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Tradition und Lehramt

Von P. Engelbert Recktenwald

Wie sieht in der katholischen Kirche das Verhältnis zwischen Tradition und Lehramt aus? Das ist eine theologische Frage, die die Ekklesiologie betrifft, also die Lehre über die Kirche. Theologie ist reflektierter Glaube. Es geht um eine Frage, die unseren Glauben an die Kirche betrifft. Im Credo bekennen wir unseren Glauben an die “eine, heilige, katholische und apostolische Kirche”. Mit diesen vier Merkmalen ist das, was der Glaube über die Kirche aussagt, keineswegs ausgeschöpft. Dass die Tradition eine Glaubensquelle darstellt, dass es ein Lehramt gibt, das über die Reinheit des Glaubens, wie er in Schrift und Tradition enthalten ist, wacht, gehört ebenfalls zu unserem Glauben an die Kirche.

In den letzten Jahren und Monaten sind wieder die Versöhnungsbemühungen des Papstes um die Priesterbruderschaft St. Pius X. in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Sie scheitern bislang an der Auffassung der Piusbruderschaft, die Tradition gegen Papst und Konzil verteidigen zu müssen. Wenn ich mich hier zu diesem Thema äußere, dann unweigerlich auch als ehemaliges Mitglied, das der Piusbruderschaft viel und ihrem Gründer, Erzbischof Marcel Lefebvre, die Priesterweihe zu verdanken hat. Es liegt mir deshalb am Herzen, die berechtigten Anliegen der Piusbruderschaft fair darzustellen. Wenn ich gleichzeitig aufzeige, wo in meinen Augen die Grenzen dieser Berechtigung liegen, dann nur, um im Licht des Glaubens auf die Gefahren eines Irrweges hinzuweisen. Ich wünsche der Piusbruderschaft vollen Erfolg für eine fruchtbare Arbeit im Weinberg des Herrn. Diesen Erfolg kann sie aber nur in und mit der Kirche haben. Ihre Versöhnung mit der Kirche ist das Ziel meiner Wünsche, Gebete und meiner Ausführungen, deren Thema ich auf Vorschlag des Initiativkreises gewählt habe.

I. Was ist Tradition?

Die Tradition ist neben der Heiligen Schrift eine Glaubensquelle. Das Konzil von Trient hat diese Glaubenswahrheit gegen die Irrlehre Luthers von der Sola scriptura (allein die Schrift) festgehalten. In seiner vierten Sitzung (1546) erklärt das Konzil:

“Die heilige Kirchenversammlung weiß, dass diese Wahrheit und Ordnung enthalten ist in geschriebenen Büchern und ungeschriebenen Überlieferungen, die die Apostel aus Christi Mund empfangen haben oder die von den Aposteln selbst auf Eingebung des Heiligen Geistes gleichsam von Hand zu Hand weitergegeben wurden und so bis auf uns gekommen sind.
So folgt sie dem Beispiel der rechtgläubigen Väter, wenn sie alle Bücher des Alten und Neuen Bundes - denn der eine Gott ist ja der Urheber von beiden - zugleich mit den Überlieferungen, die Glaube und Sitte betreffen, mit gleicher frommer Bereitschaft und Ehrfurcht anerkennt und verehrt. Denn sie stammen ja aus dem Munde Christi oder sind vom Heiligen Geist eingegeben und sind in ununterbrochener Folge in der katholischen Kirche bewahrt worden.”

Das Erste Vatikanische Konzil greift die Formulierung des Tridentinums auf und sagt:

“Enthalten ist diese übernatürliche Offenbarung nach dem Glauben der gesamten Kirche - die heilige Kirchenversammlung in Trient hat diesen Glauben erklärt - ‘in geschriebenen Büchern und ungeschriebenen Überlieferungen, die die Apostel aus Christi Mund empfangen haben oder die von den Aposteln selbst auf Eingebung des Heiligen Geistes gleichsam von Hand zu Hand weitergegeben wurden und so bis auf uns gekommen sind.’”

Im darauffolgenden Kapitel über den Glauben heißt es dann: “Mit göttlichem und katholischem Glauben ist also das zu glauben, was im geschriebenen oder überlieferten Wort Gottes enthalten ist und von der Kirche in feierlichem Entscheid oder durch gewöhnliche allgemeine Lehrverkündigung als von Gott geoffenbart zu glauben vorgelegt wird.”

Das tridentinische Konzil spricht von Traditionen im Plural. Damit meint es den Inhalt der Tradition, der eine Fülle von Glaubenwahrheiten und Lehren enthält. So wie man von der Lehre der Kirche und den Lehren der Kirche sprechen kann, so auch von der Tradition und den Traditionen.

Wo haben diese Überlieferungen ihren Ursprung? Das Konzil nennt den Mund Christi und den Heiligen Geist, in jedem Falle also Gott. Die Theologen sprechen deshalb von der göttlichen Tradition. Davon zu unterscheiden ist die kirchliche Tradition. Sie ist menschlichen Ursprungs. Dabei ist es gleichgültig, ob sie unter den Aposteln entstanden ist oder später. Nur die göttliche Tradition ist Glaubensquelle. Wenn ich also in diesem Vortrag von “göttlicher Tradition” spreche, dann meine ich damit immer die Tradition im eigentlichen Sinn als Glaubensquelle. Ein Abfall von dieser Tradition oder ein Bruch mit dieser Tradition würde - immer, aber auch nur dann - einen Abfall oder einen Bruch mit dem Glauben darstellen.

Eine kirchliche Tradition, die auf die Apostel zurückgeht und dennoch nicht göttlich ist, ist z.B. das Speiseverbot des Apostelkonzils: Apg 15,29: “Ihr sollt euch enthalten von Götzenopfern, von Blut, von Ersticktem.” Weitere Beispiele sind “die Immersionstaufe, die Sitte der Fußwaschung, die Communion unter beiden Gestalten” (Pohle, Wetzer und Welte, Bd.11, Sp. 1936).

Die göttliche Tradition verpflichtet die Gläubigen aller Orte und Zeiten unwandelbar zum Glaubensgehorsam, die kirchliche Tradition bindet die Gläubigen solange, wie sie von der kirchlichen Autorität aufrechterhalten wird.

Natürlich gibt es auch unter den rein kirchlichen Traditionen solche, die wegen ihres Alters, ihrer allgemeinen Verbreitung und ihres bewährten Charakters große Achtung verdienen. Wenn auch an und für sich die kirchliche Autorität die Vollmacht über sie hat, so ist es doch eine Frage der Klugheit, ob die Kirche von dieser Vollmacht Gebrauch machen und solche Traditionen antasten soll. So ist z.B. die Feier des Sonntags nach Meinung vieler Theologen nicht göttlichen Ursprungs. Dennoch sträubt sich alles in uns bei dem Gedanken, dass die Kirche ihn abschaffen könnte. Die niederen Weihen und die Subdiakonatsweihe hatte ein Alter von mindestens 1700 Jahren: Dennoch hat die Kirche sie abgeschafft. Man kann sich zurecht die Frage stellen, ob das klug war, ob das der Ehrfurcht entspricht, die solcher Tradition geschuldet ist, ob es nicht sogar ein Akt indirekter Untergrabung der eigenen Autorität war: Denn viele ungebildete und halbgläubige Katholiken werfen alle kirchlichen Institutionen in einen Topf, und wenn sie merken, dass die kirchliche Leitung selber keine Achtung vor altehrwürdigen kirchlichen Einrichtungen hat, dann vermindert das psychologisch auch allzuleicht die Achtung des einfachen Laien vor der Einrichtung des kirchlichen Lehramts. Man mag also einen solchen Bruch mit der Tradition durchaus kritisieren, sei es zu Recht oder zu Unrecht, wichtig ist mir in diesem Zusammenhang nur, ganz deutlich festzuhalten, dass dieser Bruch nichts mit einem Abweichen von der göttlichen Tradition als Glaubensquelle zu tun hat.

Erzbischof Lefebvre sprach oft von “der Tradition”, und manchmal meinte er damit die kirchliche, manchmal die göttliche Tradition, ohne die beiden zu unterscheiden.

Kehren wir zurück zur göttlichen Tradition: Sie wurde mündlich weitergegeben in der Verkündigung und Predigttätigkeit der Apostel. Der hl. Paulus schreibt, dass der Glaube vom Hören komme: “Fides ex auditu” (Röm 10,17).

Aber selbstverständlich wurde die mündliche Überlieferung auch immer wieder schriftlich fixiert, und zwar zweifach: in der Hl. Schrift und außerhalb der Hl. Schrift. Die Hl. Schrift, also die Bücher des Neuen Testaments, sind schriftlicher Niederschlag der Tradition, und zwar geschrieben unter dem inspirierenden Beistand des Hl. Geistes. Aber auch danach ging es weiter mit dem schriftlichen Niederschlag der Tradition. Was gehört alles dazu? Unter anderem:

1. Die Glaubensbekenntnisse (Symbola), besonders das Apostolische, das Athanasianische und das Nizänisch-Konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis: das erste beten wir vor dem Rosenkranz, das letztere in der hl. Messe.
2. Die Liturgien.
3. Die Konzilien und die Erlässe der Päpste.
4. Die Schriften der Kirchenväter.

Alle diese Schriften sind je auf ihre Weise Zeugnisse oder Dokumente oder Urkunden der Tradition. Wenn man also wissen will, was zur Tradition gehört, muss man auf diese Zeugnisse zurückgreifen.

Aber wir haben oben gesehen, dass die Hl. Schrift auch rein kirchliche Traditionen überliefert. Wenn das für die Hl. Schrift gilt, so gilt das erst recht und noch mehr für die Traditionsdokumente. Also längst nicht alles, was wir dort finden, gehört zur göttlichen Tradition, ist also Offenbarungswahrheit. Wir brauchen folglich Kriterien, um innerhalb der Traditionsdokumente göttliche und menschliche Tradition unterscheiden zu können.

Solche Kriterien hat der hl. Vinzenz von Lerin entwickelt, ein Kirchenvater aus dem 5. Jahrhundert. Er gibt drei Kriterien an: Nach ihm gehört zur Tradition, was (1.) überall, (2.) immer und (3.) von allen geglaubt worden ist.

Deshalb lehrt die Kirche z.B. (im Tridentinum und im Ersten Vaticanum), dass man die Schrift immer gemäß dem Konsens der Väter auslegen muss: natürlich nur dort, wo dieser Konsens auch besteht.

Aber selbst die Regel des hl. Vinzenz von Lerin kommt kaum über den Charakter einer Faustregel hinaus. Der Dogmatiker Bernhard Bartmann schreibt dazu: “Unklar ist, ob die Momente konjunktiv oder disjunktiv gelten, ob absoluter oder moralischer Konsens erforderlich ist; ob das Alter von der expliziten oder impliziten Lehre gilt; endlich bedarf es noch der Kirche selbst mit ihrem Urteil, ob alle Momente in einem bestimmten Falle zutreffen. Die Regel war für den Privatgebrauch aufgestellt in einer Zeit, in der das Papsttum noch nicht leicht bei Neuerungen angerufen werden konnte” (Lehrbuch der Dogmatik, Erster Band, Freiburg im Breisgau 71928, S. 30).

Mit anderen Worten: Die Regel des hl. Vinzenz von Lerin ist ihrerseits nur eine provisorische Regel, die bei umstrittenen Fragen nur ein vorläufiges, aber kein endgültiges Urteil darüber erlaubt, was zur Tradtion gehört oder nicht.

Um zu einem endgültigen Urteil zu kommen, bedarf es deshalb einer göttlich legitimierten Entscheidungsinstanz, und das ist das kirchliche Lehramt. Es bedarf eines Urteils, das kein Privaturteil ist, sondern ein offizielles und autoritatives Urteil, also das Urteil einer sichtbaren, d.h. öffentlich greifbaren Instanz, die über den Parteien einer theologischen Kontroverse steht und von Gott eingesetzt und legitimiert ist. Genau das ist der Sinn des kirchlichen Lehramtes.

II. Das kirchliche Lehramt

Die Theologen verwenden in diesem Zusammenhang den Begriff der Glaubensregel. Das kirchliche Lehramt ist die nächste und unmittelbare Glaubensregel, Schrift und Tradition sind entferntere Glaubensregeln.

Mit Glaubensregel ist hier die Norm gemeint, nach der wir unterscheiden können, was zum Glauben gehört und was nicht. Wir wissen, dass wir alles glauben müssen, was Gott geoffenbart hat, und wenn wir die Tugend des Glaubens besitzen, wollen wir auch alles glauben, was Gott geoffenbart. Aber woher wissen wir, was zum Offenbarungsgut gehört? Dazu können wir Schrift und Tradition befragen. Aber diese beiden sind nur die entferntere Glaubensregel, weil sie selber der Auslegung bedürfen. Viele Stellen, Passagen und Lehren der Hl. Schrift können verschieden verstanden und gedeutet werden, und die Geschichte zeigt uns, dass dies auch tatsächlich oft geschah und geschieht. Wer entscheidet, welches die richtige Auslegung ist? Damit in einer geschichtlich konkreten Auseinandersetzung eine Entscheidung möglich ist, bedarf es einer Entscheidungsinstanz, die hic et nunc eingreifen, Stellung beziehen und einen Richterspruch fällen kann. Das ist das lebendige Lehramt. Man spricht in diesem Zusammenhang von einem lebendigen Lehramt, weil es handelnd in die Auseinandersetzung eingreifen und einen Richtspruch fällen kann. Das kann die Tradition nicht. Zwar muss, wie wir gesehen haben, die Schrift nach dem einstimmigen Zeugnis der Väter, also nach der Tradition interpretiert werden. Aber als vergangenes Zeugnis ist dieses Kriterium seinerseits wiederum passives Objekt der Deutung und Interpretation, nicht handelndes Subjekt. Aus diesem Grund ist die nächste Glaubensregel das kirchliche Lehramt, und nichts sonst.

Das Tridentinum lehrt deshalb: “Niemand soll es wagen, in Sachen des Glaubens und der Sitten, die zum Aufbau christlicher Lehre gehören, die Heilige Schrift im Vertrauen auf eigene Klugheit nach seinem eigenen Sinn zu drehen, gegen den Sinn, den die heilige Mutter die Kirche hielt und hält - ihr steht das Urteil über den wahren Sinn und die Erklärung der heiligen Schriften zu.”

Franz Diekamp, nach dessen thomistischer Dogmatik in Zaitzkofen unterrichtet wurde (und wohl auch noch wird), hält es deshalb sogar für ein Dogma, dass die kirchliche Lehrverkündigung die nächste und unmittelbare Richtschnur des katholischen Glaubens ist.

Matthias Premm schreibt in seiner Dogmatik: “Beide [Schrift und Tradition] sind dem kirchlichen Lehramt unterworfen, hängen von ihm in ihrer Autorität in gewissem Sinne ab. Welches Buch zur Hl. Schrift gehört, darüber kann nur die Kirche unfehlbar urteilen; ebenso über den sicheren Sinn der einzelnen Sätze der Schrift. Die Schrift wurde nicht den einzelnen Gläubigen von Gott übergeben, sondern der Kirche anvertraut, damit sie ihren Sinn dem gläubigen Volke eröffne. Ob ein bestimmter Lehrsatz tatsächlich in der Tradition enthalten ist, darüber kann mit Glaubensgewißheit wieder nur die Kirche urteilen. So sind also Schrift und Tradition nur entferntere Regeln für den Glauben. Das kirchliche Lehramt ist die nächste Glaubensnorm. Denn die Kirche bedarf keiner anderen Vermittlung, sondern tritt unmittelbar an jeden einzelnen Gläubigen mit verpflichtender Kraft heran. Sie ist uns die nächste Instanz und authentische Vermittlerin der Offenbarung. Christus hat zu den Aposteln nicht gesagt: Gehet hin und schreibet meine Offenbarungslehren nieder, damit jeder weiß, was zu glauben ist. Sondern er gab den Auftrag: ‘Gehet hin und lehret ... Ich bin bei euch bis zum Ende der Welt’ (Mt 28,19 f.) Christus hat ein lebendiges Lehramt eingesetzt, für alle Zeiten, eben das Lehramt der Kirche, dem er immer zur Seite steht, damit es nie irre. Um zu wissen, was Gott geoffenbart hat, muß zunächst die Kirche befragt werden. Sie ist die nächste Glaubensquelle, die allen, auch dem Ungebildeten zugänglich ist, während das Forschen in Schrift und Tradition eine gewisse Bildung voraussetzt. Wir müssen Gott danken, dass er in seiner Weisheit ein lebendiges unfehlbares Lehramt einsetzte, das uns immer zur Seite steht und von dem Christi Wort gilt: ‘Wer euch hört, hört mich (...)’ (Mt 10,40)” (Matthias Premm, Katholische Glaubenskunde. Ein Lehrbuch der Dogmatik, Erster Band, Wien 1951, S. 28).

Natürlich ist das Lehramt seinerseits rückgebunden an Schrift und Tradition. Es steht, wie das II. Vatikanum sagt, unter dem Wort Gottes, nicht über ihm. Das I. Vatikanum lehrt: “Die Glaubenslehre, die Gott geoffenbart hat, wurde dem menschlichen Geist nicht wie eine philosophische Erfindung zur Vervollkommnung vorgelegt, sondern als göttliches Gut der Braut Christi übergeben, damit sie dieselbe treu bewahre und irrtumslos erkläre. Deshalb muß auch immer jener Sinn der Glaubenswahrheiten beibehalten werden, der einmal von der heiligen Mutter der Kirche dargelegt worden ist; nie darf man von diesem Sinn unter dem Schein und Namen einer höheren Erkenntnis abweichen...”

Dass göttlich verliehene Interpretationskompetenz kein Freibrief zur Willkür bedeutet, wird sehr pointiert im päpstlichen Krönungseid ausgedrückt, wo der Amtsinhaber verspricht, “nichts an der Überlieferung, nichts an dem, was ich von meinen gottgefälligen Vorgängern bewahrt vorgefunden habe, zu schmälern, zu ändern, oder darin irgendeine Neuerung zuzulassen; vielmehr mit glühender Hingabe als ihr wahrhaft treuer Schüler und Nachfolger mit meiner ganzen Kraft und Anstrengung das überlieferte Gut ehrfurchtsvoll zu bewahren.”

Das kirchliche Lehramt kann also nicht willkürlich Lehren aufstellen oder verwerfen, kann nicht willkürlich Schrift und Tradition interpretieren. Deshalb kann es auch niemals etwas lehren, was einer geoffenbarten Glaubenswahrheit widerspricht. Deshalb kann es sich in den Akten, die Unfehlbarkeit beanspruchen, auch niemals selber widersprechen. Aber ob Unfehlbarkeit beansprucht ist oder nicht, darüber entscheidet wiederum das Lehramt selber. Wenn es z.B. bei der Lehre über die Unmöglichkeit der Frauenordination diese höchste Verbindlichkeit beansprucht, dann können die Theologen nicht hingehen und sagen, man könne trotzdem weiter darüber diskutieren. Sie stellen sich dann über das Lehramt. Umgekehrt: Wenn das Lehramt feststellt, dass die bisherige Lehre über den katholischen Staat kein Dogma sei, dann kann Erzbischof Lefebvre nicht sagen, es sei doch ein Dogma und das Lehramt sei von der Tradition abgefallen. Er stellt sich dann über das Lehramt der Kirche. Er richtet über den Papst. Das aber widerspricht dem Grundsatz, dass der Papst von niemandem gerichtet wird, und damit dem Dogma vom Jurisdiktionsprimat des Papstes. Es geht hier ja nicht um belanglose Dinge: Selbstverständlich kann ich z.B. die Predigt eines Papstes für langweilig halten, ich kann sogar päpstliche Verhaltensweisen für unklug, unglaubwürdig oder bis zu einem gewissen Grad für schädlich halten, wenn wir z.B. an das sittliche Fehlverhalten mittelalterlicher Päpste oder an die Ostpolitik unter Paul VI. und dessen Verhalten gegenüber Kardinal Mindszenty denken. Würde sich die Kritik der Piusbruderschaft in diesem Rahmen halten, gäbe es keine Schwierigkeiten mit der Versöhnung. In Wirklichkeit aber urteilt sie über das Katholischsein von Papst und Konzil. Sie behält sich das Urteil darüber vor, ob und wann der Papst katholisch ist oder handelt. Solches Urteilen aber gehört zur obersten Hirtengewalt der Kirche. Die Lehrgewalt ist ein Teil der Hirtengewalt. Und nach dem Ersten Vatikanum gehört die oberste Hirtengewalt dem Papst, über den nicht wiederum geurteilt werden kann. Es lehrt darüber:

“Die römische Kirche besitzt nach Anordnung des Herrn den Vorrang der ordentlichen Gewalt über alle andern Kirchen. Diese Gewalt der Rechtsbefugnis des römischen Bischofs, die wirklich bischöflichen Charakter hat, ist unmittelbar. Ihr gegenüber sind Hirten und Gläubige jeglichen Ritus und Rangs, einzeln sowohl wie in ihrer Gesamtheit, zur Pflicht hierarchischer Unterordnung und wahren Gehorsams gehalten, nicht allein in Sachen des Glaubens und der Sitten, sondern auch der Ordnung und Regierung der über den ganzen Erdkreis verbreiteten Kirche. Durch Bewahrung dieser Einheit mit dem römischen Bischof in der Gemeinschaft und im Bekenntnis desselben Glaubens ist so die Kirche Christi eine Herde unter einem obersten Hirten. Das ist die Lehre der katholischen Wahrheit, von der niemand abweichen kann, ohne Schaden zu leiden an seinem Glauben und an seinem Heil. (...) Weil der römische Bischof durch das göttliche Recht des apostolischen Vorrangs an der Spitze der gesamten Kirche steht, lehren und erklären wir auch: Der römische Bischof ist oberster Richter aller Gläubigen, und man kann in allen Streitsachen, die kirchlicher Untersuchung zustehen, an dieses Gericht Berufung einlegen. Über das Urteil des Apostolischen Stuhles jedoch darf niemand aufs neue verhandeln, da es keine höhere Amtsgewalt gibt, und niemandem ist es erlaubt, über dieses Gericht zu richten.”

III. Das Verhältnis von Tradition und Lehramt

Aufgrund des Gesagten können wir nun präziser das Verhältnis zwischen Tradition und kirchlichem Lehramt zusammenfassen. Das kirchliche Lehramt als nächste Glaubensregel sichert uns den authentischen Zugang zur Tradition als entfernter Glaubensregel, nicht umgekehrt. Warum und inwiefern ist das so?

1. Der Mehrheit der Christen ist, wie Pohle bemerkt, die Tradition -unabhängig vom Lehramt - unzugänglich, noch mehr als die Heilige Schrift, weil es ihr z.B. unmöglich ist, etwa die Kirchenväter zu studieren und herauszufinden, über welche Lehren bei ihnen Übereinstimmung herrscht und über welche nicht. Selbst für den Gebildeten ist dies schwierig. Pohle: “Schon das Studium eines einzigen Kirchenvaters, z.B. des hl. Augustinus, vermag ein ganzes Leben auszufüllen; zum Zwecke der traditionsmäßigen Feststellung eines einzigen Dogmas hat der Theologe oft eine Riesenarbeit zu bewältigen, von der er sich beim Mangel an durchschlagenden Dokumenten oder wegen zeitweilig eingetretener Verdunkelung des Glaubensbewußtseins nicht immer Erfolg verspricht. Wer soll in solchen Fällen den Zweifel niederschlagen? Die Tradition selbst vermag sich ja ebenso wenig authentisch auszulegen wie die Bibel. Folglich muß es über der Bibel und Tradition noch eine höhere, gottgesetzte Instanz, die Kirche, geben, welche nicht zwar über das Wort Gottes selbst zu Gericht sitzt, wohl aber dasselbe in unfehlbarer Lehrverkündigung auctoritativ auslegt” (a.a.O., Sp. 1949).

2. Wie man unterscheiden muss zwischen canonischen und apokryphen Evangelien, so auch zwischen echten und unechten, zwischen unversehrten und verfälschten Traditionsurkunden. Pohle: “Soll die Tradition aber eine untrügliche Quelle und Norm des Glaubens darbieten, so muss erst ihre Echtheit und Unverfälschtheit unzweifelhaft feststehen.” Genau das tut die Kirche, indem sie über Orthodoxie und Heterodoxie der überlieferten Lehren urteilt.

3. Schließlich sind auch die Zeugnisse der Tradition, etwa die Lehre der Kirchenväter, schwer verständlich und erklärungsbedürftig. So haben sich z.B. die Jansenisten auf den hl. Augustinus berufen. Wenn sich nun die Theologen über den Sinn einer überlieferten Lehre streiten, wer kann dann darüber entscheiden? Pohle: “Nicht die Männer der Wissenschaft, denn diese liegen ja miteinander im Streit. Auch nicht die Tradition selbst, denn diese ist an sich ebenso stumm wie die Bibel.” Es bedarf also einer aktuellen, jetzt handelnden Richterinstanz, und das ist das kirchliche Lehramt.

Die Jansenisten beriefen sich auf Augustinus, also auf die Tradition, um sie gegen das Lehramt auszuspielen. Scheeben, der größte deutsche Dogmatiker des 19. Jahrhunderts, vergleicht sie deshalb mit den Protestanten. Er schreibt: “Verwandt hiermit [dem alten Protestantismus] war der Jansenismus, welcher die Urkunden der kirchlichen Tradition ebenso behandelte wie die Protestanten die Heilige Schrift.”

Was meint er damit? Für die Protestanten war die Bibel die einzige Quelle und Regel des Offenbarungsglaubens. Anhand der Bibel entschieden sie, wo die wahre Kirche sei. Die Kirche sei dort, wo das wahre, reine Evangelium verkündet wird.

Genau so falsch ist es, die Tradition als Kriterium in Anspruch zu nehmen, um darüber zu urteilen, wo die wahre Kirche sei.

Protestanten und Jansenisten haben also gemeinsam, dass sie die nächste Glaubensregel abgeschafft haben. Der Unterschied ist: Die Protestanten haben sie durch die Bibel ersetzt, die Jansenisten durch die Tradition.

Beide Male wird das Verhältnis von Kirche und Glaubensquelle auf den Kopf gestellt: Es ist bei diesen Häresien nicht die Kirche, die uns sagt, wo der Glaube zu finden ist, die uns also den Zugang zu den beiden Quellen des Glaubens eröffnet, sondern umgekehrt wird in dem einen Fall die Schrift, im anderen Fall die Tradition zum Kriterium, anhand dessen der Einzelne beurteilt, wo die Kirche ist. Sie werden zum Mittel, das Privaturteil über das Urteil des Lehramts zu stellen. Das Lehramt wird seiner Position als richterlicher Glaubensinstanz beraubt und dem eigenen Privaturteil unterworfen.

Mit anderen Worten: Die regula proxima und die regula remota (die nächste und die entfernte Glaubensregel) werden vertauscht.

Das war der grundlegende Irrtum des Protestantismus: Er machte gewissermaßen das Unsichtbare (den Glauben) zum Kriterium für das Sichtbare (die Kirche), während die ganze Heilsstrategie Gottes gerade den umgekehrten Weg geht: Das Unsichtbare wird uns zugänglich durch das Sichtbare: Gott ist Mensch geworden, bedeutet auch: Gott ist sichtbar geworden. Am drastischsten hat das Johannes in seinem ersten Brief ausgedrückt: “Was von Anfang an war, was wir gehört, was mir mit unseren Augen gesehen haben, was wir schauten und was unsere Hände betasteten vom Loges des Lebens - und das Leben erschien, und wir haben es gesehen und bezeugen es...”

Der Höhepunkt der Offenbarung war die Sichtbarwerdung Gottes in der Menschwerdung. Aus diesem Grund hat er eine sichtbare Kirche gegründet, mit einem sichtbaren Vicarius Christi, mit einem sichtbaren und hörbaren Lehramt, damit uns durch die sichtbare Kirche und eine sichtbare und hörbare Glaubensregel der Zugang eröffnet wird zu den Geheimnissen des Glaubens, damit uns der verborgene Sinn dessen erschlossen wird, was uns in sichtbaren Urkunden der Schrift und Tradition überliefert ist.

Die Sichtbarkeit steht hier auch für die Objektivität des Glaubens. In dem Moment, wo die Glaubensquelle, sei es die Schrift, sei es die Tradition, dem Privaturteil des Einzelnen unterworfen wird, wird sie der Subjektivität unterworfen. Die protestantischerseits ins Feld geführte Berufung auf den Heiligen Geist, der dem Einzelnen bei der Lektüre der Schrift beisteht, nützt nichts, sobald eine Streitfrage über das rechte Verständnis entsteht. Da sich beide Parteien auf den Heiligen Geist berufen und es außerhalb des Einzelnen keine Entscheidungsinstanz mehr gibt, kann es auch keine Vermittlung und keine Beilegung des Streits geben. Der Glaube bleibt der Subjektivität des Einzelnen überlassen. Nur wenn es außerhalb des Einzelnen eine Entscheidungsinstanz gibt, nämlich ein göttlich eingesetztes und legitimiertes Lehramt, können die Glaubensquellen dem demütigenden Schicksal, Spielball subjektiver Auslegungen zu sein, entrissen werden.

IV. Die Priesterbruderschaft St. Pius X.

Mit dem bisher Ausgeführten dürfte klar sein, dass es vom katholischen Glauben her eine klare Grenze gibt, die nicht überschritten werden darf, wenn es um Kritik oder gar um Opposition gegen das Lehramt geht. Es ist klar, dass unterhalb der unfehlbar vorgelegten Glaubenswahrheiten ein gewisser Spielraum besteht. Das Zweite Vatikanische Konzil hat keine Dogmen verkündet. Darauf beruft sich die Piusbruderschaft immer wieder und leitet daraus das Recht ab, Kritik zu üben. Das ist zunächst einmal richtig. Kardinal Ratzinger selber hat in seiner Rede vom 13. Juli 1988 die Tendenz beklagt, aus dem Zweiten Vatikanum ein Superdogma zu machen, das gegen jede Kritik tabu sei. 2009 konnten wir dieses Superdogma wieder bestaunen, als deutsche Bischöfe verkündeten, für solche, die das Zweite Vatikanum nicht vollständig anerkennen, sei kein Platz in der Kirche. Nur merkwürdig, dass dieser Grundsatz nie angewandt wird, wenn der Zölibat bekämpft, die historische Glaubwürdigkeit der Evangelien infrage gestellt, die Verbindlichkeit der kirchlichen Sexuallehre geleugnet und die Unfehlbarkeit des Papstes bestritten wird - alles Lehren, die vom Zweiten Vatikanischen Konzil erneut eingeschärft wurden.

Man kann erlaubterweise etwa in den konziliaren Ausführungen über das Verhältnis der Kirche zur Welt, über den Fortschritt, über die anderen Religionen eine gewisse einseitige Tendenz beklagen, einen “naiven Optimismus” (Ratzinger, Theologische Prinzipienlehre, München 1982, 388). Der sogenannte Geist des Konzils, auf den sich viele moderne Theologen berufen und der einerseits in den Texten oft keinen Anhalt hat, kommt andererseits nicht einfach aus dem nichts. Er hat seinen Grund in jener Tendenz, die dann von diesen Theologen weitergedacht wird, ganz im Sinne des Diktums von Karl Rahner, das Konzil sei bloß der Anfang. Man kann auch mit Bischof Rudolf Graber an manchen Stellen eine Zweideutigkeit der Texte beklagen, die einer heterodoxen Ausdeutung zumindest anscheinend die Tür geöffnet hat. Schließlich muss es auch erlaubt sein, die Frage nach der Vereinbarkeit mit der Tradition dort zu stellen, wo das Konzil selber explizit oder implizit eine Neubesinnung und Neuorientierung beansprucht, nämlich im Verhältnis zur Welt, zu den anderen Religionen, in der Ökumene und am deutlichsten in der Lehre über die Religionsfreiheit. Aber inzwischen ist uns klar, was “Tradition” hier bedeutet. Die Berufung auf eine einzelne Enzyklika wie “Mortalium animos” von 1928 genügt nicht, um dem Konzil in Sachen Ökumene eine Abweichung von der göttlichen Tradition zu unterstellen. Eine neue ökumenische Praxis, Dialog, gemeinsame Veranstaltungen, Besinnung auf das Gemeinsame, Anerkennung der Heilselemente, die es auch in den anderen Konfessionen und Religionen gibt: All das sind Dinge, die nicht im Widerspruch zur Offenbarung stehen und damit auch nicht im Widerspruch zur Tradition als Glaubensquelle.

Die Priesterbruderschaft St. Pius X. überschreitet dann die erlaubte Grenze, wenn sie dem Konzil dort, wo es um das unaufgebbare Glaubensgut geht, also um die göttliche Tradition, einen unüberwindlichen Bruch mit der Tradition, also einen Abfall vom Glauben, eine Häresie vorwirft. Nicht nur der inzwischen ausgeschlossene Bischof Williamson, auch Bischof Tissier de Mallerais behauptet, dass es sich bei der Konzilslehre um eine andere Religion handele. Den gegenwärtigen Papst betrachtet er als einen modernistischen Häretiker.

Noch bevor die Verhandlungen mit Rom begannen, die nach der Aufhebung der Exkommunikation 2009 angekündigt worden waren, erklärte Tissier de Mallerais, dass die Piusbruderschaft ihre Positionen nicht aufgeben werde, sondern dass es darum gehe, Rom zur Tradition zu bekehren.

Was ist hier geschehen? Hier wird die oberste Gerichtsinstanz beansprucht. Es wird a priori ausgeschlossen, dass der eigene Standpunkt falsch sein könnte, und das Lehramt wird am eigenen Standpunkt gemessen. Man geht nicht in die Verhandlungen hinein mit einer gewissen Offenheit, die eigene Position gegebenenfalls zu revidieren. Aber, so lautet der Einwand, in Fragen des Glaubens darf man die eigene Position nicht zur Disposition stellen. Meine Antwort: Genau das ist der Piusbruderschaft vorzuwerfen, dass sie aus ihrer eigenen Kritik am Konzil ein Dogma macht. Es geht gerade nicht um Glaubensdogmen. Kein Mensch verlangt von ihr, irgendein Dogma aufzugeben. Sondern es geht um das richtige Verständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils.

Ich werfe der Piusbruderschaft nicht so sehr vor, dass sie einen Widerspruch sieht zwischen Konzil und Tradition. Ich werfe ihr vielmehr vor, an einer Klärung und Überwindung dieses Widerspruchs überhaupt nicht interessiert zu sein.

Würde die Kritik am Konzil wenigstens mit theologischer Kompetenz geführt, dann könnte daraus immerhin noch ein Erkenntnisvorteil entspringen. Aber das Gegenteil ist oft der Fall.

Nehmen wir als Beispiel folgende Aussage des Konzils aus der Dogmatischen Konstitution über die Kirche “Lumen gentium”: “Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit.” Das entspricht völlig der traditionellen Lehre, dass die Kirche dazu berufen ist, die Trennungsmauer zwischen Juden und Heiden einzureißen und alle Menschen und Völker zu einem einzigen mystischen Leib zu vereinen. Denken wir an Pfingsten: Alle Völker werden zusammengeführt! Im Alten Bund gab es das auserwählte Volk, die anderen Völker waren ausgeschlossen. Im Neuen Bund sind alle Menschen zur Einheit in den einen mystischen Leib, der die Kirche ist, berufen. Was macht P. Schmidberger aus der Aussage des Konzils? Eine innerweltliche Menschheitsverbrüderung! Nichts im Text des Konzils gibt Anlass zu dieser Deutung! Diese Deutung wird in den Text hinein-, nicht aus ihm herausgelesen.

Dieser Widerspruch zwischen Anspruch und Kompetenz ist peinlich. Und er verdeutlicht in krasser Weise das mangelnde Interesse, die Aussagen des Konzils im Licht der Tradition zu verstehen.

Im Einigungsprotokoll vom 5. Mai 1988 hatte der Heilige Stuhl der Piusbruderschaft das Recht zugestanden, jene Lehren des Konzils, die ihr im Widerspruch zur Tradition zu sein scheinen, ohne Polemik zu diskutieren. Jetzt fordert P. Schmidberger in einem Interview vom September 2012 das Recht, die Irrtümer des Konzils öffentlich an den Pranger zu stellen. Genau zwischen diesen beiden Haltungen läuft die Grenzlinie zwischen einer Kritik, die das Lehramt anerkennt, und einer Kritik, die sich über das Lehramt stellt.

Es auch nicht mit intellektueller Redlichkeit vereinbar, wenn und insofern die Piusbruderschaft sich immer noch als Opfer präsentiert. Mehr als die goldenen Brücken, die der Papst unter großen eigenen Opfern ihr schon gebaut hat, kann er gar nicht mehr bauen. Ich will gar nicht bestreiten, dass ungerechte Sanktionen bis hin zur Exkommunikation möglich sind, und selbst die legitime Möglichkeit, sich dann über sie hinwegzusetzen, sei geschenkt. Der springende Punkt ist ein ganz anderer. Die Piusbruderschaft ist es, die den gegenwärtigen Zustand, in dem sie sich als beklagenswertes Opfer präsentiert, aufrechterhält, und zwar, wie sie sagt, um katholisch zu bleiben.

Mit anderen Worten: Um katholisch zu bleiben, muss man sich der Hirtengewalt des Papstes entziehen. Und das jetzt schon über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten. Das bedeutet, dass seit dem Konzil das Lehramt und der Jurisdiktionsprimat de facto in ihrer Funktion für die Kirche ausgefallen sind. An ihre Stelle ist die Piusbruderschaft getreten, deren Überleben für die Rettung der Tradition notwendig sei.

Wie konnte es zu dieser Haltung kommen?

Bei seiner Audienz bei Paul VI. am 17. September 1976 (wenige Wochen nach seiner Suspendierung) sagte Erzbischof Lefebvre zum Papst (laut eigener Presseerklärung vom 18. September 1976), dass er zerrissen sei: “Ich stehe jetzt vor Ihnen. Ich möchte mit Ihnen völlig übereinstimmen, mich Ihnen in jeder Hinsicht völlig unterwerfen. Aber wie kann ich dies tun, da Sie sich doch immer weiter von Ihren Vorgängern entfernen? Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ich kann mich nicht von der Kirche trennen, wie sie immer war. Ich kann mich nicht von Ihren Vorgängern trennen und andererseits möchte ich mich auch nicht von Ihnen trennen. Sie entfernen sich aber in Ihren Taten und in Ihren Worten immer mehr von Ihren Vorgängern. Ich bin also förmlich zerrissen ...”

Aus diesen Worten erkennen wir eine echte Gewissensnot des Bischofs. Es war kein böser Wille, kein antirömischer Affekt, keine leichtfertige Kritiksucht, die ihn antrieb.

Die Priesterbruderschaft St. Pius X. entstand in einer Zeit zahlreicher Traditionsbrüche und als Antwort darauf. Aber inzwischen haben wir gelernt, zwischen göttlicher und rein kirchlicher Tradition zu unterscheiden. Die Unterlassung dieser Unterscheidung hat erst die Radikalisierung der Piusbruderschaft möglich gemacht.

Auf der einen Seite gab es die Liturgiereform und die Reform sämtlicher Sakramente: ein einmaliger Vorgang in der Geschichte, den festzustellen zunächst nichts mit einer Stellungnahme zur Piusbruderschaft zu tun hat. Es gab vor Paul VI. keinen einzigen Papst, der so etwas getan hat. Auf der anderen Seite gab es die Leugnung und Neuinterpretation sämtlicher Glaubenswahrheiten durch Theologen, bis hin zur Leugnung der Existenz Gottes etwa bei Gotthold Hasenhüttl. Hinzu kommt, dass sich solche Theologen oft auf das Zweite Vatikanum beriefen und sich sogar heute noch als deren Verteidiger präsentieren.

Wir finden nun bei Erzbischof Lefebvre von Anfang an die Tendenz, alle diese Phänomene in einen Topf zu werfen. In seinen Predigten kam oft die Formel, Rom verlange von ihm die Annahme der neuen Messe, des neuen Katechismus, des neuen Priestertums. Man würde ihm Unrecht tun, wenn man jeden Zusammenhang leugnen würde. So war die Liturgiereform auch von ökumenischen Motiven bestimmt und dem Bestreben, den Opfercharakter zugunsten des Mahlcharakters zurückzudrängen. Hier hat die Rede von der Verteidigung der Tradition einen Sinn. In der Optik Lefebvres machte sich der Heilige Stuhl durch die Liturgiereform zum Handlanger jener Theologen, die den Opfercharakter der hl. Messe leugnen. Für ihn war deshalb die Verteidigung der göttlichen Tradition und die Zurückweisung der Reform ein und dasselbe. Aber selbstverständlich war Paul VI. selber kein Häretiker, und die neue Liturgie stammt auch nicht aus der Häresie, noch ist sie häretisch, noch lehrt die Kirche etwas Häretisches über sie. Im Gegenteil: Papst Paul VI. hatte etwa in seiner Enzyklika Mysterium fidei die Lehre der Transsubstantiation gegen moderne Umdeutungen entschieden verteidigt.

Des weiteren kann sich keine einzige Dogmenleugnung moderner Theologen auf das Zweite Vatikanum berufen. Statt nun das Konzil gegen solchen Missbrauch zu verteidigen, beruft sich die Piusbruderschaft sogar auf solche Theologen, um ihre These vom unüberwindlichen Traditionsbruch zu untermauern. Mit anderen Worten: Aus der Unterlassung, zwischen Schwächen des Konzils und dessen Missbrauch zu differenzieren, ist eine unheilige Allianz mit modernistischen Theologen in Sachen einer Hermeneutik des Bruchs geworden. In seinem Interview wies P. Schmidberger eine Hermeneutik der Kontinuität zurück. Das bedeutet: Er weigert sich, mit katholischen Augen auf das Konzil zu schauen.

Im angeführten Zitat spricht Erzbischof Lefebvre eine zweifache Trennung an, die er Paul VI. vorwirft: die Trennung von den Vorgängern und die Trennung von der Kirche, wie sie immer war. Aber das sind zwei verschiedene Dinge. Auch unter den Vorgängern Pauls VI. hatte die Kirche eine bestimmte historische Gestalt und die Lehrentwicklung einen historischen Stand, die mit der von früher nicht identisch sind. Man sollte das, was man in der Kindheit kennengelernt hat, nicht mit der Tradition verwechseln. Wenn man selber immer schon so gedacht hat, bedeutet das nicht, dass die Kirche immer schon so gedacht hat. Das gilt besonders für Lefebvres Haltung zur Religionsfreiheit. Sein Denken ist ganz geprägt vom Kampf gegen den Liberalismus. Das aber ist eine Auseinandersetzung aus dem 19. Jahrhundert, nicht aber eine göttliche Tradition.

Bei der Zurückweisung der konziliaren Religionsfreiheit beruft sich die Piusbruderschaft auf eine spezielle Ausformung der kirchlichen Gesellschaftslehre aus der Zeit des konfessionellen Staats. Diese Lehre ist gerade mal 200 Jahre alt. Warum hält sie nicht an der mittelalterlichen Lehre von der weltlichen Papstgewalt (potestas directa in temporalibus) fest? Die gab es noch viel länger als 200 Jahre und wurde dann doch wieder fallengelassen. Aufgrund dieser Lehre teilte Alexander VI. 1493 die Welt zwischen Spanien und Portugal auf, und zwar aus bloßer Freigebigkeit und aus der Fülle der apostolischen Gewalt! Werke von Theologen, die die weltliche Machtfülle des Papstes in Frage stellten, wurden (von Sixtus V.) auf den Index gesetzt, darunter der hl. Robert Bellarmin. Später wurde Bellarmin heiliggesprochen und zum Kirchenlehrer erhoben! Was für ein Bruch mit der Tradition! Wenn sich also die Piusbruderschaft bei diesem Thema auf die Tradition beruft, dann ist diese Tradition in Wirklichkeit nur eine Momentaufnahme der Lehrentwicklung aus dem 19. Jahrhundert.

Recht hat die Piusbruderschaft dagegen, wenn sie die Leugnung des Opfercharakters der hl. Messe, die Umdeutung des Priestertums, die Leugnung der leiblichen Auferstehung Jesu usw. bekämpft. Hier geht es wirklich um Dogmen. Ihre Leugnung macht die gegenwärtige Kirchenkrise aus. Während es bei Erzbischof Lefebvre noch einigermaßen verständlich und verzeihlich war, dass er diese Leugnung mit der Neuorientierung der nachkonziliaren Päpste in einen Topf warf, ist dies jetzt nicht mehr möglich, nachdem Papst Benedikt XVI. mit solcher Vehemenz dem Relativismus und jeder Aufweichung des Glaubens den Kampf angesagt hat.

Wenn Bischof Tissier de Mallerais behauptet, der wichtigste Kampf, den es heute zu führen gelte, sei der gegen die Religionsfreiheit, dann halte ich das für eine Verharmlosung der Krise. Denn es geht um viel mehr. Er kämpft die Schlachten von gestern, statt sich den Herausforderungen von heute zu stellen. Er kämpft für den katholischen Staat und untergräbt die Autorität des Papstes. In einer Zeit, in der durch die Globalisierung die Welt zu einem Dorf zusammengeschrumpft ist, hat die Forderung nach Religionsfreiheit einen anderen Sinn als zur Zeit des Kirchenstaats. Wenn etwa im Kommunismus Gläubige blutig verfolgt wurden, ist das dann ein Unrecht nur gegenüber den Katholiken oder nicht auch gegenüber den verfolgten Orthodoxen, Baptisten, Juden und Muslimen? Soll die Kirche nur gegen die Verfolgung der Katholiken protestieren und die andere gutheißen? Wenn sie aber gegen die Verfolgung aller Gläubigen protestiert, in welchem Namen? Natürlich nicht im Namen des wahren Glaubens, sondern im Namen der menschlichen Würde. Gerade weil das Konzil das Recht auf Religionsfreiheit nicht mit der Wahrheit des Bekenntnisses, sondern mit der Würde des Menschen begründet, bedeutet dieses Recht keine Gleichstellung der Religionen, wie es von seiten der Piusbruderschaft immer wieder unterstellt wird.

Wenn man die katholische Ekklesiologie verstanden hat, wie sie im ersten Teil ausgeführt wurde, gibt es nur eine legitime Umgangsweise mit dem Konzil: Es zu interpretieren im Licht der Tradition oder - m.a.W. - in Kontinuität mit der Tradition. Genau das hatte Erzbischof Lefebvre seinerzeit gefordert. Dasselbe fordert der Papst Benedikt XVI. heute und stößt damit auf den Widerstand der Piusbruderschaft. Der Grund: Die Piusbruderschaft hält unbedingt an einem unüberbrückbaren Widerspruch zwischen Konzil und Tradition fest. Die kategorische Weigerung, das eigene Konzilsverständnis in Frage zu stellen, läuft auf den Anspruch hinaus, selber die Deutungshoheit über das Konzil zu besitzen. Und das bedeutet: Sie spricht dem Heiligen Stuhl diese Deutungshoheit ab. Damit betreibt sie die praktische Abschaffung des Lehramts.

Bei den Protestanten haben wir gesehen, wie die Abschaffung des Lehramts zu einem Subjektivismus führte, der eine Entscheidbarkeit in Glaubenskontroversen unmöglich macht. Genau dieses Phänomen beobachten wir nun in der Piusbruderschaft: Mit denselben Argumenten, mit denen die Bruderschaft sich der Lehr- und Hirtengewalt des Papstes entzieht, rechtfertigt Bischof Williamson seinen Ungehorsam gegenüber seinem Generaloberen. Im Namen des Glaubens streitet er ihm die Autorität ab, ihn zu disziplinieren. Wer hat nun Recht: Williamson gegen Fellay? Fellay gegen Williamson? Fellay gegen Rom? Wer entscheidet?

Diese Frage ist vom katholischen Glauben längst beantwortet. Es gibt nur eine göttlich legitimierte Entscheidungsinstanz: das kirchliche Lehramt in Rom.

Es handelt sich bei diesem Text um einen Vortrag, den ich am 11. November 2012 in Trier auf Einladung des dortigen Initiativkreises gehalten habe. Er wurde in der UNA VOCE Korrespondenz 1. Quartal 2013, S. 59 ff veröffentlicht.


Der springende Punkt

Eine Antwort auf P. Michael Weigl

Von P. Engelbert Recktenwald

In der Una Voce Korrespondenz erschien letztes Jahr mein Artikel Tradition und Lehramt, in dem ich die katholische Lehre über das Verhältnis von Tradition und Lehramt dargelegt habe. Dabei spielt der theologische Fachausdruck der “Glaubensregel” eine große Rolle. Das Lehramt ist die nächste, die Tradition die entferntere Glaubensregel. Das bedeutet, dass das von Christus gestiftete lebendige Lehramt der Kirche mir den Schlüssel zur Deutung und zum Verständnis der Offenbarungswahrheit, wie sie in Schrift und Tradition enthalten ist, darbietet. Bei den Protestanten und den Jansenisten kehrte sich dieses Verhältnis um: Sie beanspruchen für sich, unabhängig vom Lehramt das richtige Verständnis der Glaubenswahrheit zu besitzen, und messen nun das Lehramt an diesem ihrem Verständnis. Die Protestanten richten über das Lehramt im Namen der Schrift, die Jansenisten im Namen der Tradition. Die Anwendung des Prinzips der Glaubensregel auf die Haltung, wie sie sich im Laufe der Jahre immer deutlicher bei der Priesterbruderschaft St. Pius X. herausgebildet hat, offenbart eine deutliche Tendenz in Richtung Jansenismus (in dem erwähnten Punkt!). Dem hat in der Folge ein Mitglied der Piusbruderschaft, P. Dr. Michael Weigl, widersprochen.

In seiner in der UVK erschienen Antwort listet er die Beispiele für widerstreitende Lehrentscheidungen auf, die er im Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen (Denzinger-Hünermann) gefunden hat, und legt mit ihrer Hilfe überzeugend dar, dass das kirchliche Lehramt keineswegs durchgehend unfehlbar ist und sich folglich im Laufe der Kirchengeschichte in manchen seiner Äußerungen geirrt hat. Dies wäre eine schlagende Widerlegung meiner Ausführungen, wenn dieselben eine solch durchgehende Unfehlbarkeit behauptet hätten. Aber das haben sie nicht. Vielmehr geht es um die grundsätzliche Frage des Verhältnisses von Lehramt und Tradition, der nächsten und entfernteren Glaubensregel, und des Inhabers der Interpretations- und Entscheidungskompetenz über den Inhalt und den Verbindlichkeitsgrad von Lehramtsäußerungen. Mit anderen Worten: Wer entscheidet in letzter Instanz, ob das Lehramt unfehlbar oder gar fehlerhaft gesprochen hat oder nicht, oder wie eine Konzilsaussage zu verstehen ist oder nicht? Das Lehramt selber oder die Piusbruderschaft oder Bischof Williamson oder sonst jemand? Diese Fragen werden von P. Weigl nicht einmal berührt, geschweige denn beantwortet.

P. Weigl führt die Bulle Etsi non dubitemus Eugens IV. an, um darzulegen, dass “die Tradition ein Maßstab des lebendigen Lehramtes” sei. Hätte er meinen Artikel aufmerksam gelesen, hätte er bemerken können, dass er damit bei mir offene Türen einrennt. Auf Seite 64 habe ich die Rückgebundenheit des Lehramts an die Tradition ausdrücklich dargelegt. Ich habe dann aber auch die Grenze dieses Prinzips aufgezeigt und darzulegen versucht, warum nach katholischer Auffassung trotzdem das Lehramt die nächste und die Tradition die entferntere Glaubensregel ist, und warum deshalb die Jansenisten, die die Tradition gegen das Lehramt ausspielten, im Irrtum waren. Auf all dies geht Weigl mit keiner Silbe ein.

Weigl zitiert Papst Eugen IV., der die Pflicht einschärft, kirchliche Dekrete im Licht der Tradition zu interpretieren. Genau dieser Pflicht entzieht sich die Piusbruderschaft, indem sie die Hermeneutik der Kontinuität ablehnt und darauf beharrt, das Zweite Vatikanische Konzil modernistisch zu interpretieren, wie ich es an einem Beispiel demonstriert habe. Auch dies übergeht Weigl.

Weigl bringt ein aufschlußreiches Zitat von Kardinal Van Rossum, in dem dieser die legitime Möglichkeit einräumt, von der Irrigkeit eines Lehramtsdekrets überzeugt zu sein. In diesem Fall sei es “völlig erlaubt und lobenswert, mit der geschuldeten Ehrerbietung Argumente für die Gegenposition vorzubringen und von der Kirche demütig die Prüfung des Dekretes zu erwarten.”

Hier könnte man biblisch antworten: “Du richtest dich mit deinen eigenen Worten.” Denn genau dies hat der Heilige Stuhl der Piusbruderschaft zugestanden, und zwar schon im Einigungsprotokoll vom 5. Mai 1988 und neulich wieder im Brief von Kurienerzbischof Augustine di Noia von Ende 2012 an die Piusbruderschaft. Di Noia zitiert die Instruktion Donum Veritatis der Glaubenskongregation vom 24. Mai 1990, die es dem Theologen erlaubt, seine Einwände gegen eine Äußerung des Lehramts vorzulegen, aber eben in jenem Geiste, den auch Kardinal Van Rossum bezeugt, d.h. in der Bereitschaft, das letzte Urteil dem Lehramt zu überlassen. Genau in diesem Punkt weicht die Piusbruderschaft von der katholischen Haltung ab. Sie behält sich selber das letzte Urteil vor, richtet über den Papst wie über einen Apostaten und erwartet, dass Rom sich zu dem bekehre, was sie unter Tradition versteht. Der springende Punkt ist nicht, dass sie Schwierigkeiten mit einzelnen Lehramtsäußerungen hat und ihre Bedenken vorträgt, sondern dass sie behauptet, man müsse, um katholisch zu bleiben, eine Einigung mit Rom ablehnen. Sie spricht dem Heiligen Stuhl den katholischen Glauben ab, und das über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten und der Pontifikatsdauer mehrerer Päpste hinweg. Damit beansprucht sie für sich genau jene oberste Richterkompetenz, die nach katholischem Verständnis nur Rom zusteht.
Weigl hat für eine solche Position weder Beispiele noch Belege aus der Tradition anführen können, hat sich aber auch nicht von den horrenden Urteilen der Piusbruderschaft über Papst und Konzil als Vertretern einer neuen Religion distanziert. Andererseits ehrt es ihn, das Zitat des Kardinals, mit dem er sich selber überführt, nicht unterschlagen zu haben. Im übrigen geht es mir nicht, wie Weigl zu meinen scheint, darum, die Piusbruderschaft abzuqualifizieren, sondern von ihren Blockaden zu befreien, die sie daran hindern, in der Kirche ihren Platz zu finden. Das wünsche ich ihr von ganzem Herzen, damit ihr Wirken für die Kirche fruchtbar werde.


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