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Der Gedanke des Spiegels in Jakobus (1,23) bei Leo dem Großen und Bonaventura

Von Franz Prosinger

Der Versuch, den Jakobusbrief als konsequent fortgeführten Gedankengang zu lesen[1], erfordert die Anbindung des Wortes génesis in 1,23 an die Entbindung durch das Wort der Wahrheit als Erstlingsfrucht der Geschöpfe Gottes (1,18). Parallel zum betrachtenden Erkennen des Angesichts im Spiegel steht das Sich-Hineinbeugen in das vollkommene Gesetz der Freiheit in 1,25. Es geht also um eine Geburt bzw. ein Hervorgehen der eigenen Existenz[2]. Wenn nun diesem Hervorgehen ein „Antlitz“ (tò prósôpon tês genéseôs) zugeschrieben wird, so kann es sich nicht um das Antlitz des allererst Hervorgehenden handeln[3]. Im Ursprung der menschlichen Existenz steht nicht sein eigenes Antlitz, das sich selbst betrachten würde, sondern das Antlitz dessen, der ihn ins Leben ruft. Dies entspricht der philosophischen Einsicht, dass sich das Ich als gerufenes Ich innewird. Seine Antwort in biblischer Sprache ist: hinænî, „siehe da, mich!“ (z. B. Gen 22,1). Nur Gott sagt ᵓanî hine: „Ich, hier sieh mich!“ (Gen 6,13.17). Das kontingente Ich steht zuerst im Akkusativ (frz. me voici) und wird sich im Dativ bewusst (frz. moi). Der Philosoph Ferdinand Ulrich spricht von einer Selbstwerdung durch Selbstempfängnis[4]. Im Kontext von Jak 1 kann das Antlitz, dem sich das Hervorgehen verdankt, nur das des Vaters der Lichter sein, der durch seinen Logos der Wahrheit den Menschen in eine eigene Existenz entbindet (1,17-18). Diese Zuwendung wird in Jak 1,18 durch das boulêtheís verdeutlicht: durch einen besonderen Entschluss entband er [der Vater der Lichter] uns durch den Logos der Wahrheit. Wohl im Blick auf diese Stelle schreibt Jan van Ruusbroec: „Der himmlische Vater will, dass wir sehend sind, denn er ist ein Vater des Lichtes“[5].

Offensichtlich hat man Jakobus einen solchen Gedanken nicht zugetraut. Die Übersetzungen weichen einer wörtlichen Wiedergabe aus: „der das Gesicht, das die Natur ihm gab, im Spiegel betrachtet“ (Herder-Bibel); „der sein eigenes Gesicht im Spiegel betrachtet“ (Einheitsübersetzung); „der sein natürliches Gesicht in einem Spiegel betrachtet“ (Elberfelder); Luther spricht gar von einem „leiblichen Angesicht“[6]. Der „Vorteil“ ist ein leicht eingängiger Vergleich: Da sieht jemand sein Gesicht in einem Spiegel, geht weg und vergisst, wie er aussah (1,24). Ebenso kann jemand auch ein von außen her empfangenes Wort zwar gehört, aber dann nicht umgesetzt haben (1,22). In diesem Horizont bewegen sich die Kommentare weitgehend. Nach F. Mußner, der allerdings im gesamten Text „keine gedankliche Einheit“ erkennt[7], handelt es sich um den Vergleich mit der „oberflächlichen Flüchtigkeit, mit der jemand sein Antlitz im Spiegel betrachtet“[8]. Schlatter sieht die Unzulänglichkeit der Spiegel-Metaphorik, da ein Spiegel dem Menschen zwar das Gesicht zeigen kann, das er durch seine Geburt bekam, aber nicht was er inwendig ist[9]. Frankemölle, der dem weisheitlichen Tiefgang des Textes wesentlich gerechter wird, macht auf das Verb kata-noeîn aufmerksam, das nicht nur ein äußeres Ansehen bezeichnet, sondern „mit Überlegung beschauen/betrachten/prüfen“[10]. Das Ergebnis dieses beschauenden Betrachtens ist die Erkenntnis der Wesensart (hopoîos ên 1,24). Es geht im Kontext um das „eingepflanzte Wort, das unsere Seelen zu heilen vermag“ (1,21). Das Wort der Wahrheit, das uns ins Dasein entbindet (1,18), ergeht nicht von außen her, sondern ist eingepflanzt als das „vollkomene Gesetz, das der Freiheit“ (1,25), in welches der Mensch, der sich seines Ursprungs vergewissern will, hineinbeugen (parakýpsas) soll und darin verweilen (parameínas), um aus diesem Ursprung konsequent zu leben (1,25). Das Wort vom Spiegel, in welchem das An-Gesicht des Hervorgehens aufleuchtet, kann aus diesem Kontext nicht losgelöst und nur als äußerer Vergleich abgetan werden. "In Deinem Licht sehen wir das Licht“ (Ps 36,10): das erkannte und insofern geschaffene Licht spiegelt das göttliche Licht, das sich im geschaffenen Licht verbürgt. Es geht also nicht um ein äußeres Abbild, sondern ein unmittelbares Aufleuchten. Auch nach Joh 1,4 lichtet sich das göttliche Leben des Logos im Menschen. In 2 Kor 3,18 leuchtet für uns mit unverhülltem Antlitz die Herrlichkeit des Herrn auf, so dass wir „im Spiegel Blickende“ sind (kat-optrizómenoi) und dadurch „in dasselbe Bild umgewandelt werden“. Das heißt, dass das im Spiegel aufleuchtende Bild, in dem Gott selbst sichtbar wird (vgl. Gen 1,26), zum Urbild unseres eigenen Bild-Seins wird.


[1] F. Prosinger, Das eingepflanzte Wort. Struktur und Grundgedanke des Jakobusbriefes (SBS 243, Stuttgart 2019).

[2] F. Prosinger, „Zweifache Geburt und vollkommenes Gesetz der Freiheit“ RTLu (2/2016) 397-409.

[3] Dazu H. Frankemölle, Der Brief des Jakobus, Kapitel 1 (Gütersloh 1994) 340-341.

[4] F. Ulrich, Logo-tokos. Der Mensch und das Wort (Einsiedeln 2003) 113.135.

[5] Jan van Ruusbroec, Die Zierde der geistlichen Hochzeit (Einsiedeln 1987) 153.

[6] Ebenso die verbreiteten Übersetzungen in Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch (siehe: bibliaclerusonline)

[7] F. Mußner, Der Jakobusbrief (HThKNT XIII,1; Freiburg 41981) 58.

[8] Mußner, Jakobusbrief (1981) 106.

[9] A. Schlatter, Der Brief des Jakobus (Stuttgart 1932) 149.

[10] H. Frankemölle, Der Brief des Jakobus (Ökumenischer Taschenbuchkommentar zum Neuen Testament, Gütersloh 1994) 340.

In Jak 1,23 sind das és-optron und das prós-ôpon schon etymologisch aufeinander bezogen als Hinein-Blick und An-Blick. Im Deutschen ist das Gesicht die gesammelte Sicht, so wie das Gebirge die Berge zusammenfasst. Im Griechischen ist prósôpon der ausgerichtete Blick und dies entspricht dem hebräischen panîm, das „Zuwendung“ besagt. Es geht also nicht um das von außen zu sehende Antlitz eines anderen Menschen oder das des eigenen in einem äußeren Spiegel, sondern um das ausgerichtete Sehen der Person, die wahrnimmt und als Wahrnehmende wahrgenommen werden kann. Augustinus spricht vom Erkennen Gottes als  videntem videre (Sermo 69, II 3). Auch wenn sich dies erst in der Gottesschau der Seligen ganz erfüllen wird (vgl. 1Kor 13, 12: „von Gesicht zu Gesicht“), so ist dies doch bereits jetzt die Quelle wahren Lebens: „Denn bei Dir ist der Quell des Lebens, in Deinem Licht sehen wir Licht“ (Ps 36,10). Wenn wir Gott bitten, er möge sein Gesicht über uns leuchten lassen, bitten wir, dass Sein Blick auf uns ruht, dem wir unser wahres Sein verdanken. Der Philosoph Robert Spaemann schreibt zu Psalm 31,17: „Gott ist nicht wie ein materieller Gegenstand, dem Gesehenwerden passiv ausgeliefert. Er wird nicht gesehen, Er sieht und lässt sich sehen. Und wenn Er sich sehen lässt, dann lässt Er Sein Sehen sehen, das heißt Sein Gesicht: Er schaut uns an. Gottes Gesicht sehen heißt: Das Angesehenwerden durch Ihn erfahren“[1]. Von daher versteht man die Bedeutung des Auges. Es ist das Fenster der Seele, das ausgerichtete Gesicht, das sich dem einfallenden Licht öffnet. Im Hebräischen bedeutet cajin sowohl Auge wie auch Quelle. „Die Leuchte des Leibes ist das Auge. Wenn doch dein Auge einfach wäre, so wird dein ganzer Leib licht sein“ (Mt 6,22; Lk 11,34)! 

Zum Thema „Spiegel“ in Jak 1,23 gibt es einen Artikel von Gilberto Marconi[[2]. Demnach ist der Spiegel keine Metapher, sondern ein Bildwort. Es bezeichnet in anschaulicher Weise das ursprüngliche Aufleuchten oder Erscheinen in einem Anderen. Marconi bezieht sich auf eine Untersuchung von R. Reitzenstein, die der Verwendung von „Spiegel“ in diesem Sinn bei den Gnostikern nachgeht. Es war im Sprachgebrauch der damaligen Zeit durchaus möglich, mit dem Spiegel die pneumatische Erkenntnis und das innere Gesetz zu bezeichnen[3]. Für den biblischen Sprachgebrauch kann man auf Weish 7,26 verweisen, das vielleicht gar nicht so lange Zeit vor dem Jakobusbrief formuliert worden ist: dort ist die sich mitteilende und sich uns bräutlich verbindende Weisheit „ein Widerschein des ewigen Lichtes und ein fleckenloser Spiegel der Wirkkraft Gottes und Bild seiner Gutheit“. Derselbe Gedanke und dasselbe Wort apaúgasma ist in Heb 1,3 aufgegriffen: im Sohn Gottes, der zu uns gesprochen hat, leuchtet die Lichtherrlichkeit des göttlichen Wesens (dóxa) auf als ein Widerschein.


[1] Spaemann, Meditationen eines Christen. Über die Psalmen 1-51 (Stuttgart 2014) 248.

[2] G. Marconi, „Una nota sullo specchio di Gc 1,23“ Biblica 70,3 (1989) 396-402.

[3] Marconi (1989) 397.

Dritte Folge

Nun soll nun an zwei Beispielen gezeigt werden, dass sich das Bildwort vom „Spiegel“ in Jak 1,23 und sein spezifischer Kontext auch in der Tradition der Kirchenväter und Kirchenlehrer finden. Dabei handelt es sich nicht um ein bewusstes Aufgreifen der Jakobusstelle – im Gegenteil: die damals übliche isolierte Betrachtungsweise der Bibelstellen, ohne Kenntnis der rhetorischen Struktur mit ihren Themenankündigungen und Inklusionen, konnte das „Antlitz des Hervorgehens“ bei Jakobus nicht aus dem Argumentationsgang erklären und somit auch den dortigen Spiegel nicht als Bildwort für das Aufleuchten des Logos der Wahrheit erkennen. Umso wertvoller ist deshalb der Hinweis, dass verschiedene Denker unabhängig voneinander denselben Gedanken fassen und mit demselben Bildwort bezeichnen können.

Der Spiegel des göttlichen Lichtes bei Leo dem Großen

Zunächst sei ein Text aus der zwölften Ansprache Leos des Großen zum Fasten im zehnten Monat, dem Monat Dezember, zitiert:

... inveniemus hominem ideo ad imaginem Dei conditum, ut imitator sui esset auctoris: et hanc esse naturalem nostri generis esse dignitatem, si in nobis, quasi in quodam speculo, divinae benignitatis forma resplendeat. ... ad imaginem suam reparat: et ut in nobis formam suae bonitatis inveniat, dat unde ipsi quoque quod ipse oreratur operemur, accendens scilicet mentium nostrarum lucernas, et igne nos sui caritatis inflammans, ut non solum ispum, sed etiam quidquid diligit, diligamus (Sermo 12, de ieiunio decimi mensis 1).

„Wir finden den Menschen aus dem Grund zu einem Bild Gottes geschaffen zu sein, damit er ein Nachahmer seines Urhebers sei“. Im ersten Kapitel des Jakobusbriefes findet sich zwar nicht der Begriff des Bild-Seins, aber diese grundlegende biblische Beziehung zwischen Gott und Mensch nach Gen 1,26 liegt der Argumentation zugrunde. Aus freiem Willen, durch einen besonderen Beschluss (boulêtheís), ruft der Vater der Lichter den Menschen durch den Logos der Wahrheit ins Leben und entbindet ihn in eine relativ eigenständige Existenz als Erstlingsfrucht seiner Geschöpfe (1,18). Das heißt, dass der Mensch am schöpferischen Wirken Gottes teilnimmt. Schon nach Jak 1,3 ist dem Menschen eröffnet, an einem „vollkommenen Werk“ teilzunehmen, das wie jede „vollkommene Gabe“ nur vom Vater der Lichter herabsteigen kann (1,17). Es geht also um eine bewusste und mit-verantwortliche Teilnahme am Leben Gottes als eine Sichtbarwerdung Gottes in der Schöpfung. Dies entspricht dem Wort, das sich aus dem ersten Schöpfungsbericht von den Schöpfungsanweisungen in Gen 1,3-25 abhebt: „Lasst uns das Menschenwesen machen als unser Bild, uns ähnlich“ (1,26). Karl Barth kommentiert diese Stelle als „ein Gespräch Gottes mit sich selbst, eine Beratung wie zwischen mehreren göttlichen Beratern und eine darauf begründete göttliche Beschlussfassung“[1].

Ein Bild Gottes kann der Mensch nur sein, indem er den Unsichtbaren sichtbar werden lässt, nicht als ein äußeres Abbild, da Gott nicht aussieht. Es geht um eine innere Übereinstimmung, eine Teilnahme am Wesen der göttlichen Güte, wie Leo sagt (forma benignitatis suae). Diese leuchtet gleichsam auf wie in einer Art von Spiegel. Mit dieser vorsichtigen Formulierung soll die Vorstellung eines nur äußeren Spiegels abgewiesen werden, aber doch das Bildwort vom Spiegel als Aufleuchten eines Lichtglanzes gelten. In der Befähigung, den Glanz der göttlichen Güte wie in einem Spiegel aufleuchten zu lassen und zu empfangen, sieht Leo die natürliche Würde der menschlichen Natur. Diese Befähigung ist Gabe und Aufgabe zugleich: sie befähigt und beauftragt, Nachahmer seines Urhebers zu sein. [Jakobus erwähnt Gen 1,26 in anderem Kontext nebenbei: „die Menschen, die geworden sind nach Gottes Ähnlichkeit“ (3,9). Anders als Sir 17,3, wo nur das Bild-Sein des Menschen erwähnt wird, betont Jakobus die Ähnlichkeit, das heißt die Übereinstimmung.] Es geht nicht nur um eine Vorgabe und eine äußere Nachahmung, sondern ein wirkliches Sichtbarwerden, ein Aufleuchten des göttlichen Wesens und damit auch um die Befähigung, an diesem Wesen teilzunehmen und es nachahmend zu leben.

Um dies zu ermöglichen, entzündet nach Leo Gott die Leuchten unseres Bewusstseins. mens meint hier, wie es das entsprechende Verb memini nahelegt, das Eingedenk-Sein, den Gedanken, das Bewusstsein[2]. Es geht nicht nur um das Verstehen von etwas Äußerem und Gegenüberstehenden, die bloß faktische Evidenz eines Gegen-Standes, der sich selbst in seiner bloß äußeren Erscheinung nicht verbürgen kann. Wenn Gott selbst die Leuchten unseres Eingedenk-Seins entzündet, so dass das Wesen seiner Güte aufleuchtet und sich in diesem Aufleuchten verbürgt, so schenkt er eine unmittelbare Gewissheit. Da diese aus dem Ursprung kommt und in den Ursprung hineinnimmt, kann man sie als genetische Evidenz bezeichnen. R. Lauth nannte sie auch „doxische Evidenz“, da in ihr die Lichtherrlichkeit Gottes aufleuchtet und sich in dieser Evidenz manifestiert[3]. In diesem Sinn spricht der Jakobusbrief vom erkennenden und verweilenden Blick in das An-Gesicht des Hervorgehens in einem Spiegel. Leo erwähnt noch einen zweiten Aspekt: Gott entflammt uns mit dem Feuer seiner Liebe. Licht und Feuer bzw. Flamme sind einander ergänzende Bildworte, die die Aspekte des Sehens und des Liebens zum Ausdruck bringen. Da von einer unmittelbaren Evidenz die Rede ist, ist die Unterscheidung zwischen kognitiver und affektiver Erkenntnis freilich nur nachträglich. amor ispe oculus, sagt Richard von St. Viktor: die Liebe lässt sehen und das Sehen lieben. Wenn die erste Vorgabe der ergreifenden und erleuchtenden Evidenz entsprechend beantwortet wird, führt die Liebe zu tieferer Erkenntnis und diese wiederum zu größerer Liebe, zu vollkommener Übereinstimmung im Denken und Wirken, so dass wir nach Leo „nicht nur Ihn, sondern auch alles, was Er liebt, lieben“.


[1] K. Barth, Die Lehre von der Schöpfung in: Die kirchliche Dogmatik III/2 (Zürich 1948) 204.

[2] Etymologisch findet sich das Wort noch im deutschen Wort „Minne“, dem liebevollen Eingedenk-Sein.

[3] R. Lauth, Begriff, Begründung und Rechtfertigung der Philosophie (Regensburg 1967).

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