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Gebt dem Staate, was des Staates ist

Von Peter Lippert

»Jedermann soll sich der obrigkeitlichen Gewalt unterwerfen; denn es gibt keine Vollmacht außer von Gott, und jede bestehende Vollmacht ist von Gott eingesetzt. Wer sich also der Obrigkeit widersetzt, der lehnt sich auf gegen Gottes Anordnung, und wer sich dagegen auflehnt, der verfällt dem Gericht. Die Regierenden sind ja nicht zu fürchten, wenn man recht tut, sondern nur, wenn man Böses tut. Willst du also die Obrigkeit nicht fürchten müssen? Dann handle recht und du wirst Anerkennung bei ihr finden. Sie ist ja eine Dienerin Gottes zu deinem Besten; wenn du aber schlecht handelst, dann magst du sie fürchten, denn sie trägt nicht umsonst das Schwert. Sie ist ja Gottes Dienerin zur Vollstreckung des Strafgerichts an dem Übeltäter. Darum muß man ihr gehorchen nicht nur wegen der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen. Deshalb zahlt ihr ja auch Steuern an die Machthaber; denn sie sind Gottes Beauftragte, die sich an dies ihr Amt zu halten haben.
So gebt denn allen, was ihr ihnen schuldig seid: Abgaben und Steuern denen, die ein Recht darauf haben, Furcht denen, die zu fürchten, und Ehrerbietung denen, die in Ehren zu halten sind« (Röm. 13, 1 ff.)

Für das menschliche Geistesleben und damit für das ganze Kulturleben war es eine weltgeschichtliche Stunde, als Jesus die Weisung gab: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist! Er hat mit diesem Wort das Recht des Kaisers, in dem gerade damals die Staatsgewalt verkörpert war, und damit also auch das Recht der Staatsgewalt, der staatlichen Einrichtungen und des staatlichen Lebens anerkannt, aber zugleich auch festgestellt, daß es außer dem staatlichen Recht noch ein anderes gebe, das vom Staat nicht angetastet werden darf, das Recht Gottes.

Da alles wirkliche Recht auf Erden schließlich in Gott wurzelt, aber von Menschen ausgebaut wird, so hat demnach auch der Staat, der aus dem Rechtsgedanken entspringt, eine zweifache Seite: In seiner tiefsten Grundlage geht er auf Gottes Willen zurück, in seinen geschichtlichen Erscheinungsformen und auch Entartungsformen ist er ein Menschenwerk. So wollen wir heute diese zwei Seiten des Staates betrachten:

das Göttliche am Staate,
und das Menschliche am Staate.

Erstens

Wir haben in unserer ersten Betrachtung über das fünfte Gebot schon an die Grundlagen und die tiefsten Wurzeln des staatlichen Lebens gerührt, und eben diese Grundlagen und Wurzeln sind das Göttliche am Staate. Sie 'sind nämlich nirgends anders gelegen als in dem von Gott stammenden Rechtsgedanken und der von Gott uns gegebenen Rechtsaufgabe. Indem Gott sich schützend vor das Leben und vor die Lebensnotwendigkeiten des Menschen gestellt hat, indem er die Verfügung über das Menschenleben sich selbst vorbehalten und dem Zugriff menschlicher Gewalt, Willkür und Selbstsucht entzogen hat, stellte er das Zusammenleben der Menschen auf die Grundlage des Rechts. Damit hat er uns eine Rechtsaufgabe zugewiesen, nämlich diesen Rechtsboden zu wahren und dieses Rechtsleben zu schirmen. Wir haben auch schon betrachtet, wie im Schutz des Rechtes auch die Erziehung zum Rechtswillen und damit das Strafrecht einbegriffen ist; ferner müssen die in unserer Natur eingesenkten Grundlinien des Rechts ausgestaltet, ausgebaut werden in fortschreitender Rechtsbildung. Nun denn, alle die Veranstaltungen, die wir brauchen, um das Rechtsleben zu wahren, um die Menschen zum Rechtswillen zu erziehen und das Rechtsleben auszugestalten, das eben ist der Kern der staatlichen Einrichtung. Das ist auch der Kern der staatlichen Autorität; denn diese besteht eben in den gesetzgebenden und ausführenden Organen, die das Rechtsleben einer Menschengruppe tragen und bestimmen. Die Träger dieser gesetzgeberischen und Recht schaffenden Tätigkeit sind die staatlichen Obrigkeiten. Wieviele Aufgaben der Staat seinem Wesen nach oder in einer bestimmten Zeitlage auch übernehmen mag, wesentlich und zuerst und in seiner Wurzel ist er der Hort und Träger des rechtlichen Zusammenlebens einer Menschengruppe.

Er wächst also mit seinem Wesen und Grundgedanken, mit seinen Vollmachten und seiner Autorität heraus aus dem im fünften Gebot verkündeten Prinzip, daß unser Zusammenleben auf der Grundlage des Rechts aufgebaut werden soll. In diesem Sinne stammt das staatliche Prinzip, nämlich das Rechtsleben und die staatliche Autorität, das heißt die Vollmacht von Organen des Rechtslebens unmittelbar aus göttlicher Anordnung. Wir können sagen: Gott will, daß die Menschen staatlich organisiert seien, daß sie unter den Organen der staatlichen Autorität leben, daß sie also auch die staatliche Obrigkeit anerkennen und sich ihr fügen.

Eine radikale Verneinung des Staates, etwa zugunsten eines romantisch freien Naturzustandes oder auch zugunsten einer bloß auf Liebe und Freiheit gegründeten Gemeinschaft, wäre also gegen Gottes Willen und Anordnung, wie die Verneinung des Rechtes überhaupt. Wer den Staat als solchen und in seinem Begriff bekämpft, der bekämpft auch die Rechtsgrundlagen unseres Zusammenseins und damit die gottgewollte Ordnung, in der allein das menschliche Zusammenleben möglich und menschenwürdig ist.

Darum hat das Christentum von Anfang an sich als staatsbejahende Religion bekannt; selbst in dem götzendienerischen und Christus verfolgenden römischen Staat hat es das Göttliche und Gottgewollte gesehen und anerkannt. Die Kirche hat nie einen Zweifel darüber gelassen, daß sie jeden Versuch des einzelnen, unter irgendeinem Vorwand die staatliche Ordnung gewaltsam zu stören oder grundsätzlich zu verleugnen, als einen Abfall auch von den Grundsätzen Christi betrachtet und verurteilt. Es ist also nicht so, daß wir Christen nur den Staat bejahen, der uns wohlwollend gesinnt ist; nicht erst seit der großen Wende, die mit dem ersten christlichen Kaiser des Römerreiches kam, hat die Kirche den Staat anerkannt und geschützt, sondern schon in den Tagen des Nero und des Diokletian. Und nach dem Zerfall des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, das zum Schutze des Papsttums verpflichtet war, hat die Kirche nicht aufgehört, auch die modernen profanen und der Kirche oft genug feindselig gesinnten Staaten gelten zu lassen, insofern und insoweit sie den Staatsgedanken und das staatliche Recht überhaupt verkörpern und vertreten. Man kann also nicht sagen, daß die Kirche grundsätzlich sich immer dem Mächtigen beuge und den Staat nur anerkenne, um seine Machtmittel sich dienstbar zu machen; denn nur selten ist die Staatsgewalt ihr dienstbar geworden und wurde doch stets von ihr anerkannt. Es ist auch nicht so, wie man oft sagen hört, daß die Kirche nur um ihres konservativen Charakters willen an der staatlichen Autorität festhalte. Mit konservativer Gesinnung hat die Haltung der Kirche nichts zu tun; sie hält einfach an dem Recht fest, das Gott selbst im fünften Gebot verkündet hat, und die längere oder kürzere Zeitdauer hat da nichts zu sagen. Ob ein von Gott gegebenes oder gewolltes Recht althergebracht oder dem Augenblick modernsten Werdens entsprungen ist, das ist für die Kirche nicht von Bedeutung; entscheidend ist für sie nur der göttliche Ursprung der staatlichen Hoheit überhaupt.

Daraus ergibt sich also auch, daß wir Katholiken an die ewige Dauer des Staatsgedankens und der staatlichen Einrichtungen glauben. Es wird keine Zeit kommen, wo die Menschheit diese Einrichtungen entbehren oder über sie hinwegschreiten könnte. Ebenso glauben wir an die Vollmacht, an die Souveränität des Staates auf seinem Gebiet und in seiner Sphäre; in der Sphäre, in der das irdische Dasein und das äußere bürgerliche Zusammensein der Menschen rechtlich geordnet wird, besitzt der Staat die höchste und vollste, von niemand überragte und von niemand einzuschränkende Autorität nach Gottes allerhöchstem Willen.

Zweitens

Von Gott stammen die Grundlagen des Staatsgedankens, das Recht; und das Fundament der staatlichen Autorität, nämlich sein Wille und Auftrag an die Menschheit, das Recht zu schirmen und zu schaffen. Damit ist also der Aufbau und die Formung des Staates uns, den Menschen, und unserer sozialen Kraft als Aufgabe zugewiesen, und so erhält der Staat sein menschliches Gepräge. In der Tat erfüllt diese staatenbauende Arbeit die Geschichte der Menschheit von den ältesten Zeiten an, die im Lichte der Geschichte liegen. Ja, man kann sagen, die Geschichte beginnt mit den Versuchen der Staatsgründung, die zuweilen in den einfachsten Formen stecken bleiben, aber auch schon früh zu großer Vollkommenheit gelangen. Es ist eine unübersehbare Fülle von staatlichen Versuchen gemacht worden, und heute noch ist diese Reihe von Möglichkeiten noch längst nicht erschöpft. Im Gegenteil, mit dem Eintritt von stets neuen Faktoren, der Bevölkerungsbewegung, der wirtschaftlichen und technischen Errungenschaften und auch der Erscheinungen des Geisteslebens wird auch die staatsschöpferische Kunst der Menschen vor immer neue Aufgaben gestellt. Als Erzeugnis menschlichen Könnens sind diese Staatenbildungen von verschiedenem Wert, aber auch von relativ gleichem Recht. Von Gott, vom Standpunkt des Christentums und der Kirche aus gesehen, sind alle Formen staatlichen Zusammenlebens in gleicher Weise zu werten. Welcher Art die staatliche Organisation und vor allem die staatliche Regierungsform ist, Despotie oder Demokratie, Monarchie oder Republik, das macht im Angesicht des fünften Gebotes, vor den Augen Gottes und also auch vom religiösen Standpunkt der Kirche aus keinen Unterschied.

Darum besteht für unser Gewissen, für unser religiöses und kirchliches Leben kein Grund, die eine oder andere Regierungsform vorzuziehen oder gar als allein möglich und erlaubt hinzustellen. Es können Gründe der Gewöhnung, der Erinnerung, der Pietät und vor allem der politischen Zweckmäßigkeit uns bewegen, eine Form staatlichen Lebens gefühlsmäßig oder praktisch vorzuziehen: aber eine grundsätzliche und religiöse Angelegenheit ist das niemals. Auch die Interessen der Kirche, der Gewissen, der Seelen, die Interessen des Geisteslebens und der Ewigkeit können von jeder staatlichen Form gefördert und auch geschädigt werden. Die Erfahrung zeigt denn auch, daß es kein Staatsgebilde gab, von dem die Kirche Christi nicht zuweilen Unbill und Hemmung, zuweilen auch Förderung und Verständnis gefunden hat.

Alle diese Unterschiede liegen eben nicht im Staatsgedanken an sich, sondern in den Menschen, die den Staat bilden und regieren; es kommt alles darauf an, welche Menschen an dem staatlichen Aufbau mitarbeiten und in welcher Gesinnung sie mitarbeiten. Damit kommen wir zu einer Seite am Staate, die auch ihre religiöse, ja christliche Bedeutung hat. In den ersten Anfängen des Staatslebens sind es immer nur sehr wenige gewesen, die in ihrer Person das staatliche Leben trugen und verkörperten, ja meist ein einziger, ein Despot. Aber im Laufe der Entwicklung - und das ist wirklich eine Entwicklung zum Fortschritt, besonders in der neueren Zeit - ist der Kreis dieser selbsttätigen Mitarbeiter ständig gewachsen. Unser heutiges Ideal ist es, daß jeder einzelne Staatsbürger auch zugleich Träger des staatlichen Lebens, nicht bloß Gegenstand oder gar bloß leidendes Versuchsobjekt der staatlichen Tätigkeit sei. Wir sind auch heute noch weit entfernt von diesem Ideal, aber es schwebt uns doch schon vor. Wir sind auf dem Wege dorthin, daß jeder Mann und jede Frau sich selbst als einen mitbestimmenden Teil des staatlichen Organismus und als einen mitverantwortlichen Träger des staatlichen Lebens fühle und äußere. Ja, man kann und muß sagen, daß diese Durchdringung jedes einzelnen mit staatlichem Willen auch eine Art Pflicht, eine wahrhaft religiöse Aufgabe geworden ist, nicht etwa nur im kirchenpolitischen Sinn, insoferne das Wohl und Wehe der Kirche in weitgehendem Maße abhängt von der Gestaltung des staatlichen Lebens, also auch von unserer Mitarbeit, sondern in einem viel weiteren Sinn. Das staatliche Leben ist uns von Gott als echt menschliche Aufgabe zugewiesen, und es gehört auch zum vollen Menschentum und zur vollmenschlichen Reife, daß jeder einzelne von uns auch diese Aufgabe immer vollkommener erfülle. Es wäre ein Versagen gegenüber einem gottgegebnen Beruf, wenn wir uns völlig gleichgültig und teilnahmslos verhielten gegenüber dem Staat und seine Gestaltung tatenlos irgendwelchen anderen Menschen überließen, die vielleicht nur aus unedlen Absichten und Trieben sich dieser Aufgabe bemächtigen würden. Wenn die Besten sich nicht um den Staat kümmern, wird er in die Hände der Unedlen geraten.

Darum ist eine gewisse Staatsfreudigkeit, und zwar eine tätige und unternehmende Staatsfreudigkeit eine Seelenhaltung, die jedem zu Bewußtsein und geistiger Reife gelangten Menschen und erst recht jedem seiner göttlichen Sendung bewußten Menschen wohl ansteht. Jede Art von staatlicher Verdrossenheit, Passivität, Gleichgültigkeit und Trägheit ist auch eine Pflichtverletzung, ist ein religiös-sittliches Versagen. Wie klein und verschwindend auch vielleicht der Anteil ist, den der einzelne in der großen Masse der Staatsbürger an der Gestaltung seines Staates nehmen kann - vielleicht beschränkt er sich heute im wesentlichen auf die Abgabe des Stimmzettels -, es ist doch ein merkbarer Anteil und kann als solcher durchdrungen werden von hohem Verantwortlichkeitsbewußtsein, von tapferer und zukunftsfreudiger Haltung, von dem Willen zu einem besseren und reineren, jedenfalls geordneten Leben für sich und für alle Mitbürger. Es kommt ja auch hier nicht auf die sichtbare Größe eines Werkes an, sondern auf die Kraft und den Stolz und die Schönheit des inneren Wollens, mit dem einer das Werk unternimmt. Wir deutsche Katholiken dürfen uns das Zeugnis geben, daß wir schon in breiter Masse weitgehend erfaßt sind von diesem staatlichen Willen, von dieser heiligen Verantwortung, von diesem Mut, der sich nicht darein ergibt, die staatlichen Dinge einfach laufen und treiben zu lassen, wie sie wollen, sondern der sie in entschlossene Fäuste und - in feine und geschickte Hände nimmt, um sie nach unserem höchsten menschlichen und sittlichen, ja auch nach unserem religiösen Willen zu gestalten.

Wie alle menschlichen Dinge muß eben auch der Staat erst gestaltet, aus einem bloßen Naturprodukt zu einem Werk wirklicher Kultur geformt werden. Wenn er nicht vom Geist und von der Güte geformt wird, dann entartet er, wie alle menschlichen Dinge, und zwar um so schrecklicher, je größer und stolzer dieses Menschenwerk ist. Dann kann er geradezu etwas Dämonisches werden und eine der größten Gefahren für den Menschen, für seine Seele und für den Geist überhaupt. In das Kapitel vom Menschlichen am Staat gehört also auch diese Möglichkeit der Entartung.

Sie liegt nicht im Prinzip des Staates, vor allem nicht in seinem Ursprung; denn so stammt er ja aus Gott. Auch als Menschenwerk ist er in sich etwas Gutes, ja etwas Großes und unersetzlich Kostbares. Aber gerade unsere besten Dinge sind auch der Gefahr schlimmster Entartung und furchtbaren Mißbrauches ausgesetzt, und dieser Gefahr ist in der Tat das staatliche Leben der Menschen fast nie entgangen. Daher kommen doch die furchtbaren Greuel der Geschichte, die ungerechten Kriege, die Bürgerkriege, die Gewalttaten, die Unterdrückungen, die geradezu dämonischen Aufstände gegen alles Göttliche und Geistige, die alle Jahrhunderte menschlicher Staatengeschichte erfüllen.

Wir haben schon eingesehen, daß der Staat nicht letztes Ziel und höchstes Gut ist, sondern ein bloßes Mittel, und zwar ein irdisches und zeitliches Mittel, um die Menschheit und ihre Teile auf den Boden des rechtlich geformten Zusammenseins zu versetzen und immer höher auf diesen Boden hinaufzuheben. Wenn nun der Staat oder vielmehr die Menschen, die den Staat ausmachen oder seine Machtmittel in der Hand tragen, diese Relativität vergessen und den Staat zu etwas Absolutem, zu einem letzten Sinn und Zweck unseres Daseins machen wollen, dann ist das eine Entartung des Staatsgedankens. Selbstverständlich wird diese Absicht nicht oft theoretisch und ungescheut eingestanden, aber praktisch tritt sie fast in allen Staaten der Geschichte auf. Sie äußert sich in der Lossagung der Politik von den Gesetzen der Moral, in der skrupellosen Handhabung der staatlichen Machtmittel zu Gunsten nicht des Rechtes und des Geistes, sondern des Eigennutzes einzelner Menschen und einzelner Interessentengruppen. Da wird der Staat dann zu einer Ausbeutung und Unterdrückung der großen Mehrheit der Staatsbürger. Diese Vergötzung des Staates äußert sich ferner in sinnlosem oder vielmehr egoistisch bestimmtem Eroberungsdrang gegenüber anderen Staaten, in kriegerischer Gewaltpolitik, die nicht vom wahren Wohl der Staatsbürger, sondern wiederum nur vom privaten Nutzen einzelner eingegeben ist. Sie äußert sich nach innen, gegenüber den Bürgern in einer Entrechtung des Individuums und der Persönlichkeit; besonders manche modernen Kulturstaaten der Aufklärungsperiode waren in fast unheilbarer Weise dazu geneigt, nicht nur die Fragen des rechtlichen Zusammenlebens und der irdischen Wohlfahrt, sondern auch die Fragen des gesamten Geisteslebens, ja der Gebiete des Gewissens und der Religion in ihre Hand zu bekommen und mit bloß staatlichen Mitteln zu behandeln. Die staatlichen Mittel werden auf diesem Gebiete naturgemäß zu rein materiellen, mechanischen Gewaltmitteln. So entsteht die Gefahr, daß die freie und dem Geist verpflichtete Persönlichkeit des einzelnen immer weniger Raum und Geltung besitzt, daß irgendeine Schablone, ein Einheitsphantom, eine mechanische Gleichmacherei den einzelnen Staatsbürger zu einer bloßen Nummer in der großen Masse macht. Da der Egoismus, wenn er schon einmal sich durchsetzen darf, mehr und mehr materialistische Formen, die Formen eines bloßen Mammondienstes und einer sinnlichen Genußgier annimmt, so werden die geist- und persönlichkeitsfeindlichen Bestrebungen des Staates mehr und mehr einseitig von der sogenannten Wirtschaft bestimmt und die einzelnen Staatsbürger werden immer mehr zu bloßen Arbeits- und Produktionssklaven. Ob ein solcher Staat sich dabei als Volksherrschaft oder als Diktatur eines einzelnen ausgibt, der schließliche Erfolg ist immer der gleiche: aus einem Mittel zur geistigen Befreiung und Ausreifung der einzelnen und der Gesamtheit wird ein Mittel zur Entmündigung und Unterdrückung der Masse.

Da in unserer gegenwärtigen Weltordnung das Geistige im höchsten Sinn, das Religiöse und damit auch das Allerpersönlichste und Individuellste einer eigenen Organisation, nämlich der Kirche, anvertraut ist, so entsteht notwendig in fast allen derartig ausgearteten Staaten eine heftige, leidenschaftliche Feindschaft gegen die Kirche, ein unermüdlicher und in furchtbarer Einförmigkeit der Mittel und der Wirkungen wiederholter Versuch, auch die Kirche in das Schema des staatlichen Macht- und Herrschaftswillens hineinzupressen. So hat sich, wenn wir aus der Geschichte überhaupt eine Lehre ziehen wollen, was wir doch eigentlich tun sollten, die überwältigende Tatsache ergeben, die heute wie ein Flammenzeichen an den Himmel der Kulturvölker geschrieben steht: Es gibt heute und in absehbarer Zeit nur einen unerschrockenen Anwalt der Persönlichkeit, der geistigen Freiheit, der Gewissensfreiheit, nämlich die Kirche, die es wagt, auch dem seine Rechtsgrenzen überschreitenden Machthaber zu sagen: non licet tibi, es ist dir nicht erlaubt, man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen. So vorsichtig und abwägend diese Kirche auch ist, oft bis zu einem fast erschreckenden Opportunismus, wenn es einmal darauf ankommt, wird sie sich doch immer wieder aufraffen und für die unterdrückten, die schwachen und rechtlosen Menschen und für das unterdrückte Recht, für die Persönlichkeit und den Geist ihre Stimme erheben. Es ist eigenartig: Diese Kirche ist mit ihrer scheinbaren Intoleranz, mit ihrer dogmatischen Gebundenheit, mit ihrer grundsätzlichen Unerbittlichkeit und gerade damit zum Schützer des Geistes, des Rechtes und der Liebe geworden. Wehe der Menschheit, ja wehe einem Volke, das ganz und ausschließlich in die Hände eines allmächtigen und zugleich gottlosen Staates gerät. Es wird geistig und dann auch physisch zertreten von dem »kältesten aller Ungeheuer«, wie man mit Nietzsche einen solchen Staat nennen könnte.

Wegen dieser Gefahr dürfen wir Katholiken nicht nur als Christen, sondern auch als Menschen, als freie und persönlichkeitsstolze Menschen nicht die Hände in den Schoß legen, sondern müssen mit innerer Anteilnahme und unverdrossen an dem Aufbau des staatlichen Lebens mitarbeiten, müssen immer wieder versuchen, auch in der Maschinerie, zu der das Staatsgebilde immer wieder zu werden droht, die Seele und das Gewissen und die Liebe zur Geltung zu bringen. Die Gefahr, die vom Staate droht, wird nur dort wirksam abgewehrt, wo die Staatsbürger oder der führende Teil der Staatsbürger auch über den Staat noch hinauswachsen zu etwas, das mehr ist als der Staat, mehr als Rechtsinstrument und vor allem mehr als Machtinstrument, wenn sie über den Staat hinauswachsen zur Liebesgemeinschaft des Volkes. Ein Volk ist unendlich mehr als jeder Staat, und der Staat mag sich wandeln, wie er will und soll, wenn nur das Volk lebendig erhalten bleibt. Aber unser Volk! Wo ist es und wer ist es? Auch das ist eines von den großen und heiligen Dingen, die furchtbarem Mißverstehen und Mißbrauch ausgesetzt sind und oft genug verfallen. So wollen wir uns im Angesichte Gottes noch fragen in der nächsten Sonntagsfeier - und das soll die Krönung des fünften Gebotes bedeuten - die Frage: Wer ist unser Volk?

Aus: Peter Lippert, Vom Gesetz und von der Liebe, München 1957


Peter Lippert: Dogma und Leben


Wenn du an meiner Liebe zweifelst ...

Eine Predigt zur Lesung und zum Evangelium des Sonntags Quinquagesima. Lesung: 1 Kor. 13, 1-13. Evangelium: Lk 18, 31-43.

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