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Religion und Politik

Eine Erkundung auf den Spuren von Joseph Ratzinger

Von Christoph Böhr

In seiner Bonner Antrittsvorlesung Zum Problem der theologia naturalis bezeichnet Ratzinger das Philosophische als „geradezu die missionarische Dimension des Gottesbegriffs“, nämlich als „jenes Moment, womit er sich – sc. in der allgemeinen Sprache der menschlichen Vernunft – verständlich macht nach außen hin.“ Die Philosophie ist demzufolge die historische Erscheinungsgestalt, die den transzendentalen Gottesglauben in allgemeiner Verständlichkeit extra muros zum Ausdruck bringt. Dieser Hinweis ist alles andere als belanglos. Denn er verweist nicht nur auf eine grundlegende Bedeutung der Philosophie, sondern nicht minder auf eine scharfe Begrenzung der zulässigen Mittel, derer sich der Glaube zu seiner Verbreitung bedienen darf.

Ganz in diesem Sinne ist auch jene – vielfach bewusst missverstandene – Passage über das Gespräch von Manuel II. Palaeologus und einem muslimischen Perser in der Regensburger Vorlesung Benedikts zu verstehen: Der Kaiser, also ausgerechnet der Politiker, begründet, warum Glaubensverbreitung durch Gewalt widersinnig ist. Gott handelt „syn logo“, durch Vernunft und Wort: „Der Glaube ist die Frucht der Seele, nicht des Körpers. Wer also jemandem zum Glauben führen will, braucht die Fähigkeit zur guten Rede und ein rechtes Denken.“ Das ist ganz im Sinne einer Unterscheidung – und Mahnung, die Alkuin im Rahmen seiner Kritik an den Kriegen Karls des Großen gegen die Sachsen zum Ausdruck bringt: Die Lehrer des Glaubens „sint praedicatores, non praedatores“ – sie sollen, so würde man es heute vielleicht ausdrücken, meinungsstark, aber nicht gewalttätig sein.

Was nun hat das mit Politischer Theologie zu tun? Die Waffen der Politik sind – auch im demokratischen Staat – Macht und Gewalt, die Waffen der Religion hingegen – auch im totalitären Staat – Vernunft und Wort. Diese Unterscheidung macht deutlich, wie tief der Graben zwischen der civitas terrena und der civitas Dei ist; beide Gemeinwesen stehen in einem bleibenden, unüberbrückbaren Gegensatz zueinander. Die Kluft kann von keiner Zivilreligion, die ja doch immer zum Nutzen und Frommen des Staates ist und sein soll, überbrückt werden. Wer also den Glauben verkündigt, kann sich nicht, auch wenn es die eigene Akzeptanz erhöhen und dem eigenen Ansehen dienen sollte, auf zivilreligiöse Appelle beschränken, und wer die Macht zu gestalten hat, kann nicht, auch wenn es die Beglaubigung des eigenen Anspruchs erhöht, den Glauben für sich vereinnahmen. Vom christlichen Caesar wird vielmehr erwartet, dass er um die Verworfenheit der Macht weiß, die nur zu dulden – und nicht um ihrer selbst willen anzustreben – ist. Im Übrigen ist es seine Aufgabe, selbst durch seinen Umgang mit der Macht ein Geschichtszeichen in der Welt sinnlicher Bestimmtheit zu setzen.

Eine freiheitliche politische Ordnung, die mit gutem Grund auf der unüberbrückbaren Verschiedenheit von Herrschaft und Heil beharrt, ruht auf einer Grundlage, die alle Rechtmäßigkeit der Meinungsvielfalt hinter sich lässt. Dieser Satz, der zunächst so leichtfüßig daherzukommen scheint, birgt eine innere Spannung, ja Sprengkraft, die nicht unterschätzt werden darf. Denn damit stellt sich, in den Worten Benedikts, „die Frage, ob es nicht doch einen nichtrelativistischen Kern auch in der Demokratie geben müsse: Ist sie denn nicht letztlich um die Menschenrechte herumgebaut, die unverletzlich sind, sodass gerade ihre Gewährung und Sicherung der tiefste Grund ist, warum Demokratie als nötig erscheint? Die Menschrechte unterliegen nicht ihrerseits dem Pluralismus- und dem Toleranzgebot, sie ‚sind‘ der Inhalt der Toleranz und der Freiheit. Den anderen seines Rechtes zu berauben kann niemals Inhalt der Freiheit sein. Das bedeutet, dass ein Grundbestand an Wahrheit, nämlich an sittlicher Wahrheit, gerade für die Demokratie unverzichtbar zu sein scheint“ (Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs).

Damit aber ist deutlich: Eine Verfassung, die ihren letzten Bezugspunkt im Begriff der Menschenwürde bestimmt, folgt einer Wahrheit, die alles Bedingte unserer Erfahrung übersteigt. Das macht in besonderer Weise der Begriff der ‚Unantastbarkeit‘ deutlich. Denn alle Lebenswirklichkeit zeigt nur, wie die Würde des Menschen ohne Unterlass und seit je angetastet, ja mit Füßen getreten wird. Wenn dennoch von einer unantastbaren Würde gesprochen wird, dann ist das nur zu verstehen als ein Zitat aus der Welt jenseits aller sinnlichen Erfahrung, also als Frucht einer Entweltlichung. Der Begriff der Würde, wenn er mehr bedeuten soll als der ihm in der Antike unterlegte Sinn, Würde aufgrund herausragender eigener Lebensleistung selbst erworben zu haben, wurzelt nicht im Empirischen, sondern im mundus intelligibilis, insofern er auf die gleiche Würde ausnahmslos aller Menschen zielt – unabhängig von ihrer physischen oder psychischen Konstitution.

Ist das nicht eine ungeheuerliche Anmaßung, eine kaum erträgliche Bevormundung, Demokratie in einem Begriff zu verankern, der jenseits aller sinnlichen Erfahrbarkeit liegt, also einen Wahrheitsanspruch in sich trägt? Ist das nicht eine in hohem Maße angreifbare, ja anstößige Vorstellung? Ist nicht die Demokratie ausweislich ihres eigenen Selbstverständnisses doch gerade die Staatsform, die ausdrücklich auf eine Beantwortung der Wahrheitsfrage verzichtet, ja, auf ihre Ausklammerung zielt und von jeder Bezugnahme zum bedingungslos Geltenden Abstand nimmt? Ist es nicht ein Widerspruch in sich, wenn Demokratie und Pluralismus, die wir heute als freies Spiel der Kräfte und Meinungen begreifen, hinnehmen müssen, dass die Regeln, nach denen gespielt wird, einer Absicht folgen sollen, die ihre Begründung nicht im Relativen, sondern im Absoluten sucht, also nicht von einer rechtfertigenden, zustimmenden Mehrheit, sondern von der allem Tun vorgeordneten Wahrheit empfängt?

Demgegenüber ist, so meine ich, zu sagen: Aller Politik geht eine Anthropologie voraus. Das anthropologische Fundament der pluralistischen Demokratie findet sich in einem Bild vom Menschen, der als unhintergehbarer Schluss- und Endpunkt aller Absichten und Zwecke zu verstehen ist. Die Unantastbarkeit des Menschen ‚an sich‘ wiederum heiligt sein Leben. Diese Überzeugung ist der Grundstein, auf dem die politische Verfassung einer freiheitlichen Ordnung ruht. Damit aber ist klar: Der Bezugspunkt einer rechtmäßigen Ordnung der Herrschaft liegt jenseits dieser Ordnung, im Begriff der Würde und ihrer Unantastbarkeit, im Unbedingten, das sich uns endlichen menschlichen Wesen immer nur implizit erschließt und auch nur dann, wenn wir nach ihm fragen, damit wir zu ihm in eine Beziehung des ‚quoad nos‘ – dessen, was uns betrifft – treten können und auf diese Weise die Grenze zwischen dem für uns Möglichen und dem für uns Unmöglichen durchbrechen.

Folgt die Demokratie dieser Selbstvergewisserung, bleibt sie sich jener Grenze, die zwischen Religion – dem Unverfügbaren – und der Politik – dem Machbaren – verläuft, immer bewusst, ja, mehr noch: Sie ist sich bewusst, dass sie auf dieser Grenze gegründet ist. Die Erforschung der Topographie dieses Grenzgebietes ist entscheidend für die Überlebenskraft des Begriffs der Menschenwürde, weil dieser gerade nicht der Welt des Bedingten entstammt, sondern wie kein anderer Ankerbegriff jeder freiheitlichen Ordnung vorausgeht und diese allererst ins Recht setzt. Dabei ist allerdings zu bemerken, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung in Deutschland sich von diesem Sinnverständnis des Begriffs der Menschenwürde inzwischen verabschiedet hat, indem sie den Begriff als die Summe von Einzelrechten – und nicht länger als deren vorangehende Axiomatik – umdeutet, also den zuvor transzendentalen als einen empirischen Begriff auslegt.

Somit erhält die augustinische Unterscheidung einen neuen, zeitgemäßen Sinn: Ist die strikte Trennung von civitas terrena und civitas Dei nicht unverzichtbar, um den Menschen vor der Politik zu schützen, wenn diese die ihr eigenen Mittel, Macht und Gewalt, missbräuchlich einsetzt, um sich dessen zu bemächtigen, was unverfügbar bleiben muss, sofern nicht das Gemeinwesen in offene oder unterschwellige Barbarei abgleiten soll? Ist nicht diese Politische Theologie, die eine ex negativo unüberbrückbare Grenze bestimmt, allemal entscheidender und wichtiger als der von vorne herein zum Scheitern verurteilte Versuch, die Gesellschaft zu ‚verchristlichen‘, weil Religion nur in der Achtung dieser Differenz zur Politik menschliche Würde gegen eine schleichende Aushöhlung – Benedikt XVI. spricht gelegentlich von einer ‚stillen Auszehrung‘, die niemand übersehen kann – retten kann?

Im Begriff der unantastbaren Würde des Menschen verbinden und versöhnen sich Politik und Religion paradoxerweise gerade dann, wenn sie zueinander auf Distanz gehen. Mit seinem Verweis auf die Metaphysik der Demokratie hat Benedikt darauf aufmerksam gemacht. Dass ausnahmslos jeder Mensch gleich ist in seiner Würde: Das zu achten muss und wird der Politik immer schwerfallen. Denn wer die Macht hat, besitzt sie deshalb, um andere nach seinem Willen, seiner Vorstellung und seinen Plänen zu lenken. Das einzig verfügbare Verkehrszeichen, das der Politik in diesem ihrem ureigenen – und durchaus ganz und gar rechtmäßigen – Anliegen die Grenze weisen kann, ist – die theologia naturalis, die nicht nach dem Nützlichen, sondern allein nach dem Bedingungslosen fragt.

Es handelt sich bei diesem Text um einen Auszug aus dem neuerschienenen, sehr empfehlenswerten Buch von Christoph Böhr Leidenschaft für die Vernunft. Denken und Glauben - Erkundungen auf den Spuren von Joseph Ratzinger, Heiligenkreuz 2024, 423 Seiten.

Der hier veröffentlichte Text befindet sich auf den Seiten 272 bis 279 als letztes Kapitel des Aufsatzes Politische Theologie und Naturale Theologie: Religion und Politik am Anschluss an Augustinus von Hippo. Die Fußnoten des Originals sind weggelassen.

Das Buch ist in der Reihe Geist und Gegenwart. Philosophische Reflexionen erschienen, herausgegeben von Christoph Böhr. Weitere Bücher, die bisher in dieser Reihe erschienen, sind:

Rolf Schönberger, Metaphysik und ihre Kritik. Zu den Grenzen einer Wissensform, Heiligenkreuz 2023.

Rocco Buttiglione, Europa - ein neuer Anfang: Identität, Kultur, Dialog, Heiligenkreuz 2023.

Engelbert Recktenwald, Autonomie. Eine philosophische Klärung, Heiligenkreuz 2024.


Auf den Spuren Ratzingers

Eine der gewichtigsten theologischen Stimmen, die sich im 20. Jahrhundert zum Verhältnis von Vernunft und Glaube auf substanzielle Weise geäußert hat, ist Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XIV. Der an der österreichischen Zisterzienser-Hochschule Heiligenkreuz lehrende Philosoph Christoph Böhr hat die Schrift „Leidenschaft für die Vernunft“ vorgelegt, in der er sich – aus dezidiert philosophischer Perspektive – auf die Spuren Ratzingers begibt, um die Beziehung von Denken und Glauben auszuloten.
In insgesamt acht Kapiteln umkreist Böhr in immer wieder neuen Reflexionsanläufen die Relation von Glauben und Vernunft. Dabei weitet er den Blick aber auch auf benachbarte Fragen, wie etwa das Verhältnis von Philosophie und Religion, von Religion und Politik, aber auch die heilsgeschichtliche Differenz von Katechon und Eschaton.

Aus: Sebastian Ostritsch, Gegen die Verarmung der Vernunft, Tagespost im Juni 2024. Über Christoph Böhrs Buch Leidenschaft für die Vernunft.


Joseph Ratzinger, Anwalt der Vernunft

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