wurde insbesondere im 19. Jh. Vinzenz gemacht: man meinte, dass der Kanon, indem er zur persönlichen Anwendung durch den einzelnen Gläubigen konzipiert sei (comm. 3, 1), dem Privaturteil Vorschub leiste und dem kirchlichen Lehramt zuwenig Bedeutung beimesse. Die Vinzentinische Regel verweise den Einzelnen auf sein unmittelbares, individuelles Wissen, das jedoch unzulänglich sei, anstatt ihn zu einer äußeren, die persönliche Einsicht ergänzenden und erweiternden Autorität zu führen, die im Widerstreit der Meinungen die Wahrheit mit Gewissheit erkennen lässt. Wenn demgegenüber auf das kirchliche Lehramt verwiesen wird, das nach katholischem Verständnis das entscheidende Kriterium (regula fidei proxima) bildet und die gesuchte Gewissheit zu gewähren vermag, wird verkannt, dass Vinzenz seinen Kanon gerade für solche Situationen konzipierte, wo entweder eine lehramtliche Entscheidung zu einer Kontroverse noch nicht vorlag oder sich gar „eine Art Nebeldunst“ auf die Vertreter des Lehramtes gesenkt hatte (comm. 4, 3), so dass der einzelne Gläubige sich vorerst selber um eine Urteilsfindung bemühen musste (comm. 2, 1; 3, 1; 27, 1.5). Die Regeln des Commonitorium sind in dem Fall anzuwenden, dass Irrlehren oder zumindest der Häresie verdächtigte Meinungen auftreten, deren Falschheit jedoch erst noch zu prüfen ist und deren Vertreter noch nicht offiziell verurteilt sind. In einer solchen Situation soll sich der Einzelne der drei Kriterien bedienen, um in Ermangelung einer kirchlichen Stellungnahme eigenständig eine Unterscheidung der Geister vollziehen zu können. Das Commonitorium wurde nicht geschrieben, um die Autorität der Kirche zu ersetzen, sondern um den Gläubigen gegenüber neu aufkommenden Häresien (haereses ... novitiae recentesque) zu wappnen (comm. 28, 3-4), gerade indem es ihn von subjektiven Meinungen zu einem objektiven Urteil über den wahren Glauben der Kirche führt.

Aktuelle Anwendbarkeit?

Es wäre höchst interessant zu fragen, ob und wie sich diese Kriterien auch auf die aktuellen Probleme anwenden ließen. Bietet der Kanon des Vinzenz auch hier den „Ariadnefaden“, wie im 19. Jh. einmal gesagt wurde, um aus dem Labyrinth verwickelter Lehrfragen herauszufinden?

An dieser Stelle nur einige kurze Überlegungen hierzu. Securus iudicat orbis terrarum, „der Erdkreis urteilt zuverlässig“ – dieser Optimismus eines Augustinus in der donatistischen Krise gilt heute sicherlich nicht mehr. Der allgemeine Glaubenssinn der Gläubigen (sensus fidelium) scheint gegenwärtig aus verschiedenen Gründen (u.a. „Verdunstung des Glaubens“) kaum noch eine verlässliche Bezeugungsinstanz des katholischen Glaubens zu sein. Ebensowenig ließe sich wohl behaupten, die Vinzentinische Situationsanalyse, derzufolge sich „eine Art Nebeldunst“ auf die Bischöfe gelegt habe (comm. 4,3), treffe einzig und allein auf die arianische Krise im 4. Jh. zu und könne sich nie mehr in der Kirchengeschichte wiederholen. Das erste Kriterium des vinzentinischen Kanon – was aktuell überall geglaubt wird, ist wahrhaft katholisch – wird daher schwerlich anzuwenden sein, um die Wahrheit zu finden. Eher könnte oder müsste man mit Hieronymus klagen: „Der Erdkreis seufzte auf und wunderte sich, dass er arianisch geworden sei.“

Es bleibt also nur der Rekurs auf die antiquitas, auf das, was immer geglaubt wurde. Insofern wird das Kriterium Quod semper creditum est immer wieder anzuwenden sein, wenn angesichts aktueller Kontroversen die Legitimität bestimmter Glaubensauffassungen zu überprüfen ist.

Erschwerend mag allerdings hinzukommen, dass wir uns in manchen Punkten von Situation zwei – also Ausfall des ubique, daher Rekurs auf das semper – zu Situation drei hin bewegen: Verbreitung eines Irrtums auch schon in der Vergangenheit. Manche aktuelle Probleme sind ja nicht erst nach dem Konzil durch falsche Interpretation seiner Dokumente entstanden, sondern durch gewisse Formulierungen der Texte selbst begünstigt und ermöglicht worden. Wenn in diesem Jahr in Erinnerung an den Konzilsbeginn 1962 schon wieder die nächste Runde der, um mit Msgr. Gherardini zu sprechen, „Inzensation des Konzils mit drei Doppelzügen“ [2] eingeläutet wird, dann beginnt eben eine Phase, wo gewisse Aussagen, die fragwürdige Interpretationen oder „Umsetzungen“ zuließen, immerhin schon ein halbes Jahrhundert alt sind. Desweiteren hat ja das Konzil, wie der römische Historiker Roberto de Mattei in seinem neuen Buch „Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte“ [3] aufgezeigt hat, geistesgeschichtlich weitaus ältere Wurzeln: liturgische Bewegung, ökumenische Bewegung, biblische Bewegung, Nouvelle Théologie u.ä. nahmen seit den 20er Jahren des letzten Jahrhundert ihren Lauf, um unverkennbar auch das Konzil zu prägen. Noch weiter zurück reicht der Einfluss des Modernismus, wie de Mattei scharfsichtig diagnostiziert. Gewiss sind manche dieser Irrtümer in der Vergangenheit lehramtlich verurteilt worden (Lamentabili, Mediator Dei, Humani generis). Trotzdem zeigt sich im zähen Weiterleben bestimmter irriger Auffassungen, dass inzwischen auch das zweite Kriterium des Vinzentinischen Kanon Quod semper creditum est in manchen Fällen nur mit Bedacht herangezogen werden kann und eine umsichtige Differenzierung verlangt.

So wird heute in den theologischen Diskussionen vielfach der dritte modus procedendi anzuwenden sein: der Rekurs auf den Konsens bewährter Glaubenslehrer. Hier wird es wichtig sein, dass dieser Konsens, wie Vinzenz anhand der in Ephesus herangezogenen Väterzeugnisse zeigt, sich möglichst zeit- und raumübergreifend manifestiert. Wenn sich beispielsweise darlegen ließe, dass bestimmte Glaubensauffassungen schon von einem Vertreter der Martyrerkirche wie Justin, von einem nordafrikanischen Bischof der Spätantike wie Augustinus, von scholastischen Dominikaner- und Franziskanertheologen wie Thomas von Aquin und Bonaventura, von einem Kontroverstheologen der frühen Neuzeit wie Kardinal Bellarmin SJ, schließlich im 19. Jh. von einem Vertreter der römischen Schule wie dem Jesuiten Franzelin vertreten wurden, dann würde sich im Einklang ihrer Stimmen, ähnlich wie auf dem Konzil von Ephesus, ein einhelliges Zeugnis des katholischen Glaubens manifestieren, um verlässliche Orientierung in der gegenwärtigen Fragestellung zu bieten. Soweit einige Überlegungen zu möglichen Aktualisierungen des vinzentinischen Kanons.

Umgang mit Lehrautoritäten

Was war nun Anlass und Hintergrund für die Abfassung des Commonitorium? Bereits in der Einleitung wird als konkreter Anlass für dieses Werk „die Hinterlist neuer Häretiker“ genannt, die „viel Sorgfalt und Aufmerksamkeit auferlegt“ (comm. 1, 3). Als allgemeine Intention seines Werkes gibt Vinzenz die Ausarbeitung einer zuverlässigen Methode zur Unterscheidung von Orthodoxie und Häresie an (comm. 2, 1). Ein solches sicheres Kriterium erschien ihm umso unerlässlicher, als Gott es zulasse, „dass Personen, die einen herausragenden Rang in der Kirche einnehmen, den Katholiken neue Lehren verkünden“ (comm. 10, 1). Vinzenz illustriert diese Tatsache, indem er als Beispiele aus jüngerer Zeit die Bischöfe Nestorius, Photinus und Apollinaris anführt (comm. 11) und aus früherer Zeit das Schicksal zweier renommierter Theologen, Origenes und Tertullian, beschreibt (comm. 17-18).

Im Commonitorium taucht nun an vielen Stellen immer wieder der Schatten eines großen Unbekannten auf, dessen innerkirchliche Reputation das Vehikel ist, um gefährliche Neuerungen in der Lehre zu propagieren. Vinzenz spricht von einer schweren Prüfung der Kirche und schreibt: „Es ist tatsächlich eine schwere Prüfung, wenn derjenige, den man für einen Propheten, den man für einen Prophetenschüler, den man für einen Lehrer und Verfechter der Wahrheit hält, dem man mit höchster Verehrung und Liebe angehangen hat, wenn ein solcher plötzlich heimlich schädliche Irrtümer einführt, die man nicht sofort aufdecken kann, da man noch in der Voreingenommenheit für die frühere Lehrautorität befangen ist und sie nicht leicht zu verurteilen wagt, da man durch die Zuneigung zu dem alten Lehrer daran gehindert wird“ (comm. 10, 8). Angesichts dieser missbrauchten Autorität erklären sich die wiederholten Appelle, das Ansehen eines noch so gelehrten, beredten und geschätzten Mannes nicht als hinreichenden Grund zu betrachten, um zugunsten seiner ganz persönlichen Ansichten das einhellige Zeugnis einer umfassenden Überlieferung preiszugeben. Vinzenz schreibt: „Wenn jedoch jemand, sei es auch ein heiliger und gelehrter Mann, ein Bischof, ein Bekenner oder Martyrer, eine Auffassung vertreten hat, die sich bei den anderen nicht findet oder sogar in Gegensatz zu ihnen steht, so muss diese unter die eigenen, nichtöffentlichen, privaten Meinungen gerechnet und von der Autorität einer gemeinsamen, öffentlichen und allgemeinen Aussage abgesondert werden - andernfalls würden wir bei größter Gefahr für unser ewiges Heil nach der frevelhaften Gewohnheit der Häretiker und Schismatiker die alte Wahrheit der universalen Glaubenslehre aufgeben und stattdessen dem neuen Irrtum eines einzelnen Menschen folgen“ (comm. 28, 8).

Die Ausführungen des Lériner Theologen sind wiederum von frappierender Aktualität, wenn man sie mit Geschehnissen der jüngsten Kirchengeschichte in Verbindung bringt. Handle es sich nun um bekannte Professoren der Theologie, die mit aufklärerischem Pathos medienwirksam sich selbst zu inszenieren suchten, oder um manche einflussreichen Periti auf dem letzten Konzil, die ganze Episkopate auf ihren Kurs einzuschwören vermochten, oder um sonstige Vertreter der kirchlichen Hierarchie auf allen Ebenen: Immer wieder geschah und geschieht es, dass eine privata opiniuncula, wie Vinzenz sagt (comm. 28, 8), eine Privatansicht ohne Autorität, als Stimme der Kirche deklariert wird. Ja, unser Autor scheut sich nicht, in seiner paraphrasierenden Auslegung von Gal 1,8 selbst folgende Möglichkeit in Erwägung zu ziehen: „Auch wenn Petrus …‘euch ein anderes Evangelium verkündet, als wir es euch verkündet haben, so sei er verflucht!‘“ (comm. 8, 2).

Vinzenz ist weit entfernt, die Möglichkeiten eines Papa haereticus zu diskutieren. Aber er weiß sehr genau um gewisse psychologische Schwierigkeiten, wenn es gilt, Irrtümer zu verurteilen, die eine einst angesehene Autorität zu vertreten beginnt. Er sagt, eine klare Diagnose und entschiedene Distanzierung falle dann schwer, „da man noch in der Voreingenommenheit für die frühere Lehrautorität befangen ist und sie nicht leicht zu verurteilen wagt, da man durch die Zuneigung zu dem alten Lehrer daran gehindert wird“ (comm. 10, 8). Hier kommt ein Faktor ins Spiel, der im Abstimmungsverhalten auf dem letzten Konzil und in der sogenannten Umsetzung des Konzils eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben dürfte. Wurde da von den Bischöfen nicht manches akzeptiert und toleriert, weil man meinte, wenn der Papst es so wünsche, dürfe man sich dem nicht widersetzen? Recht anschaulich beschrieben wird diese Einstellung beispielsweise in der Ottaviani-Biographie des italienischen Vatikan-Journalisten Cavaterra [4]. Da ist vielfach die Rede davon, dass bestimmte Entwicklungen vom Sekretär des Hl. Offiziums oder auch anderen Kirchenfürsten wie etwa Kardinal Siri (Genua) an sich skeptisch betrachtet wurden, aber letztlich doch deren Billigung fanden, weil man meinte, der Nachfolger Petri wünsche es so. Das eklatanteste Beispiel hierfür ist sicherlich die Durchsetzung der Liturgiereform.

Ganz anders klingt das, was Vinzenz sich wünscht: „Alle wahren Katholiken sollen begreifen, dass sie gemeinsam mit der Kirche die Lehrer annehmen müssen, nicht aber gemeinsam mit den Lehrern den Glauben der Kirche verlassen dürfen“ (comm. 17, 2). „Folglich ist derjenige wahrer und echter Katholik (Superlativ: catholicissimus!), der die Wahrheit Gottes, der die Kirche … liebt, der der göttlichen Religion, der dem katholischen Glauben nichts vorzieht, nicht menschliche Autorität, nicht persönliche Wertschätzung, nicht geniale Begabung, nicht rhetorische Fähigkeiten, nicht philosophische Anschauungen, sondern der dies alles geringschätzt und, im Glauben festverankert, standhaft und ausdauernd, entschlossen ist, nur daran gläubig festzuhalten, woran die Kirche nach seiner Erkenntnis von alters her allgemein festgehalten hat, alles aber, was nach seiner Feststellung von irgendeiner Einzelperson später in Absonderung oder in direktem Gegensatz zur Gesamtheit der Heiligen als neu und unbekannt eingeführt wird, als nicht zur Religion, sondern vielmehr zu einer Prüfung gehörig ansieht“ (comm. 20,1-2).

Manipulationen der himmlischen Lehre

In diametralem Gegensatz zu dieser Gestalt des catholicissimus stehen all jene, die, wie Vinzenz mit geradezu prophetischen Worten schreibt, „mit der einmal überlieferten und in alter Zeit angenommenen Glaubensregel nicht zufrieden sind, sondern von Tag zu Tag fortwährend nach Neuem suchen und ständig ein Verlangen danach verspüren, zur Religion etwas hinzuzufügen, an ihr etwas zu verändern oder von ihr etwas wegzunehmen: als ob es sich nicht um eine himmlische Lehre handelte, für die es genüge, einmal geoffenbart worden zu sein, sondern um eine irdische Einrichtung, die nur durch ständige Verbesserung, oder vielmehr Kritik, zur Vollkommenheit gelange“ (comm. 20,1-2). Diese Beschreibung klingt doch fast so, als habe es schon in der Spätantike einen „Modernismus ante Modernismum“ gegeben. Mit welch aufklärerischem Habitus jene spätantiken „Modernisten“ auftraten, beschreibt unser Autor ebenfalls sehr anschaulich: „Man höre nur, was einige von ihnen sagen: ‚Kommt, ihr Unverständigen und Unglücklichen, die ihr gemeinhin Katholiken genannt werdet, und lernt den wahren Glauben kennen, den niemand außer uns erkannt hat, der seit vielen Jahrhunderten verborgen war, jetzt aber enthüllt und offengelegt wurde‘“ (comm. 21, 7). „Seit vielen Jahrhunderten verborgen, jetzt aber enthüllt und offengelegt“ – wer denkt da nicht an die neue Zeitrechnung, die sich mittlerweile in der Kirche etabliert zu haben scheint: „vor dem Konzil, nach dem Konzil“? Wenn Vinzenz von dem Verlangen sprach „zur Religion etwas hinzuzufügen, an ihr etwas zu verändern oder von ihr etwas wegzunehmen“, dann ist mit der Trias addere, demere, mutare eigentlich zeitlos das Wesen jeder Häresie beschrieben, die sich letztlich auf eine dieser drei Formen zurückführen ließe. Bekanntlich enthält ja auch die Promulgationsbulle Quo primum des Missale Romanum von 1570 ein entsprechendes Verbot mit dieser dreigliedrigen Formel.

Mit geradezu prophetischen Worten beschreibt der Lériner Theologe die Konsequenzen, die eine Missachtung der von ihm dargelegten Prinzipien zur Folge hätte: „Wenn nämlich irgendein Teil der katholischen Glaubenslehre aufgegeben wird, und dann noch einer und wieder ein anderer, so werden nacheinander immerfort weitere Teile gleichsam schon aus Gewohnheit und mit dem Anspruch der Legitimität aufgegeben. Wenn aber die einzelnen Teile verworfen werden, dann wird die letzte Konsequenz daraus sein, dass das Ganze gleichermaßen verworfen wird. Aber auch wenn man andererseits beginnt, Neues dem Alten, Fremdes dem Eigenen, Unheiliges dem Heiligen beizumischen, so muss diese Unsitte auf das Ganze übergreifen, so dass an der Kirche nachher nichts unberührt, nichts unverletzt, nichts unversehrt, nichts unbefleckt gelassen wird, sondern in der Folgezeit sich ebendort eine Lasterhöhle gottloser und schändlicher Irrtümer ausbreitet, wo sich zuvor ein Heiligtum reiner und unversehrter Wahrheit befunden hatte“ (comm. 23, 14-15). Diese Worte lesen sich geradezu wie ein Kommentar zu vielen Phänomenen der nachkonziliaren Epoche.

Bewahrung des Glaubensgutes

Demgegenüber beschreibt der Lériner Theologe das Wesen authentischer Überlieferung, das er vor allem unter dem Aspekt unverfälschter Bewahrung und Weitergabe des Empfangenen betrachtet. Seine Ausführungen zu der entsprechenden apostolischen Weisung Depositum custodi wurden von dem bedeutenden französischen Exegeten C. Spicq als der beste Kommentar zu 1 Tim 6,20 bezeichnet (Vgl. C. Spicq, Saint Paul, Les Épîtres Pastorales, Paris 1947, 216). Vinzenz erläutert das Apostelwort wie folgt: „‘O Timotheus, spricht er (d.h. Paulus), bewahre das anvertraute (Glaubens-)Gut, und meide die unheiligen Wortneuerungen‘ … Wer ist heute jener Timotheus, wenn nicht zum einen generell die ganze Kirche und dann speziell der ganze Stand der Vorgesetzten, die das unversehrte Wissen der Gottesverehrung sowohl selbst besitzen als auch anderen mitteilen müssen? … Was ist das ‚anvertraute Gut’? Das, was dir anvertraut, nicht was von dir erfunden worden ist, was du empfangen, nicht was du dir ausgedacht hast, keine Sache der Begabung, sondern der Lehre, keine der eigenen Anmaßung, sondern der öffentlichen Überlieferung; eine Sache, die zu dir gekommen ist, nicht aber von dir hervorgebracht wurde, in der du nicht Urheber, sondern Wächter, nicht Gründer, sondern Schüler, nicht Führer, sondern Nachfolger sein musst. ‚Bewahre das anvertraute Gut‘, sagt er: Bewahre das Talent (Mt 25,15) des katholischen Glaubens unbeschadet und unvermindert. Was dir anvertraut wurde, das bleibe bei dir und das werde von dir weitergegeben. Gold hast du empfangen, Gold gib auch zurück. Ich will nicht, dass du mir etwas anderes unterschiebst, ich will nicht, dass du mir ohne Schamgefühl Blei oder mit Betrugsabsicht Kupfer unterschiebst; ich will kein falsches Gold, sondern ganz echtes“ (comm. 21,1f.4).

Tradition bedeutet also für Vinzenz primär die Bewahrung der inhaltlichen Identität des Glaubensgutes. Vor allem die an den Apostelschüler Timotheus gerichtete Weisung „Bewahre das anvertraute Gut“ (1 Tim 6,20; vgl. 2 Tim 1,12-14), die Vinzenz ausführlich zitiert (comm. 21, 3-6; 22, 1-7), rief die vom antiken Depositalrecht geforderte Verpflichtung ins Bewusstsein, dass der Treuhänder (depositarius) das vom Eigentümer (deponens) bei ihm hinterlegte Gut (depositum) verlässlich zu bewahren und unversehrt zurückzugeben habe, nicht aber als seinen Besitz betrachten oder gar preisgeben dürfe. Der Terminus parathêkê / depositum unterstrich die Unantastbarkeit und Unverfügbarkeit des überkommenen Glaubensgutes, das allem eigenmächtigen Umgang entzogen war. Nachdem Vinzenz zunächst die Gestalt des Apostelschülers Timotheus typologisch betrachtet und den Auftrag Depositum custodi der gesamten Kirche bzw. ihren Amtsträgern zur heiligen Pflicht gemacht hatte (comm. 22, 2), stellt er sich selber dem naheliegenden Einwand, um ihn sogleich zu beantworten: „Wird es also in der Kirche keinen Fortschritt der Religion (profectus religionis) geben? Natürlich soll es einen geben, und zwar einen sehr großen (maximus)“ (comm. 23, 1). Mit diesen Worten wurde nicht nur ein unbestreitbares Faktum anerkannt, sondern sogar der positive Wert einer dogmatischen Entfaltung hervorgehoben.

Legitime Lehrentfaltung

Vinzenz war allerdings darauf bedacht, einen solchen legitimen Fortschritt von illegitimer Veränderung genauestens abzugrenzen: „Jedoch muss es wirklich ein Fortschritt (profectus) im Glauben sein, und keine Veränderung (permutatio). Zum Fortschritt gehört nämlich, dass eine jede Sache in sich selbst erweitert wird, zur Veränderung hingegen, dass etwas in etwas anderes verwandelt wird. Wachsen und gewaltig voranschreiten sollen also die Einsicht, das Wissen und die Weisheit, sowohl bei jedem einzelnen wie auch bei allen insgesamt, beim Individuum wie bei der Gesamtkirche, entsprechend den Stufen der Lebensalter wie der Zeitalter – jedoch nur in der eigenen Art, nämlich in derselben Glaubenslehre, in demselben Sinn und in derselben Bedeutung.“ (comm. 23, 1-3). Vinzenz fährt fort – man muss seine Worte auf dem Hintergrund der letzten vierzig oder fünfzig Jahre hören, um ihre ganze Aktualität und Tragweite zu ermessen: „Die Kirche Christi aber, die eifrige und behutsame Wächterin der ihr anvertrauten Glaubenslehren, verändert nie etwas an ihnen, nimmt nichts weg, fügt nichts hinzu; sie schneidet nicht Notwendiges weg, sie setzt nicht Überflüssiges hinzu; sie gibt nicht das Eigene auf, sie eignet sich nicht Fremdes an. Sondern sie bemüht sich mit aller Energie nur darum, das Alte treu und weise zu verwalten, und wenn etwas davon seit alter Zeit unausgebildet und unfertig ist, es auszugestalten und glattzufeilen, wenn etwas bereits deutlich ausgeprägt und entfaltet ist, es zu festigen und zu sichern, und wenn etwas bereits bekräftigt und festgelegt ist, es zu bewahren.“ (comm. 23,16-17).

Der Mönchstheologe Vinzenz unterlässt es nicht hervorzuheben, welche Bedeutung dem einzelnen Theologen mit seiner Begabung, Erfahrung und Gelehrsamkeit in diesem Prozess der kirchlichen Lehrentwicklung zukam. Typologisch sah er die Aufgabe des kirchlichen Theologen in der alttestamentlichen Gestalt des Bezaleel vorgebildet (comm. 22, 6f), der „von göttlichem Geist erfüllt, mit Kenntnis und Einsicht, Wissen und Geschick“ (Ex 31,2f) das Heiligtum des Offenbarungszeltes fertigte, wie es nicht eigenem Planen, sondern der Weisung Gottes entsprach. Auf der Ebene des geistigen Schriftsinnes gelesen, bedeutete dies für den Bischof, Schriftausleger und Lehrer der Kirche: „So sei ein Bezaleel des geistigen Bundeszeltes, verleihe den kostbaren Edelsteinen der göttlichen Lehre Gestalt (pretiosas divini dogmatis gemmas exsculpe), füge sie treu zusammen (fideliter coapta), schmücke sie weise (adorna sapienter), füge ihnen Glanz, Anmut und Schönheit bei (adice splendorem, gratiam, venustatem). Durch deine Erklärung soll klarer verstanden werden (intellegatur inlustrius), was zuvor dunkler geglaubt wurde (obscurius credebatur). Durch dich sollen die Nachkommen die glückliche Einsicht (intellectum) in das erhalten, was die alte Zeit vorher verehrte, ohne es zu verstehen. Dennoch lehre dasselbe, was du gelernt hast, so dass du, falls du es neu sagst, nichts Neues sagst (cum dicas nove, non dicas nova).“ Aufgabe des Theologen ist es demzufolge, die Lehrsätze herauszuarbeiten (exsculpere), zu systematisieren (coaptare), mit Belegen und Begründungen auszustatten (adornare), in ein schönes Sprachgewand zu kleiden (splendor, gratia, venustas), schließlich Einsicht in den Glauben (intellectus fidei) zu erschließen.

Nicht umsonst gilt Vinzenz aufgrund dieser Überlegungen, denen er im Commonitorium ein umfangreiches Kapitel widmete, als „erster Theoretiker der Dogmenentwicklung“ (Vgl. M. Fiedrowicz, Theologie der Kirchenväter. Grundlagen frühchristlicher Glaubensreflexion, Freiburg i. Br. 22010, 359-363), der durchaus ein deutliches Verständnis für die geschichtliche Dimension des Glaubens besaß, insofern dazu ebenso ein wirkliches Voranschreiten und Sich-Entfalten wie eine in der Entwicklung gewahrte Identität gehören. Mit der Aussage, authentischen Fortschritt könne es nur in homogener Weise (in suo genere) geben, und zwar „in derselben Glaubenslehre, in demselben Sinn und in derselben Bedeutung“ (in eodem dogmate, eodem sensu eademque sententia) hatte Vinzenz eine klassische Formel geprägt, der eine reiche Wirkungsgeschichte folgte. Bis in jüngste Verlautbarungen hinein rekurrierte das kirchliche Lehramt auf diesen Grundsatz, um das katholische Verständnis der Dogmenentwicklung zu umschreiben.

Authentische Glaubensüberlieferung im klassischen Ritus

Die Weisung Depositum custodi hat nun auch eine liturgische Dimension. Der klassische Ritus der römischen Kirche bezeugt die katholische Glaubenslehre in ihrer Integrität. Die überlieferte Form der Messe erweist sich als klare und vollständige Bezeugung der zentralen Glaubenswahrheiten, als Bekundung des wahren Glaubens, so dass die Norm des Betens (lex orandi) zugleich eine verlässliche Norm des Glaubens (lex credendi) bietet. Kein Kernelement des Depositum fidei wird verschwiegen, abgeschwächt oder ambivalent formuliert. Unmissverständlich und unverkürzt bekundet die überlieferte Form der Messfeier, was die Kirche glaubt, seit jeher geglaubt hat und stets glauben wird. Daher wurde die Liturgie als „Tradition in ihrer machtvollsten und feierlichsten Gestalt“ , als „wichtigstes Instrument der Tradition“ (J.-B. Bossuet, États d’oraisons VI (Oeuves V), Paris 1868, 464: „Le principal instrument de la Tradition de l’Église est renfermé dans ses prières“) bezeichnet. Bezeichnend für eine völlige Verkennung dieser Tatsache ist die Forderung des sogenannten Theologen-Memorandums vom Februar vergangenen Jahres, wo es heißt: „Der Gottesdienst darf nicht in Traditionalismus erstarren“ (Memorandum von Theologieprofessoren und –professorinnen zur Krise der katholischen Kirche, 4. Februar 2011; zitiert nach: www.memorandum-freiheit.de). Die Feier der Liturgie in ihrer überlieferten Form bildet daher ein ebenso notwendiges wie wirksames Gegengewicht gegenüber allen Verflachungen, Verkürzungen, Verwässerungen und Banalisierungen des Glaubens. Wenn bestimmte Aspekte des Glaubens aus der Liturgie völlig verschwinden oder darin stark abgeschwächt werden, drohen sie allmählich auch aus dem Glaubensbewusstsein der Priester und Gläubigen zu verschwinden. Die überlieferte Form der hl. Messe ist daher ein unerlässliches Korrektiv, das diesem Ausfall wichtiger Glaubenswahrheiten entgegenzuwirken vermag.

Den wertvollen Schatz der überlieferten Liturgie zu bewahren, gehört zur Bewahrung des Depositum fidei. Der Apostel Paulus mahnte seinen Schüler: „O Timotheus, bewahre das dir anvertraute (Glaubens-)Gut!“ (1 Tim 6,20). In zeitloser Aktualität deutete der frühchristliche Mönchspriester Vinzenz von Lérins diese apostolische Weisung, wobei er das zu bewahrende Glaubensgut zugleich auch in kultischer Dimension verstand: „Wer ist heute jener Timotheus, wenn nicht zum einen generell die ganze Kirche und dann speziell der ganze Stand der Vorgesetzten, die das unversehrte Wissen der Gottesverehrung sowohl selbst besitzen als auch anderen mitteilen müssen?“ (comm. 22, 2). Die überlieferte Messe ist der in Jahrhunderten geformte Ausdruck und bewährte Garant dieses unversehrten Wissens der Gottesverehrung (Vgl. M. Fiedrowicz, Die überlieferte Messe. Geschichte, Gestalt und Theologie des klassischen römischen Ritus, Mülheim / Mosel 2011, 227-293).

Anmerkungen:

[1] Vinzenz von Lérins, Commonitorium. Mit einer Studie zu Werk und Rezeption herausgegeben von M. Fiedrowicz, übersetzt von C. Barthold, Mülheim / Mosel 2011.

[2] Brunero Gherardini, Das Zweite Vatikanische Konzil. Ein ausstehender Diskurs, Mülheim / Mosel 2010, 18.

[3] R. de Mattei, Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, Edition Kirchliche Umschau 22012.

[4] E. Cavaterra, Il prefetto del Sant’Offizio. Le opere e i giorni del cardinale Ottaviani, Mailand 1990.


P. Engelbert Recktenwald: Tradition und Lehramt

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