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Benedikt XVI., Anwalt der Vernunft:

1.

“Zum europäischen Erbe gehört schließlich eine Denktradition, für die eine substantielle Korrespondenz von Glaube, Wahrheit und Vernunft wesentlich ist. Dabei geht es letztlich um die Frage, ob die Vernunft am Anfang aller Dinge und auf ihrem Grund steht oder nicht. Es geht um die Frage, ob das Wirkliche auf Grund von Zufall und Notwendigkeit entstanden ist, ob mithin die Vernunft ein zufälliges Nebenprodukt des Unvernünftigen und im Ozean des Unvernünftigen letztlich auch bedeutungslos ist oder ob wahr bleibt, was die Grundüberzeugung christlichen Glaubens bildet: In principio erat verbum – Am Anfang war das Wort – Am Beginn aller Dinge steht die schöpferische Vernunft Gottes, der beschlossen hat, sich uns Menschen mitzuteilen.
Lassen Sie mich dazu Jürgen Habermas zitieren, also einen Philosophen, der sich selbst nicht zum christlichen Glauben bekennt. Er sagt: ‘Das Christentum ist für das normative Selbstverständnis der Moderne nicht nur Katalysator gewesen. Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben entsprungen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeit und der christlichen Liebesethik. In der Substanz unverändert, ist dieses Erbe immer wieder kritisch angeeignet und neu interpretiert worden. Dazu gibt es bis heute keine Alternative.’”

Ansprache am 7. September 2007 in Wien im Empfangssaal der Hofburg. Das Zitat stammt aus einem Gespräch, das Habermas 1999 mit Eduardo Mendieta geführt hatte, veröffentlicht in: Jürgen Manemann (Hg.), Jahrbuch politische Theologie, Band 3: Befristete Zeit, Münster 1999, S. 191, und Jürgen Habermas, Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften IX, Frankfurt am Main 2001.


2.

Die Welt “kommt aus der ewigen Vernunft, und nur diese schöpferische Vernunft ist die wahre Macht auf der Welt und in der Welt. Nur der Glaube an den einen Gott befreit und ‘rationalisiert’ wirklich die Welt. Wo er verschwindet, wird die Welt nur scheinbar rationaler. In Wirklichkeit müssen nun die Mächte des Zufalls anerkannt werden, die unbestimmbar sind; die ‘Chaostheorie’ tritt der Einsicht in die rationale Struktur der Welt zur Seite und stellt den Menschen vor Dunkelheiten, die er nicht auflösen kann und die der rationalen Seite der Welt eine Grenze setzen. ‘Exorzisieren’, die Welt in das Licht der ratio stellen, die von der ewigen schöpferischen Vernunft und ihrer heilenden Güte herkommt und auf sie zurückweist - das ist eine bleibende, zentrale Aufgabe der Boten Jesu Christi."

Benedikt XVI. im 6. Kapitel “Die Jünger” seines Buches “Jesus von Nazareth”, Freiburg im Breisgau 2007, S. 211.


3.

“Es gibt schließlich die Korrelation zwischen Liebe und Wahrheit. Die Liebe zu Gott und zum Nächsten kann nur dann Bestand haben, wenn sie in der tiefen Liebe zur Wahrheit Gottes und des Nächsten gründet. Die wirkliche Liebe zum Menschen ist der Wunsch, ihm das zu geben, was er am nötigsten braucht: Erkenntnis und Wahrheit. Daher ist die Enzyklika ‘Fides et ratio’ aktuell, und zwar von einer tiefen und nicht nur einfach oberflächlichen oder der Mode entsprechenden Aktualität: sie ist aktuell, weil sie zeigt, daß der Glaube als Annahme der Wahrheit Gottes, die sich in Jesus Christus offenbart, weder für die Vernunft noch für die Freiheit eine Bedrohung darstellt. Der Glaube schützt die Vernunft, da er fragende und forschende Menschen braucht. Nicht das Fragen behindert den Glauben, sondern jene verschlossene Haltung, die nicht fragen will und die Wahrheit als etwas betrachtet, das unerreichbar oder nicht der Mühe wert ist. Der Glaube zerstört die Vernunft nicht, er bewahrt sie und bleibt sich dadurch selbst treu.”

Joseph Kardinal Ratzinger am 15. Oktober 1998 im vatikanischen Pressesaal bei der Vorstellung der Enzyklika Johannes Pauls II. "Fides et ratio". Der vollständige Wortlaut der Präsentation wurde in einer Übersetzung von Claudia Reimüller aus dem italienischen Original in der “Tagespost” vom 17. Oktober 1998 veröffentlicht.


4.

“Der Glaube braucht den Mut der Vernunft zu sich selbst. Er steht nicht gegen sie, sondern fordert sie heraus, sich das Große zuzutrauen, zu dem sie geschaffen ist. Sapere aude – mit diesem Imperativ hatte Kant das Wesen von Aufklärung umschrieben. Man könnte sagen, daß der Papst auf eine neue Weise einer metaphysisch mutlos gewordenen Vernunft zuruft: Sapere aude! Trau dir das Große zu! Dafür bist du bestimmt. Der Glaube, so zeigt uns der Papst, will die Vernunft nicht zum Schweigen bringen, sondern sie von dem Schleier des Stars befreien, der angesichts der großen Fragen der Menschheit weithin auf ihr liegt. Wiederum zeigt sich, daß der Glaube den Menschen in seinem Menschsein verteidigt. Josef Pieper hat einmal den Gedanken geäußert, daß in der ‘letzten Epoche der Geschichte, unter der Herrschaft von Sophistik und korrupter Pseudophilosophie, die wahre Philosophie sich in die uranfängliche Einheit mit der Theologie zurückbegeben könnte’, daß also am Ende der Geschichte ‘die Wurzel aller Dinge und die äußerste Bedeutung der Existenz – das heißt doch: der spezifische Gegenstand des Philosophierens – nur noch von denen in den Blick genommen und bedacht wird, welche glauben’. Nun, wir stehen – so weit wir sehen können – nicht am Ende der Geschichte. Aber wir stehen in der Versuchung, der Vernunft ihre wahre Größe zu verweigern. Und da sieht es der Papst mit Recht als Aufgabe des Glaubens an, die Vernunft neu zum Mut zur Wahrheit zu ermutigen. Ohne Vernunft verfällt der Glaube; ohne Glaube droht die Vernunft zu verkümmern.”

Joseph Kardinal Ratzinger am 9. Mai 2003 in seiner Ansprache Das Lehramt Johannes Pauls II. in seinen 14 Enzykliken auf dem Symposium der Päpstlichen Lateran-Universität zum Thema Johannes Paul II. - 25 Jahre Pontifikat.


5.

“Vernunft ist die große Gottesgabe an den Menschen, und der Sieg der Vernunft über die Unvernunft ist auch ein Ziel des christlichen Glaubens. Aber wann herrscht die Vernunft wirklich? Wenn sie sich von Gott gelöst hat? Wenn sie für Gott blind geworden ist? Ist die Vernunft des Könnens und des Machens schon die ganze Vernunft? Wenn der Fortschritt, um Fortschritt zu sein, des moralischen Wachsens der Menschheit bedarf, dann muss die Vernunft des Könnens und des Machens ebenso dringend durch die Öffnung der Vernunft für die rettenden Kräfte des Glaubens, für die Unterscheidung von Gut und Böse ergänzt werden. Nur so wird sie wahrhaft menschliche Vernunft. Sie wird menschlich nur, wenn sie dem Willen den Weg zeigen kann, und das kann sie bloß, wenn sie über sich hinaussieht. Sonst wird die Lage des Menschen im Ungleichgewicht zwischen materiellem Vermögen und Urteilslosigkeit des Herzens zur Bedrohung für ihn und die Schöpfung.”

Enzyklika Spe Salvi vom 30. November 2007


6.

Gerechtigkeit ist Ziel und daher auch inneres Maß aller Politik. Die Politik ist mehr als Technik der Gestaltung öffentlicher Ordnungen: Ihr Ursprung und Ziel ist eben die Gerechtigkeit, und die ist ethischer Natur. So steht der Staat praktisch unabweisbar immer vor der Frage: Wie ist Gerechtigkeit hier und jetzt zu verwirklichen? Aber diese Frage setzt die andere, grundsätzlichere voraus: Was ist Gerechtigkeit? Dies ist eine Frage der praktischen Vernunft; aber damit die Vernunft recht funktionieren kann, muss sie immer wieder gereinigt werden, denn ihre ethische Erblindung durch das Obsiegen des Interesses und der Macht, die die Vernunft blenden, ist eine nie ganz zu bannende Gefahr.
An dieser Stelle berühren sich Politik und Glaube. Der Glaube hat gewiss sein eigenes Wesen als Begegnung mit dem lebendigen Gott – eine Begegnung, die uns neue Horizonte weit über den eigenen Bereich der Vernunft hinaus öffnet. Aber er ist zugleich auch eine reinigende Kraft für die Vernunft selbst. Er befreit sie von der Perspektive Gottes her von ihren Verblendungen und hilft ihr deshalb, besser sie selbst zu sein.

Enzyklika Deus Caritas est vom 25. Dezember 2005.


7.

“Die beiden immer auseinanderfallenden Seiten der Religion, die ewig waltende Natur und die Heilsbedürftigkeit des leidenden und ringenden Menschen sind ineinander verbunden. Die Aufklärung kann Religion werden, weil der Gott der Aufklärung selbst in die Religion eingetreten ist. Das eigentlich Glauben heischende Element, das geschichtliche Reden Gottes, ist doch die Voraussetzung dafür, daß die Religion sich nun dem philosophischen Gott zuwenden kann, der kein bloß philosophischer Gott mehr ist und doch die Erkenntnis der Philosophie nicht abstößt, sondern aufnimmt. Hier zeigt sich etwas Erstaunliches: Die beiden scheinbar konträren Grundprinzipien des Christentums: Bindung an die Metaphysik und Bindung an die Geschichte bedingen sich gegenseitig und gehören zusammen; sie bilden zusammen die Apologie des Christentums als religio vera. Wenn man demgemäß sagen darf, daß der Sieg des Christentums über die heidnischen Religionen nicht zuletzt durch den Anspruch seiner Vernünftigkeit ermöglicht wurde, so ist dem hinzuzufügen, daß ein zweites Motiv gleichbedeutend damit verbunden ist. Es besteht zunächst, ganz allgemein gesagt, im moralischen Ernst des Christentums ...”

Aus der Rede “Die Christenheit, die Entmythologisierung und der Sieg der Wahrheit über die Religionen”, die Joseph Kardinal Ratzinger am 27. November 1999 in der Pariser Sorbonne gehalten hat.


8.

“‘Du glaubst, dass wirklich unter den Göttern gegenseitiger Krieg bestehe und furchtbare Feindschaften und Schlachten... Sollen wir wirklich sagen, Eutyphron, das alles sei wahr?’ (Eutyphron, 6 b–c). In dieser scheinbar unfrommen Frage, die bei Sokrates freilich aus einer tieferen und reineren Frömmigkeit, aus der Suche nach dem göttlichen Gott kam, haben die Christen der ersten Jahrhunderte sich und ihren Weg wiedererkannt. Sie haben ihren Glauben nicht positivistisch aufgenommen, nicht als Ausweg unerfüllter Wünsche, sondern als den Durchbruch aus dem Nebel der mythologischen Religion zu dem Gott verstanden, der schöpferische Vernunft und zugleich Vernunft als Liebe ist. Deswegen war das Fragen der Vernunft nach dem größeren Gott und nach dem, was der Mensch wirklich ist und soll, für sie nicht eine bedenkliche Form von Unfrömmigkeit, sondern gehörte zum Wesen ihrer Weise der Frömmigkeit. Sie brauchten daher das sokratische Fragen nicht aufzulösen oder beiseite zu schieben, sondern durften, ja mussten es aufnehmen und das Ringen der Vernunft um Erkenntnis der ganzen Wahrheit als Teil ihrer eigenen Identität erkennen.”

Aus der verhinderten Rede, die Papst Benedikt XVI. am 17. Januar 2008 an der römischen Universität La Sapienza halten wollte.


9.

“Näherhin ergibt sich Theologie notwendig aus der Verschmelzung von biblischem Glauben und griechischer Rationalität, auf der schon im Neuen Testament selbst das geschichtliche Christentum beruht. Wenn das Johannesevangelium Christus als den Logos bezeichnet, so kommt diese Verschmelzung sehr deutlich zum Vorschein: Der Text drückt damit die Überzeugung aus, dass im christlichen Glauben das Vernünftige, die Grundvernunft selbst zum Vorschein kommt, ja, er will sagen, dass der Grund des Seins selbst Vernunft ist und dass die Vernunft nicht ein zufälligese Nebenprodukt aus dem Ozean des Unvernünftigen darstellt, aus dem eigentlich alles stammte.”

Aus: Joseph Ratzinger, Theologie und Kirchenpolitik, in: Internationale katholische Zeitschrift “Communio” 9 (1980); wieder abgedruckt in: L.S. Schulz (Hg.), Wem nützt die Wissenschaft? dtv 1981, und: Joseph Kardinal Ratzinger, Kirche, Ökumene und Politik. Neue Versuche zur Ekklesiologie, Einsiedeln 1987, S. 142.


10.

“Der Glaube darf sich nicht gegen die Vernunft stellen, aber er läßt sich auch nicht in die Alleinherrschaft der aufgeklärten Vernunft und ihrer Methoden zwängen. Diese Einsicht, in der mir der Kern des Themas ausgesprochen scheint, müssen wir nun näher begründen und entfalten. Dass der christliche Glaube mit der Vernunft zu tun hat, ist in seiner Struktur von Anfang an vorgegeben. Martin Buber hat in seinem Buch über die zwei Glaubensweisen darauf hingewiesen, daß für christliches Glauben der Akt der Bekehrung und mit ihm das nunmehr Für-wahr-Halten grundlegend sei [1]. Wieviel man an seinen Darlegungen im übrigen auch kritisieren mag, darin hat er unzweifelhaft recht, daß zum christlichen Glauben immer auch das Ja-sagen dazugehört, dass dies so ist: Christlicher Glaube ist von seiner Grundgestalt her nie bloßes gestaltloses Vertrauen gewesen, sondern immer Vertrauen zu einem ganz bestimmten Jemand und zu seinem Wort, also immer auch Begegnung mit inhaltlich auszusagender Wahrheit.”
[1] Vgl. M. Buber, Zwei Glaubensweisen, in: Buber, Werke I, München-Heidelberg 1962, 651-782; H. U. von Balthasar, Spiritus Creator. Skizzen zur Theologie III, Einsiedeln 1967, 51-91; wichtig und erhellend zur Frage der große Artikel pisteúo von Bultmann-Weiser, in: ThWNT VI, 193-230, bes. 216 ff.

Aus: Kirche und wissenschaftliche Theologie, in: W. Sandfuchs (Hrsg.), Die Kirche (Würzburg 1978) 83-95; wieder abgedruckt in: Joseph Kardinal Ratzinger, Theologische Prinzipienlehre. Bausteine zur Fundamentaltheologie, München 1982, S. 342.


11.

“Die praktische (oder moralische) Vernunft ist Vernunft im höchsten Sinn, weil sie tiefer in das eigentliche Geheimnis des Wirklichen vordringt als die experimentelle Vernunft. Das aber bedeutet, dass der christliche Glaube nicht Begrenzung und Lähmung der Vernunft ist, sondern sie erst zu ihrem eigenen Werk freimacht. Denn auch die praktische Vernunft braucht die Bürgnis des Experiments, aber eines größeren, als es in Laboratorien geleistet werden kann: Sie braucht das Experiment des bestandenen Menschseins, das nur aus der bestandenen Geschichte selbst kommen kann. Darum war die praktische Vernunft immer eingeordnet in den großen Erfahrungs- und Bewährungszusammenhang ethisch-religiöser Gesamtvisionen. Und wie Naturwissenschaft von den genialen Durchbrüchen großer Einzelner zehrt, so hängen auch diese Systematisierungen des ethischen Blicks zum einen an gelebter Gemeinschaft, zum anderen aber an der besonderen Sehfähigkeit einzelner, denen ein Blick ins Ganz gelungen war. Die großen ethischen Gestalten Griechenlands, des Nahen und Fernen Ostens, von denen vorhin kurz die Rede war, haben im Kern ihrer Aussage nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt, aber wir können sie heute als Nebenflüsse ansehen, die letztlich auf den großen Strom der christlichen Deutung des Wirklichen zuführen.”

Aus: Abbruch und Aufbruch. Die Antwort des Glaubens auf die Krise der Werte. Eichstätter Hochschulreden 61 (München 1988), wieder veröffentlicht in: Joseph Cardinal Ratzinger, Wendezeit für Europa? Diagnosen und Prognosen zur Lage von Kirche und Welt, Einsiedeln, Freiburg 1991, S. 11 - 29.


12.

Albert Einstein hat einmal gesagt, dass sich in der Naturgesetzlichkeit “eine so überlegene Vernunft offenbart, dass alles Sinnvolle menschlichen Denkens und Anordnens dagegen ein gänzlich nichtiger Abglanz ist” [1]. Wir erkennen, wie im Allergrößten, in der Welt der Gestirne sich eine machtvolle Vernunft offenbart, die das All zusammenhält. Immer mehr lernen wir aber auch, in das Allerkleinste, in die Zelle, in die Ureinheiten des Lebendigen hineinzuschauen; auch hier entdecken wir eine Vernünftigkeit, die uns staunen läßt, so dass wir mit dem heiligen Bonaventura sagen müssen: “Wer hier nicht sieht, ist blind. Wer hier nicht hört, ist taub, und wer hier nicht anfängt anzubeten und den Schöpfergeist zu lobpreisen, der ist stumm.” Jacques Monod, der jede Weise von Gottesglaube als unwissenschaftlich ablehnte und die ganze Welt auf das Zusammenspiel von Zufall und Notwendigkeit zurückführt, erzählt in dem Werk, in dem er diese seine Sicht der Welt zusammenfassend darzustellen und zu begründen versucht, dass nach den Vorträgen, die dann zum Buche wurden, François Mauriac gesagt habe: “Was dieser Professor sagt, ist noch viel unglaublicher, als das, was wir armen Christen glauben.” [2] Monod bestreitet nicht, dass es so ist. Seine These lautet, das ganze Konzert der Natur steige aus Irrtümern und Mißtönen auf. Er kann nicht umhin, selber zu sagen, dass eine solche Auffassung eigentlich absurd ist. Aber die wissenschaftliche Methode - so sagt er - zwingt dazu, eine Frage nicht zuzulassen, auf die die Antwort “Gott” heißen müßte. Welch armselige Methode - kann man da nur sagen. Durch die Vernunft der Schöpfung blickt uns Gott selber an.

[1] A. Einstein, Mein Weltbild, hg. von C. Seelig (Stuttgart-Zürich-Wien 1953) 21, (Berlin 1993); vgl. meine Einführung in das Christentum (München 1990) 116.

[2] J. Monod, Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie (München 1975) 110 und 124.

Aus: Joseph Ratzinger, Im Anfang schuf Gott. Vier Münchener Fastenpredigten über Schöpfung und Fall, Donauwörth 1986; wiederabgedruckt in: Joseph Cardinal Ratzinger, Im Anfang schuf Gott. Vier Predigten über Schöpfung und Fall. Konsequenzen des Schöpfungsglaubens, Freiburg i. Br. 1996, zweite Auflage 2005; hier: Zweite Predigt: Der Sinn der biblischen Schöpfungsberichte, S. 33 f.


13.

Um die Herausforderungen, die die gegenwärtige Kultur stellt, richtig zu verstehen und angemessene Antworten darauf zu finden, ist es notwendig, eine kritische Haltung einzunehmen gegenüber einengenden und letztlich irrationalen Versuchen, den Bereich der Vernunft einzuschränken. Der Vernunftbegriff muß im Gegenteil »geweitet« werden, damit man jene Aspekte der Wirklichkeit untersuchen und erfassen kann, die über das rein Empirische hinausgehen. Das ermöglicht einen fruchtbareren und komplementären Zugang zur Beziehung zwischen Glauben und Vernunft. Der Aufstieg der europäischen Universitäten wurde durch die Überzeugung gefördert, daß Glaube und Vernunft bei der Suche nach der Wahrheit zusammenwirken müssen – unter Achtung des Wesens und der rechtmäßigen Autonomie des anderen und dennoch in harmonischer und kreativer Zusammenarbeit, um der Erfüllung des Menschen in Wahrheit und Liebe zu dienen.

Ansprache von Benedikt XVI. vom 23. Juni 2007 an die Teilnehmer der ersten Begegnung der Dozenten der europäischen Universitäten.


14.

“Die griechische Philosophie hat dies so ausgedrückt: Die letzten Gründe alles Beweisens, auf denen das Denken überhaupt ruht, werden nicht noch einmal bewiesen, sondern eingesehen. Aber wir alle wissen, dass es mit dem Einsehen eine eigene Sache ist. Es ist nicht abtrennbar von dem geistigen Standort, den ein Mensch in seinem Leben eingenommen hat. Die tiefsten Wahrnehmungen des Menschen brauchen den Menschen ganz. So ist klar, dass solche Erkenntnis ihre eigene Weise hat. Man kann Gott nicht ebenso feststellen wie irgendein meßbares Ding. Es geht hier auch um einen Akt der Demut, nicht einer kleinlichen moralistischen, sondern sozusagen einer seinshaften Demut: das Gerufensein der eigenen Vernunft durch die ewige Vernunft anzunehmen. Dem steht gegenüber das Verlangen nach einer Autonomie, die erst die Welt erfindet und die nun freilich der christlichen Demut der Anerkenntnis des Seins die so merkwürdig andere Demut der Seinsverachtung entgegensetzt: An sich ist der Mensch ja nichts, ein nicht fertig umschriebenes Tier, aber wir könnten vielleicht noch etwas aus ihm machen.”

Joseph Ratzinger, “Ich glaube an Gott den allmöchtigen Vater”, in: Communio 4 (1975), wieder veröffentlicht unter dem Titel Glaube als Erkenntnis und als Praxis - die Grundoption des christlichen Credo, in: Joseph Kardinal Ratzinger, Theologische Prinzipienlehre. Bausteine zur Fundamentaltheologie, München 1982, hier S. 75 f.


15.

Wir glauben an Gott. Das ist unser Grundentscheid. Aber nun noch einmal die Frage: Kann man das heute noch? Ist das vernünftig? Seit der Aufklärung arbeitet wenigstens ein Teil der Wissenschaft emsig daran, eine Welterklärung zu finden, in der Gott überflüssig wird. Und so soll er auch für unser Leben überflüssig werden. Aber sooft man auch meinen konnte, man sei nahe daran, es geschafft zu haben – immer wieder zeigt sich: Das geht nicht auf. Die Sache mit dem Menschen geht nicht auf ohne Gott, und die Sache mit der Welt, dem ganzen Universum, geht nicht auf ohne ihn. Letztlich kommt es auf die Alternative hinaus: Was steht am Anfang: die schöpferische Vernunft, der Schöpfergeist, der alles wirkt und sich entfalten läßt oder das Unvernünftige, das vernunftlos sonderbarerweise einen mathematisch geordneten Kosmos hervorbringt und auch den Menschen, seine Vernunft. Aber die wäre dann nur ein Zufall der Evolution und im letzten also doch auch etwas Unvernünftiges. Wir Christen sagen: Ich glaube an Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde – an den Schöpfer Geist. Wir glauben, daß das ewige Wort, die Vernunft am Anfang steht und nicht die Unvernunft. Mit diesem Glauben brauchen wir uns nicht zu verstecken, mit ihm brauchen wir nicht zu fürchten, uns auf einem Holzweg zu befinden. Freuen wir uns, daß wir Gott kennen dürfen, und versuchen wir, auch anderen die Vernunft des Glaubens zugänglich zu machen, wie es der heilige Petrus den Christen seiner Zeit und so auch uns ausdrücklich in seinem ersten Brief aufgetragen hat. (1 Petr 3, 15).

Aus der Predigt, die Papst Benedikt XVI. am 12. September 2006 auf dem Islinger Feld in Regensburg gehalten hat.


16.

Eine Vernunft, die sozusagen das Schöne abstreifen würde, wäre eine halbierte, eine erblindete Vernunft. Nur beides miteinander gibt das Ganze, und grade für den Glauben ist dieses Miteinander wichtig. Er muß sich immer wieder den Herausforderungen des Denkens dieser Zeit stellen, damit er nicht als irgendeine irrationale Geschichte erscheint, die wir halt weiterführen, sondern wirklich Antwort auf die großen Fragen ist; damit er nicht nur Gewohnheit ist, sondern Wahrheit – wie Tertullian einmal gesagt hat. Es hatte der heilige Petrus in seinem Ersten Brief den Satz geschrieben, den die mittelalterlichen Theologen sozusagen als Legitimation, ja als Auftrag zur theologischen Arbeit angesehen haben: „Seid jederzeit bereit, Rechenschaft zu geben von dem Sinn der Hoffnung, die in euch ist" – Apologia von dem Logos der Hoffnung: den Logos, die Vernunft der Hoffnung in Apologie, in Antwort an die Menschen zu verwandeln. Er war also offensichtlich überzeugt, daß der Glaube Logos ist, daß er eine Vernunft ist, ja, ein Licht von der schöpferischen Vernunft selbst her, und nicht irgendein schönes Miteinander, das wir uns ausgedacht haben. Und deswegen ist er ja auch universal, deswegen ist er komunikabel für alle.
Aber dieser schöpferische Logos ist eben nicht bloß technischer Logos – wir werden in einer anderen Frage darauf zurückkommen –, sondern er ist weit, er ist eben ein Logos, der Liebe ist und daher ein solcher, der sich in der Schönheit und in der Güte ausdrückt. Und in der Tat, ich habe einmal gesagt, daß für mich die Kunst und die Heiligen die größte Apologie unseres Glaubens sind. Die Vernunftargumente sind absolut wichtig und unentbehrlich, aber irgendwo bleibt dann immer noch ein Streit. Doch wenn man die Heiligen sieht, diese große Lichtspur, die Gott durch die Geschichte gezogen hat, dann sieht man: Da ist wirklich eine Kraft des Guten, die die Jahrtausende hindurch hält, da ist wirklich das Licht vom Lichte gegenwärtig.

Papst Benedikt XVI. am 6. August 2008 während eines Gesprächs in Brixen mit Geistlichen der Diözese Bozen-Brixen.


17.

So zeichnet sich die Enzyklika [Fides et ratio] durch ihre große Öffnung gegenüber der Vernunft aus, vor allem in einer Zeit, in der ihre Schwäche theoretisiert wird. Johannes Paul II. unterstreicht hingegen, wie wichtig es ist, Glaube und Vernunft in ihrer gegenseitigen Beziehung zu sehen, wenn auch unter der Beachtung des ihnen jeweils eigenen Autonomiebereiches. Mit dieser Lehre hat sich die Kirche zum Wortführer einer Forderung gemacht, die im aktuellen kulturellen Kontext auftraucht. Sie hat die Kraft der Vernunft und ihre Fähigkeiten, zur Wahrheit zu gelangen, verteidigen wollen, indem sie nochmals den Glauben als eine besondere Form der Erkenntnis darstellt, dank derer man sich der Wahrheit der Offenbarung öffnet (vgl. Fides et ratio, 13). In der Enzyklika heißt es, dass man den Fähigkeiten der menschlichen Vernunft vertrauen und sich nicht zu bescheidene Ziele setzen soll: “Es ist der Glaube, der die Vernunft dazu herausfordert, aus jedweder Isolation herauszutreten und für alles, was schön, gut und wahr ist, etwas zu riskieren. So wird der Glaube zum überzeugten und überzeugenden Anwalt der Vernunft” (Nr. 56).

Aus der Ansprache, die Papst Benedikt XVI. am 16. Oktober 2008 an die Teilnehmer des Internationalen Kongresses gehalten hat, der von der Päpstlichen Lateranuniversität aus Anlass des zehnten Jahrestages der Enzyklika “Fides et ratio” ausgetragen wurde. Die deutsche Fassung in der Übersetzung von Claudia Reimüller erschien am 21. Oktober 2008 in der Tagespost. Auf der Website des Vatikans ist der Vortrag in italienischer Sprache zu finden.


18.

“Die methodische Beschränkung der Naturwissenschaft auf das experimentell Überprüfbare wird geradezu zum Ausweis der Wissenschaftlichkeit, ja, der Rationalität überhaupt. Der methodische Verzicht, der im Rahmen empirischer Wissenschaft sinnvoll, ja nötig ist, wird so zur Mauer gegenüber der Wahrheitsfrage: Im Grunde geht es um das Problem Wahrheit und Methode, um die Universalität eines streng empirischen Methodenkanons. Ihr gegenüber verteidigt der Papst [Johannes Paul II.] die Vielfalt der Wege des menschlichen Geistes, die Weite auch der Rationalität, die je nach der Weise des Gegenstandes auch unterschiedliche Methoden kennen muß. Das nicht Materielle kann nicht mit Methoden angegangen werden, die dem Materiellen gemäß sind; so könnte man etwas grob den Einspruch des Papstes gegenüber einer einseitigen Form von Rationalität zusammenfassen.”

Aus: Joseph Ratzinger, Glaube, Wahrheit und Kultur - Reflexionen im Anschluss an die Enzyklika “Fides et Ratio”, in: Joseph Ratzinger · Benedikt XVI., Glaube - Wahrheit - Toleranz. Das Christentum und die Weltreligionen, Freiburg im Breisgau 20054, S. 156.


19.

“Dem hält Paulus entgegen: Ich habe bei euch einen Altar gefunden mit der Aufschrift: Einem unbekannten Gott. Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, das verkünde ich euch (17, 23). Paulus verkündet keine unbekannten Götter. Er verkündet den, den die Menschen nicht kennen und doch kennen – den Unbekannt-Bekannten; den, nach dem sie suchen, um den sie letztlich wissen und der doch wieder der Unbekannte und Unerkennbare ist. Das Tiefste menschlichen Denkens und Empfindens weiß irgendwie, daß es Ihn geben muß. Daß am Anfang aller Dinge nicht die Unvernunft, sondern die schöpferische Vernunft stehen muß; nicht der blinde Zufall, sondern die Freiheit. Aber obwohl alle Menschen dies irgendwie wissen, wie Paulus im Römer-Brief ausdrücklich sagt (1, 21), bleibt dieses Wissen unwirklich: Ein nur gedachter und erdachter Gott ist kein Gott. Wenn er sich nicht zeigt, dann reichen wir doch nicht bis zu ihm hin. Das Neue der christlichen Verkündigung ist, daß sie nun allen Völkern sagen darf: Er hat sich gezeigt. Er selbst. Und nun ist der Weg zu ihm offen. Die Neuheit der christlichen Verkündigung besteht in einem Faktum: Er hat sich gezeigt. Aber dies ist kein blindes Faktum, sondern ein Faktum, das selbst Logos – Gegenwart der ewigen Vernunft in unserem Fleisch ist. Verbum caro factum est (Joh 1, 14). Gerade so ist im Faktum nun Logos, ist Logos unter uns. Das Faktum ist vernünftig. Freilich bedarf es immer der Demut der Vernunft, um es annehmen zu können; der Demut des Menschen, die der Demut Gottes antwortet.”

Aus der Ansprache, die Papst Benedikt XVI. am 12. September 2008 während seiner Frankreichreise vor Vertretern aus der Welt der Kultur gehalten hat.


20.

“Glaube an den Schöpfergeist ist ein wesentlicher Inhalt des christlichen Credo. Dass die Materie mathematische Struktur in sich trägt, geisterfüllt ist, ist die Grundlage, auf der die moderne Naturwissenschaft beruht. Nur weil Materie geistig strukturiert ist, kann unser Geist sie nachdenken und selbst gestalten. Dass diese geistige Struktur von dem gleichen Schöpfergeist kommt, der auch uns Geist geschenkt hat, bedeutet Auftrag und Verantwortung zugleich. Im Schöpfungsglauben liegt der letzte Grund unserer Verantwortung für die Erde. Sie ist nicht einfach unser Eigentum, das wir ausnützen können nach unseren Interessen und Wünschen. Sie ist Gabe des Schöpfers, der ihre inneren Ordnungen vorgezeichnet und uns damit Wegweisungen als Treuhänder seiner Schöpfung gegeben hat. Dass die Erde, der Kosmos, den Schöpfergeist spiegeln, bedeutet auch, dass ihre geistigen Strukturen, die über die mathematische Ordnung hinaus im Experiment gleichsam greifbar werden, auch sittliche Weisung in sich tragen. Der Geist, der sie geformt hat, ist mehr als Mathematik – er ist das Gute in Person, das uns durch die Sprache der Schöpfung den Weg des rechten Lebens zeigt.”

Aus der Ansprache Papst Benedikts XVI. an das Kardinalskollegium und die Mitglieder der Römischen Kurie beim Weihnachtsempfang am 22. Dezember 2008.


21.

In jüngster Zeit bewirkte die Globalisierung mittels der modernen Informationstechnologien nicht selten auch die Verbreitung zahlreicher materialistischer und individualistischer Komponenten des Westens in allen Kulturen. Mehr und mehr wird die Formel »Etsi Deus non daretur« zu einer Lebensweise, deren Ursprung in einem »Hochmut« der Vernunft liegt – obwohl auch diese eine von Gott geschaffene und geliebte Wirklichkeit ist –, die sich für selbstgenügsam hält und sich der Betrachtung und der Suche nach einer sie übersteigenden Wahrheit verschließt. Das Licht der Vernunft, von der Aufklärung verherrlicht, in Wirklichkeit aber verarmt, ersetzt auf radikale Weise das Licht des Glaubens, das Licht Gottes (vgl. Benedikt XVI., Vorlesung für den Besuch in römischen Universität »La Sapienza«, 17. Januar 2008, O.R. dt., Nr. 4 vom 25.1.2008, S. 6). Daher handelt es sich um große Herausforderungen, mit denen sich die Sendung der Kirche in diesem Bereich auseinandersetzen muß. Von wesentlicher Bedeutung sind somit die Bemühungen des Päpstlichen Rates für die Kultur um einen fruchtbaren Dialog zwischen Wissenschaft und Glauben. Es ist dies eine von der Kirche wie von der wissenschaftlichen Gemeinschaft intensiv erwartete Auseinandersetzung, zu deren Fortsetzung ich euch ermutigen möchte. In ihr setzt der Glaube die Vernunft voraus und vervollkommnet sie, und die vom Glauben erleuchtete Vernunft findet die Kraft, sich zur Erkenntnis Gottes und der geistlichen Wirklichkeiten zu erheben.

Aus der Ansprache von Papst Benedikt XVI. an die Teilnehmer der Vollversammlung des Päpstlichen Rates für die Kultur am Samstag, den 8. März 2008.


22.

In der Auslegung der Heiligen Schrift droht heute eine Trennung zwischen Wissenschaft und Überlieferung, zwischen Vernunft und Glaube. Vielen haben den Eindruck, dass die historisch-kritische Exegese den Glauben zerstört. Auf der anderen Seite breitet sich die Meinung aus, dass die kritische Exegese das eigentliche Lehramt sei, dem sich kein anderes Lehramt überordnen könne. Der Gläubige ist überzeugt, dass es zwischen rechter Vernunft und rechtem Glauben keinen Widerspruch geben kann. Glaube ohne Vernunft wäre nicht wirklich menschlich; Vernunft ohne Glaube bleibt weglos und lichtlos.
Die historisch-kritische Methode ist ihrem Wesen nach ein Werkzeug, dessen Nutzen von der Weise der Benutzung abhängt, d. h. von den hermeneutischen und philosophischen Voraussetzungen, von denen man sich dabei leiten läßt. In der Tat gibt es die pure historische Methode nicht; sie steht immer in einem hermeneutischen, d. h. philosophischen Kontext, auch wo dies nicht gewußt oder sogar ausdrücklich bestritten wird. Die Schwierigkeiten, die der Glaube heute immer wieder der kritischen Exegese gegenüber empfindet, rühren nicht vom Historischen oder Kritischen als solchen her, sondern von der dabei waltenden latenten Philosophie.”

Aus: Joseph Kardinal Ratzinger, Christologische Orientierungspunkte, Vortrag auf dem christologischen Kongress, den die CELAM im September 1982 in Rio de Janeiro veranstaltet hat; wieder abgedruckt in: Schauen auf den Durchbohrten. Versuche einer spirituellen Christologie, Einsiedeln, 2. Auflage 1990, S. 37 f.


23.

Die kosmische Reise, in die Dante in seiner Göttlichen Komödie den Leser miteinbeziehen will, endet vor dem ewigen Licht, das Gott selbst ist, vor jenem Licht, das zugleich »die Liebe ist, die auch die Sonne bewegt und die anderen Sterne« (Par. XXXIII, V. 145). Licht und Liebe sind ein und dasselbe. Sie sind die uranfängliche schöpferische Macht, die das Universum bewegt. Auch wenn diese Worte aus Dantes Paradies das Denken des Aristoteles durchscheinen lassen, der im Eros jene Macht sah, die die Welt bewegt, so nimmt dennoch Dantes Blick etwas völlig Neues wahr, was für den griechischen Philosophen noch unvorstellbar war. Nicht nur, daß sich ihm das ewige Licht in drei Kreisen offenbart, an die er sich mit jenen uns bekannten eindringlichen Versen wendet: »Du ewig Licht ruhst in dir selbst allein, verstehst, erkennst dich, bist erkannt, verstanden in dir und lächelst dir in Liebe zu« (Par. XXXIII, V. 124–126).
Tatsächlich noch überwältigender als diese Offenbarung Gottes als trinitarischer Kreis der Erkenntnis und der Liebe ist die Wahrnehmung eines menschlichen Antlitzes – das Antlitz Jesu Christi –, das sich Dante in dem zentralen Kreis des Lichtes zeigt. Gott, unendliches Licht, dessen unermeßliches Geheimnis der griechische Philosoph erahnt hatte, dieser Gott hat ein menschliches Antlitz und – so dürfen wir hinzufügen – ein menschliches Herz. In dieser Vision Dantes zeigt sich zum einen die Kontinuität zwischen dem christlichen Glauben an Gott und der von der Vernunft und von der Welt der Religionen entwickelten Suche; gleichzeitig jedoch kommt auch die Neuheit zum Vorschein, die jede menschliche Suche übertrifft – die Neuheit, die allein Gott uns offenbaren konnte: die Neuheit einer Liebe, die Gott dazu veranlaßt hat, ein menschliches Antlitz, ja Fleisch und Blut, das ganze menschliche Sein anzunehmen. Der göttliche Eros ist nicht nur eine uranfängliche kosmische Kraft. Er ist Liebe, die den Menschen geschaffen hat und sich zu ihm hinunterbeugt, wie sich der barmherzige Samariter zu dem verwundeten und beraubten Mann hinuntergebeugt hat, der am Wegrand der Straße von Jerusalem nach Jericho lag.

Ansprache vom 23. Januar 2006 an die Teilnehmer eines vom Päpstlichen Rat "Cor Unum" ausgerichteten internationalen Kongresses.


24.

Meine Freunde, ich glaube, es ist heute eine besonders dringende Aufgabe der Religion, das enorme Potential der menschlichen Vernunft, die selbst Gabe Gottes ist und von der Offenbarung und vom Glauben erhöht wird, sichtbar werden zu lassen. Der Glaube an Gott, weit davon entfernt, unsere Fähigkeit, uns selbst und die Welt zu verstehen, zu beeinträchtigen, erweitert sie vielmehr. Weit davon entfernt, uns gegen die Welt aufzubringen, trägt er sie uns als Pflicht auf. Wir sind aufgerufen, anderen dabei zu helfen, die unaufdringlichen Spuren und die geheimnisvolle Gegenwart Gottes in der Welt zu sehen, die er so wunderbar erschaffen hat und die er mit seiner unaussprechlichen und allumfassenden Liebe fortdauernd erhält. Obwohl seine unendliche Herrlichkeit von unseren begrenzten Sinnen niemals direkt begriffen werden kann, erhaschen wir dennoch einen Schimmer von ihr in der Schönheit, die uns umgibt. Wenn Männer und Frauen von der wunderbaren Ordnung der Welt und dem Glanz menschlicher Würde ihre Sinne erleuchten lassen, entdecken sie, daß das »Vernünftige« weit über das hinausgeht, was die Mathematik berechnen, die Logik ableiten und das naturwissenschaftliche Experimentieren beweisen kann; es schließt auch die Güte und innere Anziehungskraft eines aufrechten und ethisch orientierten Lebens ein, wie es uns gerade durch die Sprache der Schöpfung mitgeteilt wird.

Aus dem Grußwort, das Benedikt XVI. am 19. März 2009 während seiner Afrikareise in Yaoundé an Vertreter der muslimischen Gemeinden in Kamerun gerichtet hat.


25.

“Diese Aufgabe ist die Herausforderung, im Rahmen von Glaube und Wahrheit das enorme Potential menschlicher Vernunft zum Guten heranzubilden. Tatsächlich beschreiben die Christen Gott unter anderem als schöpferische Vernunft, die die Welt ordnet und leitet. Und Gott hat uns mit der Fähigkeit ausgestattet, an seiner Vernunft teilzuhaben und so gemäß dem Guten zu handeln. Die Muslime verehren Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde, der zu den Menschen gesprochen hat. Und als an den einen Gott Glaubende wissen wir, daß die menschliche Vernunft selbst Gabe Gottes ist und daß sie zu ihrem höchsten Niveau aufsteigt, wenn sie in das Licht der göttlichen Wahrheit getaucht ist. Denn wenn die menschliche Vernunft demütig zuläßt, daß sie selber vom Glauben geläutert wird, dann ist sie fern davon, geschwächt zu werden; vielmehr wird sie gestärkt, um der Überheblichkeit zu widerstehen und über ihre eigenen Grenzen hinauszugreifen. Auf diese Weise wird die menschliche Vernunft ermutigt, ihrem erhabenen Zweck zu folgen, der Menschheit zu dienen, wobei sie unser gemeinsames innerstes Streben zum Ausdruck bringt und den öffentlichen Diskurs lieber ausweitet, als ihn zu manipulieren oder einzuschränken. Daher – weit davon entfernt, den Geist einzuengen – erweitert ein ernsthaftes Festhalten an der Religion den Horizont menschlichen Verstandes. Sie schützt die Gesellschaft von den Auswüchsen eines ungezügelten Ego, das danach strebt, das Endliche zu verabsolutieren und das Unendliche in den Schatten zu stellen; sie stellt sicher, daß Freiheit Hand in Hand mit der Wahrheit ausgeübt wird, und sie schmückt die Kultur mit Einblicken bezüglich allem, was wahr, gut und schön ist.”

Aus der Ansprache Benedikts XVI. am 9. Mai 2009 in der Moschee Al-Hussein Bin-Talal in Amman anlässlich der Begegung mit muslimischen Religionsführern, dem diplomatischen Korps und den Rektoren der Universitäten Jordaniens.


26.

Eriugena schreibt in den Expositiones: »Nicht der Mensch ist für die Schrift geschaffen, deren er nicht bedurft hätte, wenn er nicht gesündigt hätte, sondern es ist vielmehr die Schrift – durchdrungen von Lehre und Symbolen –, die für den Menschen gegeben worden ist. Dank ihr kann nämlich unsere vernünftige Natur in die Geheimnisse der echten reinen Betrachtung Gottes eingeführt werden« (II, PL 122, col. 146 C). Das Wort der Heiligen Schrift läutert unsere Vernunft, die ein wenig blind ist, und hilft uns, uns wieder dessen zu erinnern, was wir als Ebenbild Gottes in unserem Herzen tragen, das leider von der Sünde verletzt ist.
Daraus ergeben sich einige hermeneutische Konsequenzen im Hinblick auf die Art, die Schrift auszulegen, die noch heute den rechten Weg für eine korrekte Lesart der Heiligen Schrift weisen können. Es geht nämlich darum, den im heiligen Text verborgenen Sinn zu entdecken, und das setzt eine besondere innere Übung voraus, dank welcher sich die Vernunft dem sicheren Weg zur Wahrheit öffnet. Diese Übung darin, daß man eine ständige Bereitschaft zur Umkehr pflegt. Denn um zu einer tiefen Einsicht in den Text zu gelangen, ist es notwendig, gleichzeitig in der Umkehr des Herzens und in der begrifflichen Analyse des biblischen Textes voranzuschreiten, sei dieser kosmischen, geschichtlichen oder lehrmäßigen Charakters. Denn nur dank einer ständigen Reinigung sowohl der Augen des Herzens als auch des Geistes läßt sich das genaue Verständnis erwerben.

Benedikt XVI. in seiner Katechese über Johannes Scotus Eriugena in der Generalaudienz vom 10. Juni 2009.


27.

Noch ein kurzes Wort zu der ersten Eigenschaft, die Jakobus für die Weisheit nennt [Jak 3,17]. Sie muß “keusch” sein. Keusch ist ein Denken dann, wenn es von der Ehrfurcht vor den Dingen geleitet ist, letztlich von der Ehrfurcht vor der Wahrheit. Zur geistigen Prostitution wird Gelehrsamkeit dann, wenn sie die Dinge nur als Mittel des Genusses oder der Macht des Menschen behandelt.
Keuschheit des Denkens - an Albert kann man die verschiedenen Dimensionen dieses Begriffs erkennen. Da steht bei ihm z.B. der Satz: Wenn ich über die Naturdinge handle, habe ich nichts mit den Wundern Gottes zu tun. Albert vermischt die Ebenen der Erkenntis nicht. Naturwissenschaft ist naturwissenschaftlich zu behandeln. Die Nüchternheit, die das Natürliche in seiner Natürlichkeit sucht, ist die wahre Frömmigkeit des Denkens. Der wirklich Glaubende biegt die Ergebnisse nicht zurecht. Er hielt dies für Kleinglauben. Den Glauben zeichnet die Furchtlosigkeit aus, die die Wirklichkeit ohne Angst zur Kenntnis nimmt.
Der Glaube ist seinem Wesen nach Wille zur Wahrheit, zur ganzen Wahrheit. Deshalb hat Albertus auch den empirischen Ansatz unseres Denkens und die Bedeutung des Experiments so nachdrücklich betont. Jene methodische Disziplin, die zu den Grundlagen der Neuzeit gehört, ist bei ihm als Grundforderung des Denkens schon ganz ausgeprägt.
Was es bei ihm nicht gibt, ist jene Einengung der Methode, an der die Neuzeit zu scheitern droht. Wohl sagt er: all unsere Wissenschaft hebt mit der empirischen Erkenntnis an - aber er fügt hinzu: Wir bleiben nicht beim Sinnlichen stehen und endigen nicht dort. Wir entdecken im Sinnlichen das Nicht-Sinnliche und wir entdecken so den Geist, den ersten Grund aller Dinge und die eigene Seele.

Aus: Wille zur ganzen Wahrheit. Der christliche Gelehrte Albertus Magnus. Konzept einer Predigt zum 700. Todestag des Heiligen Albertus Magnus, in: Joseph Ratzinger, Christlicher Glaube und Europa. 12 Predigten, hg. vom Pressereferat der Erzdiözese München und Freising, 1981, S. 109 f.


28.

In diesem Zusammenhang einer eminent humanistischen Sicht der Aufgabe der Universität möchte ich kurz die Überwindung des Bruches zwischen Wissenschaft und Religion ansprechen, die ein zentrales Anliegen meines Vorgängers Papst Johannes Pauls II. war. Er hat, wie Sie wissen, ein tieferes Verständnis der Beziehung von Glaube und Vernunft angeregt. Er deutete Glaube und Vernunft als die beiden Flügel, durch die sich der menschliche Geist zur Betrachtung der Wahrheit erhebt (vgl. Fides et ratio, Vorwort). Sie unterstützen einander und haben ihr je eigenes Tätigkeitsfeld (vgl. ebd., 17), doch wollen einige sie voneinander trennen. Die Vertreter dieses positivistischen Ausschlusses des Göttlichen aus der Universalität der Vernunft widersprechen damit nicht nur einer der tiefsten Überzeugungen gläubiger Menschen, sondern sie durchkreuzen auch genau jenen Dialog der Kulturen, den sie selber vorschlagen. Eine Vorstellung von Vernunft, die für das Göttliche taub ist und die Religionen in die Welt der Subkulturen verweist, ist unfähig, in den Dialog der Kulturen einzutreten, den unsere Welt so dringend braucht.

Aus der Ansprache, die Papst Benedikt XVI. am 27. September 2009 im Wladislawsaal auf der Prager Burg bei seiner Begegnung mit Akademikern während seiner apostolischen Reise in die Tschechische Republik gehalten hat.


29.

Zentral für die Methode der Scholastiker war die »quaestio«, das heißt das Problem, das sich dem Leser bei der Auseinandersetzung mit den Worten der Schrift und der Tradition stellt. Angesichts des Problems, vor das ihn diese autoritativen Texte stellen, erheben sich Fragen und entsteht der Disput zwischen dem Lehrer und den Studenten. In diesem Disput tauchen einerseits die Argumente der Autorität, andererseits jene der Vernunft auf, und der Disput verläuft in dem Sinn, daß am Ende eine Synthese zwischen Autorität und Vernunft gefunden wird, um zu einem tieferen Verständnis des Wortes Gottes zu gelangen. Diesbezüglich sagt der hl. Bonaventura, daß die Theologie »per additionem« besteht (vgl. Commentaria in quatuor libros sententiarum, I, proem., q.1, concl.). Das heißt: die Theologie fügt dem Wort Gottes die Dimension der Vernunft hinzu und schafft so einen tieferen, persönlicheren und somit auch konkreteren Glauben im Leben des Menschen.

Benedikt XVI. in der Generalaudienz vom 28. Oktober 2009 über die monastische und scholastische Theologie.


30.

“Gott ist Licht, und keine Finsternis ist in ihm”, sagt uns der heilige Johannes (1 Joh, 1,5). Licht ist Quelle von Leben. Licht bedeutet aber vor allem Erkenntnis, bedeutet Wahrheit im Gegensatz zum Dunkel der Lüge und der Unwissenheit. So läßt Licht uns leben, zeigt uns den Weg. Licht bedeutet aber dann, weil es Wärme schenkt, auch Liebe. Wo Liebe ist, geht ein Licht auf in der Welt; wo Haß ist, ist die Welt finster. Ja, im Stall von Bethlehem ist das große Licht erschienen, auf das die Welt wartet. In dem Kind, das da im Stall liegt, zeigt Gott seine Herrlichkeit – die Herrlichkeit der Liebe, die sich selbst verschenkt und die sich aller Größe begibt, um uns auf den Weg der Liebe zu führen. Das Licht von Bethlehem ist nicht mehr erloschen. In allen Jahrhunderten hat es Menschen berührt, hat es sie umstrahlt. Wo der Glaube an dieses Kind aufging, da blühte auch die Caritas auf – die Güte für die anderen, das Zugehen auf die Schwachen, auf die Leidenden; die Gnade des Verzeihens. Von Bethlehem her zieht sich eine Lichtspur, eine Spur der Liebe und der Wahrheit durch die Jahrhunderte: Wenn wir auf die Heiligen hinschauen von Paulus über Augustinus hinauf zu Franz von Assisi und Dominikus, über Franz Xaver und Teresa von Avila bis herauf zu Mutter Teresa – dann sehen wir diesen Strom der Güte, diesen Weg des Lichtes, der sich immer neu am Geheimnis von Bethlehem entzündet, an dem Gott, der ein Kind geworden ist. Der Gewalt dieser Welt hält Gott seine Güte in diesem Kind entgegen und ruft uns auf, dem Kind zu folgen.

Aus der Homilie, die Papst Benedikt XVI. an Weihnachten 2005 zur Mitternachtsmesse in St. Peter gehalten hat.


31.

Der Glaube geht aus der ewigen Vernunft hervor, die in unsere Welt gekommen ist und uns den wahren Gott gezeigt hat. Das geht über die unserer Vernunft eigenen Fähigkeiten hinaus, so wie die Liebe mehr als der einfache Verstand sieht. Doch der Glaube spricht zur Vernunft und kann der Vernunft im dialektischen Vergleich standhalten. Er widerspricht ihr nicht, sondern er kann mit ihr Schritt halten und führt gleichzeitig über sie hinaus – er führt den Menschen in die größere Vernunft Gottes ein. Als Hirten unserer Zeit haben wir die Aufgabe, als Erste die Vernunft des Glaubens zu erfassen. Die Aufgabe, ihn nicht einfach eine Tradition bleiben zu lassen, sondern ihn als Antwort auf unsere Fragen zu erkennen. Der Glaube erfordert unsere vernünftige Teilhabe, die in einer Gemeinschaft der Liebe vertieft und gereinigt wird.
Es gehört zu unseren Aufgaben als Hirten, den Glauben mit dem Denken zu durchdringen, um im Disput unserer Zeit die Vernunft unserer Hoffnung zeigen zu können.

Benedikt XVI. in seiner Predigt am 29. Juni 2009


32.

Wie hat das Christentum in seinen Ursprungszeiten seinen Anspruch im Kosmos der Religionen gesehen? Das Erstaunliche ist, dass Augustinus ohne jedes Zögern dem Christentum seinen Platz im Bereich der “physischen Theologie”, im Bereich der philosophischen Aufklärung zuweist. Er steht in vollkommener Kontinuität mit den frühesten Theologen des Christentums, den Apologeten des zweiten Jahrhunderts, ja mit der Ortsbestimmung des Christentums durch Paulus im ersten Kapitel des Römerbriefes, die ihrerseits auf der alttestamentlichen Weisheitstheologie beruht und über sie zurückreicht bis in die Verspottung der Götter in den Psalmen. Das Christentum hat nach dieser Sicht seine Vorläufer und seine innere Vorbereitung in der philosophischen Aufklärung, nicht in den Religionen. Das Christentum beruht nach Augustinus und nach der für ihn maßgebenden biblischen Tradition nicht mythischen Bildern und Ahnungen, deren Rechtfertigung schließlich in ihrer politischen Nützlichkeit liegt, sondern es bezieht sich auf jenes Göttliche, das die vernünftige Analyse der Wirklichkeit wahrnehmen kann.

Aus: Joseph Kardinal Ratzinger, Der angezweifelte Wahrheitsanspruch. Die Krise des Christentums am Beginn des dritten Jahrtausends, in: Joseph Ratzinger / Paolo Flores d’Arcais, Gibt es Gott?, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 3. Auflage 2006, S. 8 f.


33.

Der Mensch kann in die Wissenschaft und in die Technologie kein so radikales und bedingungsloses Vertrauen setzen, dass er glauben könnte, der wissenschaftliche und technologische Fortschritt könne alles erklären und alle seine existentiellen und spirituellen Bedürfnisse vollständig erfüllen. Die Wissenschaft kann die Philosophie und die Offenbarung nicht ersetzen, denn sie kann keine erschöpfende Antwort auf die grundlegendsten Fragen des Menschen geben: Fragen über den Sinn des Lebens und des Sterbens, über die letzten Werte und über das Wesen des Fortschritts selbst. Aus diesem Grund hat das Zweite Vatikanische Konzil, nachdem es den durch den wissenschaftlichen Fortschritt gewonnenen Nutzen anerkannt hat, davor gewarnt, die „Forschungsmethode dieser Disziplinen unberechtigt als oberste Norm der Wahrheit schlechthin“ anzusehen. Und weiter heißt es: „Es besteht die Gefahr, dass der Mensch in allzu großem Vertrauen auf die heutigen Errungenschaften sich selbst zu genügen glaubt und darüber hinaus nicht mehr sucht“ (Gaudium et spes, 57).

Aus der Ansprache von Papst Benedikt XVI. während der Audienz für die Teilnehmer der Vollversammlung der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften am 6. November 2006


34.

Diese Politiker [Churchill, Adenauer, Schumann, De Gasperi, die Europa nach Kriegsende eine in ihrer Dauer bisher nicht erreichte Friedensperiode schenkten] haben ihre moralische Idee des Staates, des Rechts, des Friedens und der Verantwortung aus ihrem christlichen Glauben genommen, der durch die Prüfungen der Aufklärung hindurchgegangen war und im Gegenüber zur parteilichen Verdrehung von Recht und Moral sich weiter gereinigt hatte. Sie wollten nicht den Glaubensstaat konstruieren, sondern einen von der sittlichen Vernunft geformten Staat, aber ihr Glaube hatte ihnen geholfen, die von der ideologischen Tyrannei geknechtete und entstellte Vernunft wieder aufzurichten und zum Leben zu bringen. Sie haben eine Politik der Vernunft gemacht - der moralischen Vernunft; ihr Christentum hatte sie nicht von der Vernunft entfernt, sondern ihre Vernunft erleuchtet.

Aus: Joseph Kardinal Ratzinger, Auf der Suche nach dem Frieden. Rede aus Anlass des 60. Jahrestages der Landung der Alliierten in Frankreich am 6. Juni 2004. Deutsche Erstveröffentlichung in: Die Tagespost (12.6.2004) 4-5. Wieder abgedruckt in: Joseph Kardinal Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, Freiburg i.Br. 2005, S. 125.


35.

Es ist daher ein Irrtum zu denken, daß es eine reine, anti-historische Vernunft gibt, die nur in sich selbst existiert, und daß es sich dabei um „die“ Vernunft handelt; wir entdecken immer mehr, daß sie nur einen Teil des Menschen berührt, nur eine bestimmte historische Situation zum Ausdruck bringt und nicht die Vernunft an sich ist. Die Vernunft an sich ist offen für die Transzendenz, und nur in der Begegnung zwischen der transzendenten Wirklichkeit, dem Glauben und der Vernunft findet der Mensch sich selbst. Daher denke ich, daß die Aufgabe und die Sendung Europas in dieser Situation gerade darin besteht, diesen Dialog zu finden, den Glauben und die moderne Rationalität in eine einzige anthropologische Sichtweise zu integrieren, die das menschliche Wesen vollständig erfaßt und so auch die Kommunikation unter den menschlichen Kulturen möglich macht. Daher würde ich sagen, daß die Präsenz des Säkularismus etwas Normales ist, aber die Trennung, das Gegeneinander von Säkularismus und der Kultur des Glaubens ist anormal und muß überwunden werden. Die große Herausforderung dieser Zeit ist, daß sich die beiden begegnen und so ihre wahre Identität finden.

Papst Benedikt XVI. im Interview mit Journalisten auf dem Flug nach Portugal am 11. Mai 2010.


36.

Sein [des hl. Augustinus] Durst nach Wahrheit war radikal und hat ihn schließlich dazu veranlaßt, sich vom katholischen Glauben abzuwenden. Aber seine Radikalität war so geartet, daß er sich nicht mit Philosophien zufrieden geben konnte, die nicht zur Wahrheit selbst gelangten, die nicht bis zu Gott gelangten. Und zu einem Gott, der nicht nur eine letzte kosmologische Hypothese wäre, sondern der wahre Gott, der Gott, der uns das Leben gibt und in dieses unser Leben selbst eintritt. So stellt der gesamte intellektuelle und geistliche Weg des hl. Augustinus auch heute ein gültiges Modell für das Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft dar, ein Thema nicht nur für gläubige Menschen, sondern für jeden Menschen, der die Wahrheit sucht, ein zentrales Thema für die innere Ausgewogenheit und das Schicksal jedes Menschen. Diese beiden Dimensionen, Glaube und Vernunft, sind weder voneinander zu trennen noch einander entgegenzusetzen, sondern sie müssen vielmehr stets zusammengehen. Wie Augustinus selbst nach seiner Bekehrung geschrieben hat, sind Glaube und Vernunft »die zwei Kräfte, die uns zum Erkennen bringen« (Contra Academicos III,20,43). Zu Recht berühmt sind in diesem Zusammenhang die zwei augustinischen Formeln (Sermones, 43,9), die diese kohärente Synthese von Glaube und Vernunft zum Ausdruck bringen: »crede ut intelligas« (»glaube, um zu verstehen«) – der Glaube öffnet den Weg, um die Tür zur Wahrheit zu durchschreiten –, aber auch und davon nicht zu trennen: »intellige ut credas« (»verstehe, um zu glauben«), erforsche die Wahrheit, um Gott zu finden und zu glauben. Diese beiden Aussagen des Augustinus bringen mit eindringlicher Unmittelbarkeit und ebensolcher Tiefe die Synthese dieses Problems zum Ausdruck, in der die katholische Kirche ihren Weg formuliert findet. Historisch nimmt diese Synthese noch vor dem Kommen Christi in der Begegnung zwischen jüdischem Glauben und griechischem Denken im hellenistischen Judentum Gestalt an. In der Folge ist diese Synthese von vielen christlichen Denkern aufgenommen und weiterentwickelt worden.

Papst Benedikt XVI. in der Generalaudienz vom 30. Januar 2008.


37.

Es war die große Leistung Platons, dass er dieses Drei-Staaten-Schema [der Vorsokratiker] aus der geographischen Einteilung [in die Völker des Nordens, des Ostens/Südens und in Hellas] herausnahm und es statt dessen mit den drei Grundweisen menschlicher Existenz verknüpfte, Politik also an Anthropologie band. Er spricht von drei Seelenteilen im Menschen, aber wir können stattdessen auch einfach von drei Grundweisen der Integration oder Desintegration des Menschen reden. Die Gestalt des Staates wird davon abhängen, welche dieser drei anthropologischen Grundformen die Oberhand gewinnt. Es gibt die Herrschaft des Niedrigsten im Menschen - die Herrschaft der Gier, der Gier nach Habe, nach Macht, nach Lust. Verstand und Herz werden intrumentalisiert für das Niedrige; der Mensch sieht im anderen nur noch den Konkurrenten oder das Instrument für die Ausweitung des eigenen Ich. Markt und Meinung regieren über den Menschen und werden zur Karikatur der Freiheit. Über der Gier steht in Platons anthropologischer Formel der bloße Wille, die Kühnheit des Wagens und Unternehmens, die aber blind bleibt. Die wahre Instanz der Intregration des Menschen ist für Platon der “Nous”, was wir sehr unzulänglich mit Vernunft oder Verstand übersetzen. Gemeint ist die Fähigkeit, die eigentlichen Maße des Seins selbst wahrzunehmen, das Organ für das Göttliche.

Aus: Joseph Kardinal Ratzinger, Europa - Hoffnungen und Gefahren, Sonderdruck Speyer 1990; wieder abgedruckt in: Joseph Cardinal Ratzinger, Wendezeit für Europa? Diagnosen und Prognosen zur Lage von Kirche und Welt, Einsiedeln, Freiburg 1991, S. 82 - 104, hier S. 94 f.


38.

Letztendlich zeigte Thomas von Aquin, daß zwischen dem christlichen Glauben und der Vernunft eine natürliche Harmonie besteht. Das war das große Werk des Thomas: In dem Augenblick, wo zwei Kulturen [die vorchristliche Kultur des Aristoteles mit ihrer radikalen Rationalität und die klassische christliche Kultur] aufeinanderprallten – in dem Augenblick, wo es schien, daß der Glaube sich der Vernunft ergeben müsse –, hat er gezeigt, daß sie zusammengehen, daß das, was mit dem Glauben nicht vereinbare Vernunft zu sein schien, keine Vernunft war, und daß das, was Glaube zu sein schien, kein Glaube war, wenn es zur wahren Vernünftigkeit im Gegensatz stand; so hat er eine neue Synthese geschaffen, welche die Kultur der nachfolgenden Jahrhunderte geformt hat.

Papst Benedikt XVI. in der Generalaudienz vom 2. Juni 2010.


39.

Die Kirchenväter mußten sich mit verschiedenen platonisch geprägten Philosophien auseinandersetzen, in denen eine vollständige Welt- und Lebensanschauung vorgelegt wurde, einschließlich der Frage nach Gott und der Religion. In der Auseinandersetzung mit diesen Philosophien hatten sie selbst eine vollständige Sicht der Wirklichkeit erarbeitet, die vom Glauben ausging und Elemente des Platonismus benutzte, um auf die wesentlichen Fragen der Menschen zu antworten. Diese Sicht, die auf der biblischen Offenbarung gründete und mit einem im Licht des Glaubens berichtigten Platonismus erarbeitet worden war, nannten sie »unsere Philosophie«. Das Wort »Philosophie« war also nicht Ausdruck für ein rein rationales und als solches vom Glauben unterschiedenes System, sondern es zeigte eine umfassende Sicht der Wirklichkeit an, die im Licht des Glaubens aufgebaut worden war, die sich aber die Vernunft denkend angeeignet hatte. Gewiß ging diese Sichtweise über die Fähigkeiten der Vernunft hinaus, sie war jedoch als solche auch für diese zufriedenstellend. Für den hl. Thomas öffnete die Begegnung mit der vorchristlichen Philosophie des Aristoteles (dieser starb um das Jahr 322 vor Christus) eine neue Perspektive. Die aristotelische Philosophie war natürlich eine Philosophie, die ohne Kenntnis des Alten und des Neuen Testaments erarbeitet worden war, eine Erklärung der Welt ohne Offenbarung, allein durch die Vernunft. Und diese konsequente Vernünftigkeit war überzeugend. So funktionierte die alte Form – »unsere Philosophie« – der Väter nicht mehr. Die Beziehung zwischen Philosophie und Theologie, zwischen Glauben und Vernunft mußte neu bedacht werden. Es gab eine vollständige und in sich selbst überzeugende »Philosophie«, eine dem Glauben vorangehende Vernünftigkeit, und dann die »Theologie«, ein Denken mit dem Glauben und im Glauben. Die vordringliche Frage war folgende: Sind die Welt der Rationalität, die ohne Christus gedachte Philosophie, und die Welt des Glaubens miteinander vereinbar? Oder schließen sie einander aus? Es fehlte nicht an Elementen, die für die Unvereinbarkeit der beiden Welten sprachen, aber der hl. Thomas war fest davon überzeugt, daß sie miteinander vereinbar seien – ja, daß die ohne die Kenntnis Christi erarbeitete Philosophie gleichsam das Licht Christi erwartete, um vollständig zu sein. Dies war die große »Überraschung« des hl. Thomas, die seinen Denkweg bestimmt hat. Der Beweis dieser Unabhängigkeit zwischen Philosophie und Theologie und gleichzeitig ihrer gegenseitigen Bezogenheit war die historische Sendung des großen Meisters.

Papst Benedikt XVI. in der Generalaudienz vom 16. Juni 2010.


40.

Der wichtigste und entscheidende Bereich der kulturellen Auseinandersetzung zwischen dem Absolutheitsanspruch der Technik und der moralischen Verantwortung des Menschen ist heute die Bioethik, wo auf radikale Weise die Möglichkeit einer ganzheitlichen menschlichen Entwicklung selbst auf dem Spiel steht. Es handelt sich um einen äußerst heiklen und entscheidenden Bereich, in dem mit dramatischer Kraft die fundamentale Frage auftaucht, ob sich der Mensch selbst hervorgebracht hat oder ob er von Gott abhängt. Die wissenschaftlichen Entdeckungen auf diesem Gebiet und die Möglichkeiten technischer Eingriffe scheinen so weit vorangekommen zu sein, daß sie uns vor die Wahl zwischen den zwei Arten der Rationalität stellen: die auf Transzendenz hin offene Vernunft oder die in der Immanenz eingeschlossene Vernunft. Man steht also vor einem entscheidenden Entweder-Oder. Die Rationalität des auf sich selbst zentrierten technischen Machens erweist sich jedoch als irrational, weil sie eine entschiedene Ablehnung von Sinn und Wert mit sich bringt. Nicht zufällig prallen das Sich-Verschließen gegenüber der Transzendenz und die Schwierigkeit zu denken, wie aus dem Nichts das Sein hervorgegangen und wie aus dem Zufall der Verstand entstanden sein soll, aufeinander.[153] Angesichts dieser dramatischen Probleme helfen sich Vernunft und Glaube gegenseitig. Nur gemeinsam werden sie den Menschen retten. Die vom reinen technischen Tun gefesselte Vernunft ist ohne den Glauben dazu verurteilt, sich in der Illusion der eigenen Allmacht zu verlieren. Der Glaube ist ohne die Vernunft der Gefahr der Entfremdung vom konkreten Leben der Menschen ausgesetzt.[154]

[153] Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Teilnehmer des IV. Nationalen Kongresses der Kirche in Italien (19. Oktober 2006): a.a.O., 465-477; ders., Homilie bei der Meßfeier auf dem »Islinger Feld« in Regensburg (12. September 2006): a.a.O., 252-256.

[154] Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über einige Fragen der Bioethik Dignitas personae (8. September 2008): AAS 100 (2008), 858-887.

Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika Caritas in veritate vom 29. Juni 2009.


41.

Was ist die Grundlage für die Unverletzlichkeit einiger Rechte? Die katholische Lehre sagt: die Schöpfung. Seit der griechischen Philosophie wurde dafür der Begriff Natur, physis gebraucht. Vielleicht könnte man einen besseren Begriff finden, aber ich will hier nicht über die Terminologie streiten. Doch hinter dem Begriff der physis stand die Vorstellung, dass diese Natur nicht Ergebnis eines blinden Zufalls, einer blinden Evolution sei, sondern trotz der Weiterentwicklung dahinter eine Vernunft, also eine Moral des Seins selbst stehen muß. Ich fand die Formulierung von Flores d’Arcais sehr schön, dass es sozusagen moralische Elemente in den Chromosomen der Realität geben müsse. Das bedeutet nicht, dass die empirische Natur als Naturgesetz kanonisiert werden muß, sondern dass es eine Priorität des Geistes gegenüber dem Irrationalen gibt und daher ein moralisches Fundament existiert, das bestimmte Verhaltensweisen ausschließt.

Joseph Kardinal Ratzinger im Gespräch, das er am 21. Februar 2000 im Teatro Quirino mit dem Philosophen Flores d’Arcais, Herausgeber der Zeitschrift MicroMega, geführt hat, unter der Moderation des Journalisten Gad Lerner. Das Gespräch wurde in MicroMega veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung von Friederike Hausmann erschien unter dem Titel Gibt es Gott? als Wagenbachs Taschenbuch 531 im Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 3. Auflage im Juli 2006.


42.

Alexis de Tocqueville hatte seinerzeit festgestellt, daß die Demokratie in Amerika möglich wurde und funktionierte, weil es einen über die einzelnen Denominationen hinüberreichenden moralischen Grundkonsens gab, der alle verband. Nur wenn es einen solchen Konsens im Wesentlichen gibt, können Verfassungen und Recht funktionieren. Dieser aus dem christlichen Erbe gekommene Grundkonsens ist da gefährdet, wo an seine Stelle, an die Stelle der moralischen Vernunft die bloße Zweckrationalität tritt, von der ich vorhin gesprochen hatte. Dies ist in Wirklichkeit eine Erblindung der Vernunft für das Eigentliche. Gegen diese Erblindung der Vernunft anzukämpfen und ihr die Sehfähigkeit für das Wesentliche, für Gott und den Menschen, für das Gute und das Wahre zu erhalten, ist das gemeinsame Anliegen, das alle Menschen guten Willens verbinden muß. Es geht um die Zukunft der Welt.

Benedikt XVI. in seiner Ansprache beim Weihnachtsempfang für das Kardinalskollegium und die Mitglieder der römischen Kurie sowie des Governatorats in der Sala Regia des Apostolischen Palastes am 20. Dezember 2010.


43.

Die Welt ist Produkt des Wortes, des Logos, wie Johannes mit einem Zentralwort der griechischen Sprache sagt. Logos bedeutet Vernunft, Sinn, Wort. Er ist nicht bloß Vernunft, sondern sprechende, sich selbst mitteilende, schöpferische Vernunft. Er ist Vernunft, die Sinn ist und selbst wiederum Sinn stiftet. So sagt uns also der Schöpfungsbericht: Die Welt ist Produkt der schöpferischen Vernunft. Und er sagt uns damit: Am Anfang aller Dinge stand nicht das Unvernünftige, das Unfreie, sondern der Ursprung aller Dinge ist die schöpferische Vernunft, ist die Liebe, ist die Freiheit. Hier stehen wir vor der letzten Alternative, um die es im Disput zwischen Glaube und Unglaube geht: Ist die Unvernunft, das Unfreie und der Zufall der Ursprung aller Dinge, oder ist der Ursprung des Seins Vernunft, Freiheit, Liebe? Gilt der Primat der Unvernunft oder der Vernunft? Um diese Frage geht es letztlich. Als Gläubige antworten wir mit dem Schöpfungsbericht und mit dem heiligen Johannes: Am Anfang steht die Vernunft. Am Anfang steht die Freiheit. Deshalb ist es gut, ein Mensch zu sein. Es ist nicht so, daß in dem sich ausdehnenden Universum am Ende in irgendeinem kleinen Winkel des Alls zufällig auch eine Art von Lebewesen entstand, die denken kann und versuchen kann, Vernunft in der Schöpfung zu finden oder in sie hineinzubringen. Wäre der Mensch nur ein solches Zufallsprodukt der Evolution irgendwo am Rand des Alls, dann wäre sein Leben sinnlos oder gar eine Störung der Natur. Aber nein – die Vernunft ist zuerst, die schöpferische, die göttliche Vernunft.

Benedikt XVI. in seiner Predigt zur Ostervigil am 23. April 2011


44.

Glaube und Vernunft sind beide erforderlich und ergänzen einander bei der Suche nach der Wahrheit. Gott schuf den Menschen mit einer natürlichen Berufung zur Wahrheit und stattete ihn dazu mit Vernunft aus. Es ist sicher nicht die Unvernunft, sondern das Streben nach der Wahrheit, welches der christliche Glaube fördert. Jeder Mensch muß die Wahrheit ergründen und, wenn er ihr begegnet, sich für sie entscheiden, auch wenn dies mit Opfern verbunden ist. Zudem ist die Wahrheit über den Menschen eine unumgängliche Voraussetzung dafür, um die Freiheit zu erlangen, denn in ihr entdecken wir die Grundlagen einer Ethik, mit der sich alle auseinandersetzen können und die klare und präzise Formulierungen über das Leben und den Tod enthält, über Pflichten und Rechte, über Ehe und Familie und die Gesellschaft, letztlich über die unverletzliche Würde des Menschen. Dieses sittliche Erbe kann alle Kulturen, Völker und Religionen einander näherbringen wie auch die Verantwortlichen der Politik und die Bürger, genauso wie die Bürger untereinander, und weiter auch die an Christus Glaubenden und jene, die nicht an ihn glauben.

Papst Benedikt XVI. in seiner Predigt auf der Plaza de la Revolución José Martí, Havanna, am 28. März 2012.


45.

Christian Gnilka [Professor für klassische Philologie] hat gezeigt, daß der Begriff consuetudo die heidnischen Religionen bezeichnen kann, die ihrem Wesen nach nicht Glauben, sondern „Gewohnheit“ waren: Man tut, was man seit je getan hat, man beobachtet die überlieferten kultischen Gestalten und hofft, so im rechten Verhältnis zum geheimnisvollen Bereich des Göttlichen zu bleiben. Das Revolutionäre des Christentums war in der Antike gerade der Bruch mit der „Gewohnheit“ um der Wahrheit willen. Tertullian spricht hier vor allem vom Evangelium des heiligen Johannes her, in dem auch die andere grundlegende Interpretation des christlichen Glaubens zu finden ist, die sich in der Bezeichnung Christi als Logos ausdrückt. Wenn Christus der Logos, die Wahrheit ist, dann muß der Mensch ihm mit seinem eigenen Logos, mit seiner Vernunft entsprechen. Er muß, um zu Christus zu kommen, auf dem Weg zur Wahrheit sein. Er muß sich dem Logos öffnen, der schöpferischen Vernunft, von der seine eigene Vernunft herkommt und auf den sie ihn verweist. Von da aus versteht man, daß der christliche Glaube von seinem eigenen Wesen her Theologie hervorbringen, nach der Vernunft des Glaubens fragen mußte, auch wenn natürlich der Begriff Vernunft und derjenige der Wissenschaft viele Dimensionen umfassen und damit das konkrete Wesen des Zusammenhangs von Glaube und Vernunft immer neu ausgelotet werden mußte und muß.

Papst Benedikt XVI. am 30. Juni 2011 in seiner Ansprache im Clementina-Saal zur Verleihung des Benedikt XVI.-Preises der Fondazione Vaticana Joseph Ratzinger-Benedetto XVI an die Professoren Manlio Simonetti, Olegario Gonzales de Cardedal und Maximilian Heim.


46.

Gleichzeitig gibt es eine höhere Ebene, die notwendig alle wissenschaftlichen Vorhersagen überschreitet, das heißt die menschliche Welt der Freiheit und der Geschichte. Während der physikalische Kosmos eine eigene raumzeitliche Entwicklung haben kann, hat strenggenommen nur die Menschheit eine Geschichte, die Geschichte ihrer Freiheit. Die Freiheit ist wie die Vernunft ein wertvoller Teil des Bildes Gottes in uns und kann nie auf eine deterministische Analyse reduziert werden. Ihre Transzendenz hinsichtlich der materiellen Welt muß anerkannt und respektiert werden, da sie ein Zeichen unserer menschlichen Würde ist. Die Negation dieser Transzendenz im Namen einer vermeintlichen absoluten Fähigkeit der wissenschaftlichen Methode, die menschliche Welt vorherzusagen und zu konditionieren, brächte den Verlust des Menschlichen im Menschen mit sich, und die Nichtanerkennung seiner Einzigartigkeit und Transzendenz könnte seiner Ausbeutung auf gefährliche Weise die Tore öffnen.

Aus der Ansprache von Papst Benedikt XVI. während der Audienz für die Teilnehmer der Vollversammlung der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften am 6. November 2006.


47.

Die katholische Tradition hat von Anfang an den sogenannten Fideismus abgelehnt, also den Willen, auch gegen die Vernunft zu glauben. »Credo quia absurdum« (ich glaube, weil es unvernünftig ist) ist keine Formel, die den katholischen Glauben zum Ausdruck bringt. Denn Gott ist nicht etwas Unvernünftiges, sondern allenfalls Geheimnis. Das Geheimnis wiederum ist nicht irrational, sondern Überfülle an Sinn, an Bedeutung, an Wahrheit. Wenn der Vernunft das Geheimnis dunkel erscheint, dann nicht, weil es im Geheimnis kein Licht gibt, sondern weil es vielmehr zuviel davon gibt. So sehen die Augen des Menschen, wenn er sie direkt auf die Sonne richtet, um sie zu betrachten, nur Finsternis. Aber wer würde behaupten, daß die Sonne nicht leuchtet, ja sogar die Quelle des Lichts ist? Der Glaube gestattet es, die »Sonne«, Gott, zu betrachten, weil er die Annahme seiner Offenbarung in der Geschichte ist.

Aus der Ansprache zur Generalaudienz am 21. November 2012


48.

Tatsächlich bringt die moderne Entwicklung der Wissenschaften unzählige positive Wirkungen hervor, wie wir alle sehen; sie sind immer anzuerkennen. Zugleich aber muß man zugeben, daß die Tendenz, nur das als wahr zu betrachten, was Gegenstand eines Experiments sein kann, eine Beschränkung der Vernunft des Menschen darstellt und eine schreckliche, mittlerweile klar erkennbare Schizophrenie hervorbringt, in der Rationalismus und Materialismus, Hypertechnologie und zügellose Triebhaftigkeit zusammenleben. Deshalb ist es dringend notwendig, in einer neuen Art und Weise die Vernünftigkeit des Menschen wiederzuentdecken, die offen ist für das Licht des göttlichen Logos und seine vollkommene Offenbarung: Jesus Christus, den menschgewordenen Sohn Gottes.

Benedikt XVI. beim Angelus am 28. Januar 2007


Die Rettung der Vernunft

Was C. S. Lewis und Max Horkheimer zu Verfall und Rettung der Vernunft zu sagen haben, führe ich in meinem philosophischen Podcast aus. Der Text wurde im Mai 2018 in der Tagespost veröffentlicht.


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