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Der Streit um die Religionsfreiheit

Was die Piusbruderschaft in ihrer Kritik am Konzil übersieht

Von P. Engelbert Recktenwald

Dieser Aufsatz erschien zuerst im Vatican-Magazin im Februar 2011

Der Protest des Papstes gegen Übergriffe auf Christen und seine Forderung, die Religionsfreiheit zu achten, stoßen immer wieder auf heftige Kritik. So hat sich etwa die ägyptische Regierung gegen eine “inakzeptable Einmischung in innere Angelegenheiten” verwahrt und ihre Botschafterin beim Vatikan zurückberufen. Aber es sind nicht nur christentumsfeindliche Kräfte, die an den päpstlichen Appellen Anstoß nehmen. Kritik kommt auch von einer Seite, von der man es nicht vermutet und die sich ganz besonders katholisch wähnt: von der Priesterbruderschaft St. Pius X.

Hier gibt es Stimmen, die das Eintreten Benedikts XVI. für die Religionsfreiheit “einen gotteslästerlichen Wahnsinn” nennen (Rundbrief des Rheinhausener Priorats vom August 2010). Die Begriffsverwirrung lässt grüßen! Ist es in Piusaugen Gotteslästerung, wenn sich der Papst gegen die blutige Verfolgung von Christen wendet? Natürlich nicht! Aber man findet die Religionsfreiheit gotteslästerlich, weil sie keinen Unterschied zwischen den Religionen macht und deshalb Christus auf dieselbe Stufe mit Mohammed und Buddha stellt. Da kann man nicht heftig genug gegen den Papst hetzen, wie es der von einem Piusbruder geschriebene Rundbrief zeigt: wahnsinnige Hybris, liberales Gift, mit dem auch der Antichrist arbeiten werde, Fortsetzung der Vatikanum-II-Revolution, ja sogar das Gesetz Satans: das sind die Schandtaten, die demjenigen Papst, der sie von der Exkommunikation befreite, unterschoben werden.

Nun könnte man die Frage stellen, ob z.B. die kommunistischen Regime, als sie religiöse Menschen verfolgten, nur dann Unrecht verübten, wenn diese Menschen Katholiken oder wenigstens Christen waren? Dieser Frage stellt sich die Piusbruderschaft in der Regel nicht, und zwar deshalb, weil sie in ihrer Reflexion über die Religionsfreiheit nicht in der heutigen Welt lebt, sondern in jener vergangenen, als es noch katholische Staaten gab. Der Papst spricht zur Gegenwart: Wenn er Religionsfreiheit fordert, dann fordert er den Schutz der Gläubigen jeglichen Glaubens vor staatlicher Willkür. Das ist die Situation von heute. In den Ohren der Piusbrüder erhalten die Worte des Papstes einen anderen Sinn. Sie hören: Abschaffung des katholischen Staates, Gleichstellung der katholischen Kirche mit allen Sekten und Relativierung der christlichen Wahrheit. “Dann können wir sofort alle Gebote, alle Sakramente, alle anstrengenden Gebetsabende usw. abschaffen und nach Lust und Laune leben,” folgert unser bereits zitierter Piusbruder aus der Botschaft des Papstes zum Weltfriedenstag, die unter dem Motto steht: “Religionsfreiheit, der Weg zum Frieden.”

So sehr es jedem bei Sinnen Gebliebenen offenkundig ist, dass in dieser Deutung der Sinn der päpstlichen Worte auf den Kopf gestellt wird, so hilfreich ist diese Missdeutung, um den Wandel zu begreifen, den der Begriff der Religionsfreiheit durchgemacht hat. Im 19. Jahrhundert wurde die Religionsfreiheit von der Kirche verurteilt, im 20. wird sie seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil von ihr eingefordert. Bedeutet die Lehre des Konzils also eine Revolution, wie die Piusbruderschaft meint? Natürlich nicht. Schauen wir uns die Sache näher an.

Im 19. Jahrhundert ging es der Kirche darum, den christlichen Grundwasserpegel gegen das Vordringen deistischer, atheistischer und agnostischer Strömungen zu halten. Diese benutzten die Gewissens- und Religionsfreiheit als Kampfbegriffe, um Staat und Gesellschaft zu entchristlichen. Dem setzte die Kirche die Verbindlichkeit der Wahrheit und der wahren Religion für menschliches und staatliches Handeln entgegen. Der Begriff der Gewissensfreiheit, den Gregor XVI. in seiner oft zitierten Enzyklika Mirari vos 1832 als Wahnsinn (deliramentum) verurteilte, und der entsprechende Begriff der Religionsfreiheit sind jene des Indifferentismus, der eine Gleichwertigkeit der Religionen und “die völlige Unabhängigkeit des Gewissens” (Pius XI. 1931 in Non abbiamo bisogno) lehrt. Selbstverständlich gibt es kein moralisches Recht auf den Irrtum. Diese Lehre der Kirche ist bis auf den heutigen Tag gleich geblieben. Auch das Konzil lehrt in seiner Erklärung über die Religionsfreiheit, dass die einzig wahre Religion in der katholischen Kirche verwirklicht sei und dass alle Menschen verpflichtet sind, “die Wahrheit, besonders in dem, was Gott und seine Kirche angeht, zu suchen und die erkannte Wahrheit aufzunehmen und zu bewahren. In gleicher Weise bekennt sich das Konzil dazu, daß diese Pflichten die Menschen in ihrem Gewissen berühren und binden.” Diese Zurückweisung des Indifferentismus ist der Hintergrund, auf dem alle dann folgenden Ausführungen über die Religionsfreiheit zu verstehen sind.

Schon Pius XI. hatte im erwähnten Rundschreiben Non abbiamo dem Begriff der Gewissensfreiheit eine positive Bedeutung gegeben. Für sie kämpfe die Kirche den guten Kampf. Zwar ist hier der Gedanke, dass die Gewissensfreiheit dem einzelnen Menschen unabhängig von seiner Religionszugehörigkeit zukommt, noch nicht ausgesprochen, aber bereits sechs Jahre später rief derselbe Papst in Divini Redemptoris außer die Christen auch jene Menschen zum guten Kampf gegen den Kommunismus auf, “die noch an Gott glauben und ihn anbeten.” Nebenbei bemerkt: Nach Leuten wie P. Franz Schmidberger, dem deutschen Distriktsoberen der Piusbruderschaft, gibt es diese Menschen gar nicht, da nach ihrer Meinung selbst die Juden nicht an denselben Gott wie die Christen glauben. Pius XI. dagegen musste sogar an die Muslime gedacht haben, da er die an Gott Glaubenden für “die weitaus größte Mehrzahl der Menschen” hielt.

Die Erfahrung der Verfolgung aller Religionen durch den kommunistischen Staatsterror drängte immer mehr die Erkenntnis auf, dass in dieser Situation Christen und andere Religionsanhänger im selben Boot sitzen. Deshalb ist es kein Zufall, dass sich gerade auch Konzilsväter aus den kommunistischen Ostblockstaaten für die Religionsfreiheit stark machten, etwa Josef Kardinal Beran von Prag, der in einer Konzilsrede die schlimmen Folgen der “Verletzung der Gewissensfreiheit” schilderte. Tatsächlich wäre es reiner Zynismus, wenn die Kirche angesichts blutiger Verfolgung Freiheit allein für Katholiken, nicht aber für andere Menschen fordern würde. Es ging also darum, eine Lehre der Staatspflichten zu formulieren, die nicht die spezifische Situation bedrohter katholischer Staatsreligion im 19. Jahrhundert vor Augen hat, sondern die gegenwärtige Situation einer Pluralität von Religionen gegenüber Staaten, die von religionsfeindlichen Ideologien dominiert werden. Es ging nicht mehr um das Verhältnis von Staat und Kirche, sondern von Staat und Religion überhaupt. Dazu ist eine Abstraktion vom Wahrheitsgehalt der jeweiligen Religion nötig, die der katholischen Fundamentaltheologie immer geläufig war, nicht aber etwa der Dialektischen Theologie im protestantischen Raum. Während diese nur eine unversöhnliche Entgegenstellung von christlichem Glauben, der von oben komme, und menschlicher Religion, die von unten komme, kennt, geht die katholische Theologia von einer analogia entis aus, die die übernatürliche Gnade an die natürlichen Gegebenheiten anknüpfen läßt. Zu diesen Gegebenheiten gehört auch die religiöse Dimension des Menschen, seine Offenheit auf die Transzendenz hin. Der Mensch ist von Natur aus ein homo religiosus. Die Würde und Freiheit des “homo religiosus” muss geachtet werden, wie Papst Benedikt in seiner Ansprache vor dem diplomatischem Corps am 10. Januar 2011 betonte. In einer zunehmend säkularisierten Welt bedeutet das Recht auf Religionsfreiheit das Recht auf Religion. Benedikt hat es in seiner Botschaft zum Weltfriedenstag prägnant formuliert: “Das Recht auf Religionsfreiheit ist in der Würde des Menschen selbst verankert, dessen transzendente Natur nicht ignoriert oder vernachlässigt werden darf. Gott hat Mann und Frau als sein Abbild erschaffen (vgl. Gen 1,27). Deshalb besitzt jeder Mensch das heilige Recht auf ein ganzheitliches Leben auch in spiritueller Hinsicht. Ohne die Anerkennung des eigenen geistigen Wesens, ohne die Öffnung auf das Transzendente hin zieht der Mensch sich auf sich selbst zurück, kann er keine Antworten auf die Fragen seines Herzens nach dem Sinn des Lebens finden und keine dauerhaften ethischen Werte und Grundsätze gewinnen, kann er nicht einmal echte Freiheit erfahren und eine gerechte Gesellschaft entwickeln.” Und am 10. Januar führte er aus, dass “die religiöse Dimension” des Menschen den “Maßstab für die Verwirklichung seiner Bestimmung und für den Aufbau der Gemeinschaft” bilde.

Ähnlich hat das Konzil das Recht auf religiöse Vereinigung in der gesellschaftlichen Natur des Menschen und im Wesen von Religion verankert. Es ist interessant zu beobachten, wie die Piusbruderschaft sich in der Deutung dieser Texte beharrlich weigert, jene für die katholische Theologie typische Abstraktion mitzuvollziehen und sich damit der Dialektischen Theologie annähert. Aufschlußreich ist die Lesart des Konzilstextes, wie sie der Dogmatiker der Piusbruderschaft P. Matthias Gaudron vorlegt, der ihn auf die Betätigung “eines falschen Kultes” bezieht (Civitas 10). Es ist so, wie wenn man das Elternrecht auf Erziehung leugnen wollte, weil die meisten Eltern ihre Kinder nicht katholisch erziehen, und man infolgedessen dieses Recht als ein Recht auf Irrtum missdeutet. Wenn die Kirche das Erziehungsrecht allen Eltern unabhängig von ihrem Glauben zuerkennt, bedeutet dies nicht die Anerkennung eines Rechts auf eine falsche Erziehung. Analog ist der konziliare Rechtsbegriff im Zusammenhang mit der Religionsfreiheit zu denken. Es ist deshalb falsch, wenn Gaudron behauptet, das Konzil lehre “ein wahres Recht, in der öffentlichen Religionsausübung eines falschen Kultes nicht gehindert zu werden”. Das Konzil spricht nicht von falschen Kulten, sondern von der Religion überhaupt, so wie die Kirche in der Darlegung des Erziehungsrechts nicht von muslimischer Erziehung, sondern von Erziehung überhaupt spricht, obwohl das, was sie über das Elternrecht sagt, auch für muslimische Eltern gilt.

Der Staat wird in der konziliaren Lehre in die Pflicht genommen, der Verwiesenheit des Menschen auf die Transzendenz gerecht zu werden und sie zu begünstigen. Benedikts Einforderung der Religionsfreiheit ist die Mahnung an den Staat, seine religiösen Grundlagen nicht zu vergessen. Bei der Piusbruderschaft wird das Gegenteil daraus. Aus der Religionsfreiheit folgert sie “die Ausrufung des staatlichen Atheismus” (Franz Schmidberger in Civitas 3). Größer läßt sich der Unterschied zwischen den beiden Begriffen der Religionsfreiheit, wie sie von Lehramt und Piusbruderschaft verwendet werden, nicht mehr denken. Die Tragik besteht darin, dass die Bruderschaft nicht willens oder fähig ist, den Unterschied zu erkennen, und deshalb den von ihr mit Recht zurückgewiesenen Begriff der Religionsfreiheit für den des Lehramts hält.

Wenn auch das Konzil die Lehre über die Religionsfreiheit so explizit wie nie zuvor entfaltet hat, so handelt es sich dennoch nicht um einen Bruch, sondern um das Stadium einer Entwicklung, die schon bei den Piuspäpsten vorbereitet wurde. Ausgangspunkt dieser Entwicklung ist die Toleranzlehre, wie sie im 19. Jahrhundert entfaltet wurde, z.B. in den klassischen Ausführungen der Enzyklika Libertas praestantissimum Leos XIII. Hier wird der öffentlichen Gewalt zugestanden, das, “was der Wahrheit und Gerechtigkeit zuwiderläuft” (wozu die nichtkatholischen Bekenntnisse und Religionen gehören), zu dulden, “wenn es sich darum handelt, ein größeres Übel zu verhindern oder ein wahres Gut zu erlangen oder zu schützen.” Diese Toleranz ist also erlaubt, wenn der Staat um der Vermeidung größerer Übel willen dazu gezwungen ist. Aber das Konzept eines Staates, der “gegen alle Religionen gleichmäßig wohlwollend gesinnt ist und allen ohne Unterschied die gleichen Rechte zuerkennt”, wird zurückgewiesen. Es ist ein Unrecht gegenüber der Wahrheit, wenn dem Irrtum die gleichen Rechte eingeräumt werden. Das ist die klassische Argumentationsstruktur, bei der die Piusbruderschaft stehengeblieben ist.

Doch schon Pius XII. hat diese Lehre weiterentwickelt, indem er sie um einen personalistischen Ansatz bereicherte. In seiner Ansprache vom 7. September 1955 fügte er einen weiteren Grund für die Toleranz hinzu, nämlich die “Überzeugung” jener Menschen, die nicht wie die Kirche denken. Er meint damit natürlich nicht den Irrtum, von dem sie überzeugt sind, sondern die Überzeugung als subjektiven Gewissensspruch, den es zu respektieren gilt. Ausdrücklich weist er den Vorwurf zurück, die Kirche habe in der Vergangenheit “die persönliche Überzeugung derjenigen, die nicht wie sie denken, mißachtet.” Wenn er dann auf den Einwand aus der mittelalterlichen Strafverfolgung der Apostasie mit dem Hinweis antwortet, dass einerseits die Apostasie als Schuld betrachtet wurde und andererseits es “die Zerreißung der religiösen und kirchlichen Einheit des Abendlandes zu vermeiden” galt, so geht es ihm offensichtlich darum, klarzustellen, dass jenes Handeln nicht im Widerspruch stand zu jener Achtung vor der Überzeugung jedes Menschen, die er hier der Kirche zuschreibt. Wenn er in solchem Zusammenhang dann davon spricht, dass die Kirche stets “die Freiheit der religiösen Überzeugung” gewahrt habe, dann haben wir hier bereits den Begriff der Religionsfreiheit, wie er im Konzil weiter entfaltet wird. Denn aus dem Zusammenhang geht eindeutig hervor, dass Pius XII. mit der “Freiheit der religiösen Überzeugung” die irrige Überzeugung des Nichtkatholiken meint, also von Wahrheit und Irrtum der Überzeugung abstrahiert und die Achtung vor der Überzeugung nicht aufgrund ihres Wahrheitsgehalts, sondern aufgrund der personalen Würde ihres Trägers einfordert.

In seiner Ansprache vom 17. Februar 1950 spricht Pius XII. sogar von einem “Menschenrecht”, nämlich dem “auf eigene Urteilsbildung”, und von der “rechten Gedankenfreiheit”. Zwar fügt er auch hier sofort hinzu “betrachtet im Lichte des göttlichen Gesetzes”, aber aus den folgenden Erklärungen geht hervor, dass er mit diesem göttlichen Gesetz das Naturrecht meint. Er verurteilt hier nämlich eine Presse, die durch Lüge und Aufreizung Kriegsstimmung verbreitet. Im größeren Zusammenhang geht es um die Zurückweisung der Übergriffe totalitärer Regime. Wenn der Papst dies tut im Namen der Menschenrechte und nicht im Namen der Wahrheit des Katholizismus, dann aufgrund der Erkenntnis, dass diese Übergriffe gegenüber Nichtkatholiken den gleichen Unrechtscharakter haben wie gegenüber Katholiken. Mit anderen Worten: Die Frage des Wahrheitsgehalts der Religionen spielt keine Rolle, wenn die Religionsfreiheit gegenüber totalitären Regimen verteidigt werden muss. Eben dies war dann auch der historische Kontext des Konzils.

Wir treffen also in der vor- und nachkonziliaren Staatslehre auf zwei komplementäre Gesichtspunkte: einerseits auf den Gedanken der moralischen Verpflichtung gegenüber der geoffenbarten Wahrheit. Diese Verpflichtung betrifft den Einzelnen wie auch den Staat. Deshalb hat dieser die Pflicht, den christlichen Glauben zu fördern und zu schützen. Andererseits haben wir den personalistischen Ansatz, der die Würde des Einzelnen und seine Rechte im Auge hat. Die konkrete Ausbalancierung dieser antagonistischen Ansprüche hängt von den historischen Umständen ab. Die traditionelle Toleranzlehre geht vom christlichen Staat aus, dessen Einheit zu wahren bleibt. Im Falle des Häretikers, der durch seine Propaganda diese Einheit bedroht, steht der Staat vor einer Güterabwägung: Soll er seine Einheit (und den Glauben der Katholiken) schützen oder die Religionsfreiheit des Häretikers achten? Die traditionelle Antwort lautete, dass ersteres Anliegen den Vorrang habe. Die Strafverfolgung wurde zusätzlich gerechtfertigt durch die Annahme, dass Häresie immer schuldbeladen sei. Bei Pius IX. tauchte erstmals der Begriff der “unüberwindlichen Unwissenheit” (ignorantia invincibilis) auf, der die Möglichkeit gutgläubiger Häresie ohne subjektive Schuld in Rechnung stellt. Die Zeiten der Inquisition waren vorbei, und in der Lehre wurde nun betont, dass der Staat nur die öffentliche, nicht aber die private Religionsausübung der Häretiker unterbinden darf. Im 19. Jahrhundert war die Einführung des Begriffs der unüberwindlichen Unwissenheit eine vergleichbare “Neuerung” wie die des Begriff der Religionsfreiheit auf dem Konzil: neu in seiner Explizität, aber implizit schon zuvor in der Theologie wirksam.

Die Staatslehre Leos XIII. ging noch ganz von der religiösen Einheit des Staates aus, davon, wie es in Libertas praestantissimum heißt, dass “im Staat notwendigerweise Einheit im religiösen Bekenntnis bestehen muß.” Dabei war diese Einheit etwa im amerikanischen Staat von Anfang an nicht gegeben, und trotzdem existierte er 1888, als Leo dies schrieb, schon über 100 Jahre. Wenn also diese Lehre nicht immer mehr den Beigeschmack des Utopischen erhalten sollte, war es notwendig, eine Staatslehre zu entwickeln, die nicht vom katholischen Bekenntnisstaat ausgeht, sondern den Staat als solchen, unabhängig von seiner religiösen Prägung, in den Blick nimmt. Genau das haben die Päpste seit Pius XII. getan.

Bis dahin führte der personalistische Ansatz ein Schattendasein. Er war aber nie ganz verschwunden. So finden wir z.B. im Schreiben Papst Gregors IX. an die Bischöfe Frankreichs vom 6. April 1233 die Mahnung, die Christen sollten den Juden das gleiche Entgegenkommen erweisen, das die Christen in den Heidenländern für sich wünschen. Dieser Gedanke des “gleichen Rechts für alle” ist nur dann plausibel, wenn er von einer naturgegebenen Gleichheit der Würde der Person ausgeht. Es gibt eben nicht nur Christen-, sondern auch Menschenrechte. Der hl. Papst Gregor I. verbot, den Juden ihre Synagogen zu entziehen und sie daran zu hindern, ihre Festlichkeiten zu begehen. Der Theologe Suarez gibt als Grund dafür an, dass ein solches Verbot gewissermaßen einen Zwang zur Annahme des christlichen Glaubens darstelle, der nie erlaubt sei. Dass man nicht so fein säuberlich zwischen (verbotenem) Zwang zur Annahme des Glaubens und (erlaubtem) Zwang zum Verzicht auf öffentliche Religionsausübung unterscheiden kann, wie es die Piusbruderschaft sich wünscht, wußte also schon die spanische Scholastik. Auch Kardinal Beran hatte in seiner erwähnten Konzilsrede darauf hingewiesen und durch Beispiele aus der Praxis belegt.

Voll zur Geltung gekommen war der personalistische Ansatz aber immer schon in einem anderen Bereich, nämlich im Elternrecht. Muslimische Eltern beispielsweise haben ebenso wie christliche Eltern das Recht auf Erziehung ihrer Kinder. Der Einwand, der Irrtum habe keine Rechte, verfängt deshalb nicht, weil es hier nicht um ein moralisches Recht auf Irrtum geht, sondern um ein Naturrecht der Eltern, das sie unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit besitzen. Dieses Recht ist ein Recht im Verhältnis zum Staat. Das Kind gehört den Eltern, so argumentiert der hl. Thomas von Aquin, und deshalb wäre es von Seiten des Staats ein Unrecht, wenn er - und sei es im Interesse des ewigen Seelenheils des Kindes - in dieses Recht eingreift. Der konziliare Begriff der Religionsfreiheit ist analog zu verstehen. Das Gewissen gehört noch mehr zum innersten Besitztum des Einzelnen als dessen Nachwuchs. Es ist für ihn bindend selbst dann, wenn es irrt. Deshalb hat der Staat die Pflicht, das Gewissen seiner Bürger zu respektieren. Die konziliare Religionsfreiheit ist nichts anderes als das Recht auf diesen Respekt.

Auf dem Hintergrund dieser Zusammenhänge reduziert sich der Unterschied zwischen der traditionellen und konziliaren Lehre auf die Frage nach der Grenzziehung. Denn auch nach der Konzilslehre hat die Religionsfreiheit ihre Grenzen. Dieses sind die Rechte anderer und das Gemeinwohl, zu dem der öffentliche Friede und die öffentliche Sittlichkeit gehören. Wenn das Konzil in diesem Zusammenhang auf die Nennung der religiösen Einheit des Staates verzichtet, dann nicht nur deshalb, weil dieselbe in fast allen Staaten nicht mehr bestand, sondern auch, weil die - übrigens von Pius XII. begrüßte - Globalisierung schon damals so weit fortgeschritten war, dass die Welt zu einem globalen Dorf oder - in der Sprache der Kirche - zu einer Familie zusammengewachsen war. In solcher Situation Privilegien zu fordern, hätte sich die Kirche nur noch auf Kosten ihrer Glaubwürdigkeit und des Verstoßes gegen jenes Gerechtigkeitsempfinden erlauben können, das sich in dem schon erwähnten Schreiben Gregors IX. ausspricht. Das dort thematisierte “gleiche Recht für alle” ist ja nichts anderes als ein Anwendungsfall der Goldenen Regel aus Mt 7,12: “Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut auch ihnen!” Die Alternative wäre nur der Zynismus jenes Wortes gewesen, das Louis Veuillot in den Mund gelegt wurde: "In der Minorität fordern wir für uns die Freiheit nach euren Prinzipien; in der Majorität verweigern wir euch die Freiheit nach unseren Prinzipien."

Die verbleibende Diskontinuität siedelt sich, was die Verbindlichkeit der Lehre angeht, in einem Bereich an, in dem es schon vorher Brüche gab. Im 19. Jahrhundert war längst die Lehre etabliert, dass die Kirche im weltlichen Bereich nur Autorität hat, insoweit geistliche Belange berührt werden, die bekannte Lehre von der bloß indirekten potestas in temporalibus. Das war aber nicht immer so. Es gab eine Zeit, in der die gegenteilige Lehre von der direkten weltlichen Gewalt der Kirche so tief im Bewusstsein verankert war, dass Papst Nikolaus V. (1454) den portugiesischen König Alfons kraft apostolischer Vollmacht ermächtigte, die Länder der Heiden in Besitz zu nehmen. Alexander VI. teilte 1493 die Welt zwischen Spanien und Portugal auf, und zwar aus bloßer Freigebigkeit und aus der Fülle der apostolischen Gewalt! Warum will die Piusbruderschaft nicht zu dieser Lehre zurückkehren? Werke von Theologen, die die weltliche Machtfülle des Papstes in Frage stellten, wurden von Sixtus V. auf den Index gesetzt. Davon betroffen waren der berühmte Begründer des Völkerrechts Francesco de Vitoria, der ein natürliches Eigentumsrecht der Ungetauften proklamierte, und der hl. Robert Bellarmin. Der Nachfolger Sixtus’ V. regierte zwar nur zwölf Tage, aber das genügte, die Indizierung zurückzunehmen. 1931 wurde Bellarmin zum Kirchenlehrer erhoben!

Die Religionsfreiheit, für die sich Benedikt XVI. einsetzt, ist im deutschen Staat verwirklicht aufgrund des Grundgesetzes, das garantiert: “Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.” Für unseren eingangs zitierten Piusbruder ist solches, wie wir hörten, das Gesetz Satans. In einer Erklärung Schmidbergers vom 26. Oktober 2010 können wir dagegen etwas lesen, was ganz nach Übereinstimmung mit der Aussage des Papstes aussieht, das Religionsfreiheitsdekret habe "ein tief verankertes Erbe der Kirche wieder aufgegriffen": Schmidberger feiert darin Deutschlands “freiheitlich-demokratische Grundordnung” als Frucht des christlichen Abendlandes und der christlichen Gesinnung der Gründungsväter. Was hat zu diesem Gesinnungswandel geführt, dass nun aus dem Gesetz Satans eine christliche Errungenschaft wurde? Es war der Antrag des Grünen-Abgeordneten Volker Beck, die Piusbruderschaft vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen. Was theologische Argumente jahrzehntelang nicht schafften, brachten in kurzer Zeit die Grünen fertig.


Franz Prosinger: Die Erklärung über die Religionsfreiheit und der Filter der Tradition

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