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Michelangelo und die Sixtinische Kapelle Von Ludwig Pastor Vor 500 Jahren malte Michelangelo im Auftrag des Papstes die Decke der Sixtinischen Kapelle aus. Papst Julius II. (1503 - 1513) war ein Renaissancepapst und damit das, was man heute einen auf der Höhe der Zeit stehenden, der Welt gegenüber aufgeschlossenen Kirchenmann nennen würde, der aber in Wirklichkeit das Ideal eines guten Hirten nur noch äußerst fragmentarisch verwirklichte. In seiner Papstgeschichte schreibt Ludwig Pastor darüber und berichtet, dass er Michelangelo im März 1508 von Florenz nach Rom rief: “Es gereicht Julius II. zur Ehre, daß er sich selbst wieder vergaß und den Künstler bei Werken höherer Natur beschäftigte” (Urteil von Gregorovius VIII3, 147). Michelangelo, der nur mit dem Meißel in der Hand das Vollgefühl seiner Meisterschaft hatte, leistete anfangs Widerstand, das Malen sei nicht sein Handwerk. Allein der eiserne Wille des gewaltigen Papstes nötigte den Händen, die nur Marmor zu bearbeiten begehrten, den Pinsel auf. Nachdem Michelangelo den Auftrag Julius’ II. angenommen, ward ein Vertrag abgeschlossen, dem zufolge der Künstler für 3000 Dukaten die mittlere Wölbung der Sixtinischen Kapelle ausmalen sollte. Michelangelo, der am 10. Mai vom Papste einen Vorschuß von 500 Dukaten empfing, ging alsbald mit seinem gewohnten Eifer an das Entwerfen der Cartons. Der erste Entwurf zeigte nach der eigenen Angabe des Künstlers die zwölf Apostel in den Lunetten (Gewölbezwickeln), und im übrigen ein gewisses Feldersystem mit Ornamenten angefüllt, wie das so üblich ist. Schon im Mai wurde das Gerüst angeschlagen; an der Vigil des Pfingstfestes (10. Juni) war die Kapelle so mit Staub und Lärm gefüllt, daß die Kardinäle kaum den Gottesdienst halten konnten. Inzwischen hatte Michelangelo noch größere, sich an die bereits vorhandenen Fresken der Kapelle anschließende Pläne für seine Malerei gefaßt. Der kunstsinnige Papst stimmte der vorgeschlagenen großartigen Erweiterung sofort zu. Im Sommer ward ein neuer Vertrag abgeschlossen. Der ganze Deckenraum bis zu den Fenstern sollte mit Bildern bedeckt und deshalb die Vergütung auf das Doppelte, 6000 Dukaten, erhöht werden. Der zu malende Stoff ward dem Künstler gänzlich freigestellt. Dieser sah sich nun nach Gehilfen um, bestellte die Farben und begann wahrscheinlich im Spätherbst des Jahres 1508 an der Wölbung zu malen. Dem Papste lag die Sache so am Herzen, daß er Michelangelo einen kurzen Urlaub zu einer Reise nach Florenz verweigerte. Am 27. Januar 1509 klagte der Künstler seinem Vater, die Arbeit gehe nicht vorwärts, er habe die Gehilfen als untauglich entlassen müssen. So kam es, daß das Riesenwerk nicht nur im Entwurf, sondern auch in der Ausführung fast ganz Michelangelo’s eigenhändige Arbeit wurde. Er hatte dabei anfangs noch in der Freskotechnik seine Erfahrungen zu machen. Dazu kamen Streitigkeiten des selbstbewußten, heftigen Künstlers mit dem ungeduldigen Papste. Aber zuletzt fanden sich die beiden Männer, die in ihrem hochsinnigen Charakter und leidenschaftlich reizbaren Naturell innerlich so sehr verwandt waren, stets wieder. “Mit Anspornen und Nachgeben, mit Streit und Güte erhielt Julius II., was vielleicht kein anderer von Michelangelo erhalten hätte” (Burckhardt, Cicerone 644). Im Juni 1509 sah der römische Kanonikus Albertini die angefangenen Malereien der Mittelwölbung. Nachdem Michelangelo im Winter 1509 auf 1510 mit Anspannung aller seiner Kräfte gearbeitet, nahm er im Mai zu seiner Erholung einen kurzen Urlaub, den er in Florenz verbrachte. So rasch der Meister auch malte, so ging dem ungeduldigen Papste die Arbeit dennoch nicht schnell genug voran. Julius kam selbst auf das Gerüst, auf Leitern hinaufsteigend, so daß Michelangelo ihm die Hand reichen mußte, damit er die letzte Höhe erkletterte. Hier reizte er den Künstler durch Fragen, ob er bald fertig werde. Allein in der nächsten Zeit nahmen die Kämpfe für die Unabhängigkeit des Papsttums und die Befreiung Italiens von den Franzosen die ganze Kraft des gewaltigen Greises in Anspruch. Schon am 17. August 1510 hatte Julius II. Rom verlassen; am 1. September brach er gegen Bologna auf, wo er dann in die größte Bedrängnis geriet. An Förderung der Kunst konnte jetzt nicht mehr gedacht werden. Bereits im September stockten die Zahlungen. Michelangelo war ohne Geld und wußte nicht, was er tun sollte. Zuerst schrieb er an den Papst; Ende September entschloß er sich, selbst nach Bologna zu gehen. Im Oktober war er wieder in Rom, wo ihm der Datar Lorenzo Pucci auf Befehl Julius’ II. 500 Dukaten auszahlte. Dann erfolgte aber wieder eine Stockung der Zahlungen. Infolgedessen machte sich Michelangelo zum zweitenmal auf den Weg zum Papste und erreichte seinen Zweck. “Vorigen Dienstag”, schrieb er am 11. Januar 1511 von Rom aus an seinen Bruder, “bin ich glücklich wieder angekommen, und das Geld ist mir ausbezahlt worden.” Anliegend sende er einen Wechsel über 228 Dukaten. Aber schon Ende Februar fehlte es inmitten der Kriegsnöten des Papstes wieder an den versprochenen Geldern. “Ich glaube,” schreibt er am 23. Februar an seinen Bruder, “daß ich binnen kurzem noch einmal nach Bologna werde zurück müssen; denn der Datar des Papstes, mit dem ich von dort kam, versprach mir, als er von hier zurückging, er werde dafür Sorge tragen, daß ich fortarbeiten könnte. Nun aber ist er schon einen Monat fort, und ich höre kein Wort von ihm. Ich will es diese Woche noch abwarten, dann aber, wenn nichts dazwischen kommt, gehe ich nach Bologna ab und komme bei euch durch. Teile es dem Vater mit.” Die Reise konnte jedoch unterbleiben. Michelangelo bekam Geld und nahm die Arbeit wieder auf. Unter solchen Schwierigkeiten ging das große Werk seiner endlichen Vollendung entgegen. In der kurzen Zeit von 22 Monaten (November 1508 bis August 1510), die Unterbrechungen abgerechnet, war die Ausmalung der gesamten Mittelwölbung zu Stande gebracht. Aber mit welch übermenschlicher Anstrengung! Schon der Umstand war für Michelangelo sehr lästig und ermüdend, daß er Tag für Tag auf dem Rücken liegen mußte, während die Farbe ihm ins Gesicht herabtropfte. Basari erzählt, wie die Augen des Künstlers sich so sehr daran gewöhnt hatten, über sich zu blicken, daß er geraume Zeit nachher Geschriebenes in die Höhe halten mußte, um es mit zurückgebeugtem Kopfe zu lesen. In einem an Giovanni da Pistoja gerichteten Sonette beschreibt Michelangelo mit derbem Humor die Anstrengungen der Gewölbemalerei:
Um die heroische Leistung des Künstlers zu würdigen, muß man sich erinnern, daß die zu bemalende Decke mehr als 10.000 Quadratfuß maß, daß sie durch Kurven, Lunetten usw. die größten Schwierigkeiten darbot. Auf diese Fläche zauberte der Meister 343 Figuren in allen nur möglichen Stellungen, Wendungen und Verkürzungen, einige zwölf Fuß hoch, die Propheten und Sibyllen fast achtzehn Fuß hoch, jede einzelne mit der größten Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit ausgeführt [1]. “Bis zum Haupt- und Barthaar, bis zu den Nägeln der Finger, den schwieligen Falten der Fußsohlen ist alles mit der staunenswerten Naturtreue des fünfzehnten Jahrhunderts und zugleich mit dem großen ruhigen Stilgefühl der vollendeten Kunst durchgeführt” (Lübke II, 117, welcher an die nicht minder bewunderungswerte Vollendung der Pantheonskulpturen erinnert). Die Fertigstellung des Hauptteiles der Malereien fiel zusammen mit der größten Krisis im Pontifikat Julius‘ II. Der Kirchenstaat stand den siegreichen Franzosen offen, welche den Papst nun auch auf geistlichem Gebiet durch ein Konzil bedrohten. Krank und machtlos, aber dennoch ungebeugten Mutes war Julius am 27. Juni des Jahres 1511 in seine Residenz zurückgekehrt. Am Vorabend von Mariä Himmelfahrt, dem Patronatsfeste der Sixtinischen Kapelle, erschien er dort zur Vesper und sah die nun endlich enthüllten Fresken seines großen Meisters die ganze Mittelwölbung, d. h. das ganze architektonische Gerüst, die Geschichten und Einzelfiguren, ein in sich abgeschlossenes Ganzes [2]. Mitte August 1511 begann Michelangelo die Kartons für die noch übrigen Teile, die Zwickel- und Lunettenbilder. Ende September hatte er zwei Audienzen beim Papst. Nach der letzten wurden ihm 400 Dukaten ausbezahlt (Frey, Studien 101). Im Mai des folgenden Jahres 1512 war wieder Geldmangel eingetreten. Kein Wunder angesichts der politischen Lage. Michelangelo drohte damals dem Kardinal Bibbiena mit seiner Abreise, worauf dieser die Zahlung von 2000 Dukaten erwirkte (Lettere di Michelangelo 428). Im Juli war der Künstler in vollster Arbeit: seine Briefe verfaßte er nachts. “Ich habe mehr Mühe zu tragen”, schrieb er am 24. Juli 1512, “als je ein Mensch getragen hat. Auch fühle ich mich unwohl. Trotzdem will ich geduldig ausharren, um zum ersehnten Ende zu gelangen.” Kurz vorher hatte der Künstler auf dem Gerüste dem Herzog Alfonso von Ferrara seine Arbeit gezeigt, von demselben Worte höchster Anerkennung vernommen und den Auftrag zu einem Gemälde erhalten. Im Oktober konnte Michelangelo endlich seinem Vater melden, daß sämtliche Malereien in der Sixtina beendet und daß der Papst in hohem Maße zufriedengestellt sei. Demütig bezeichnete der tief religiöse Meister seine gewaltige Arbeit nicht mit seinem Namen, sondern gab durch eine neben dem Propheten Jeremias angebrachte Inschrift die Ehre Gott, dem Alpha und Omega, durch dessen Hilfe das Werk begonnen und vollendet wurde (Steinmann hat die Inschrift zuerst gedeutet im Repertorium für Kunstwissenschaft XVII, 178). Am Vorabend von Allerheiligen (31. Oktober) erfolgte die Enthüllung “der gewaltigsten Schöpfung, welche jemals Farbe und Pinsel zu Stande gebracht haben” [3]. Das Werk rief einen Sturm des Enthusiasmus hervor sowohl durch die ideale Größe der Kompositionen als durch die Vollendung in der Zeichnung und der Plastik überhaupt (Gregorovius VIII3, 152). Hochbefriedigt konnte der schon dem Grabe zuwankende Papst in der von ihm zu einem Heiligtume der Kunst erhobenen Kapelle noch ein Hochamt halten: es war der schönste Abschluß seines dem Großen und Erhabenen geweihten Pontifikates. Vier Jahrhunderte sind bald seit der Enthüllung der Deckenmalereien der Sixtina verflossen. Kerzenrauch hat sie geschwärzt, die Zeit hat Risse hineingesprengt, die Farbe ist vielfach verblaßt: aber der Eindruck ist doch noch heute ein überwältigender. "Im koloristischen Sinne war das Werk unzweifelhaft von Anfang an nicht gedacht, die Zeichnung sollte auch hier in erster Linie wirken, und sie wirkt noch heute mit einer Wucht und innern Wahrheit, die bei ihrem Anschauen eine Weile vergessen lassen, daß es andere der Betrachtung werte Werke auf der Erde gibt" (Woltmann-Woermann II, 586. Vgl. Burckhardt, Cicerone 666, und Szécsen, Rafael 559). [Ab 1980 wurden die Deckenfresken restauriert. Dabei stellte sich heraus, dass sie von einer ungeahnte, teilweise sogar schillernden Farbigkeit geprägt sind. Auf der Website des Vatikanstaats heißt es dazu unter anderem: "Bei den Restaurierungsarbeiten ist ein ganz neuer, in Vergessenheit geratener Michelangelo zum Vorschein gekommen. Kerzenruß und auch Restaurierungen (diese bestanden in den vergangenen Jahrhunderten aus Neuübertragungen und dem Auftragen 'belebender' Farben, die aber in der Folgezeit die Malereien noch trüber wirken ließen) hatten die Oberfläche geschwärzt. Aus diesem Grund war man in der Vergangenheit der Meinung, dass Michelangelo mehr Wert auf die Zeichnung als auf die Farben lege. Im Zuge der Reinigung hat man viele Seiten der kunsthistorischen Kritik, die den Künstler betrafen, korrigieren oder vollständig neu schreiben müssen. In der Tat erscheinen die 'wiedergefundenen' Farben hell, lebhaft und strahlend und sind mit großer malerischer Erfahrung nebeneinandergesetzt."] Großartig wirkend, kühn und neu war schon die Art und Weise, wie der Meister der kahlen und schmucklosen Decke durch die Farbe eine reiche architektonische Gliederung gab, die an sich nicht ohne Willkür erscheint, aber seinen Zwecken sich trefflich fügt. "Die steinerne Wölbung schwindet; eine neue Architektur baut sich unmittelbar von der wirklichen aus in die freie Luft hinein; von Postament zu Postament laufen Bogen, und zwischen den Bogen sieht man entweder Teppiche aufgespannt, oder den freien Himmel, in welchem die Gestalten zu schweben scheinen" (G. Warnecke in seinem bemerkenswerten Aufsatze über die Deckenmalereien Michelangelo's in der Lützow'schen Zeitschrift 1891, N. F. II, 301). Inhaltlich schloß sich der Meister auf das engste an die Wandfresken aus der Zeit Sixtus‘ IV. und damit an die seit dem Mittelalter in der Kirche übliche Dreiteilung des Erlösungswerkes an. Man unterschied die Zeit vor und nach dem Gesetz (das Alte Testament), welchem gegenübergestellt wurde das durch Christus gegründete Reich der Gnade. Die linke Seite war bereits durch Darstellungen aus dem Leben Moses‘, aus der Zeit unter dem Gesetz geschmückt, während auf der rechten Seite das Leben Christi, das Reich der Gnade geschildert war. Es fehlten also noch Ereignisse der Zeit vor dem Gesetz, von der Schöpfung bis zur Sündflut. Diese Geschichten, wie sie in der Genesis erzählt sind, stellte Michelangelo auf den großen flachen Mittelstreifen der Decke in vier größeren und fünf kleineren viereckigen Feldern dar. Die Tatsache der Schöpfung, wie sie die Offenbarung lehrt, der unmittelbar zur Tat werdende göttliche Wille, das Wort der Heiligen Schrift: ‚Es werde, und es ward‘, hat weder vorher noch nachher eine gleich geniale und großartige künstlerische Darstellung gefunden wie hier. Der Beschauer fühlt sich gleichsam wie vom Sturmeshauche jener Tage angeweht, da der Ewige durch sein allmächtiges Wort ‚Himmel und Erde‘, die geistige und die körperliche Natur aus nichts ins Dasein rief. "Zuerst unter allen Künstlern faßte Michelangelo die Schöpfung nicht als ein bloßes Wort mit der Gebärde des Segens, sondern als Bewegung. So allein ergaben sich für die einzelnen Schöpfungsakte lauter neue Motive" (Burckhardt, Cicerone 643). Himmel und Erde, die Welt der Geister und die Materie ruft Gott, zuerst allein erscheinend, ins Dasein. Licht und Finsternis scheidet er: die Nacht entflieht vor seinem Machtwort. Von Engeln, die aus demselben Mantel umherblicken, begleitet, schwebt der Vater durch die Räume des Weltalles, die Erde mit ihrem Leben, den Pflanzen und Tieren, erschaffend (Die hier gegebene Deutung der ersten drei Deckenbilder weicht allerdings von der bisher üblichen ab, scheint mir aber, weil unmittelbar an die Worte der Genesis anknüpfend, wahrscheinlicher und auch den Bildern entsprechender). "Aber der höchste Augenblick der Schöpfung und der höchste Michelangelo’s ist die Belebung Adams." Umschwebt von einer Heerschar himmlischer Geister "nähert sich der Allmächtige der Erde und läßt aus seinem Zeigefinger den Funken seines Lebens in den Zeigefinger des schon halbbelebten ersten Menschen hineinströmen. Es gibt im ganzen Bereiche der Kunst kein Beispiel mehr von so genialer Übertragung des Übersinnlichen in einen völlig klaren und sprechenden sinnlichen Moment. Auch die Gestalt des Adam ist das würdigste Urbild der Menschheit" (Burckhardt, Cicerone 643 [...] "Soweit es sich um künstlerische Darstellung handelt," sagt Warnecke in Lützow's Zeitschrift N. F. II, 303, "hat Michelangelo die einzige richtige Lösung des großen Rätsels, des der Wissenschaft ewig Unerklärlichen, der Schöpfung, gefunden." Alle späteren Künstler, von Raffael angefangen, zeigen den Einfluß der von Michelangelo geschaffenen Majestät des mit 'elementarer Urgewalt' ausgestatteten Weltenschöpfers. Cornelius sagte bekanntlich, daß seit Phidias dergleichen nicht mehr gebildet worden sei.). In gleicher Weise vollendet ist die Erschaffung der Eva dargestellt. Ein heiliger, gebieterischer Ernst weht dem Beschauer entgegen. Adam liegt in tiefem Schlummer. Gott steht vor ihm, und schon erhebt sich Eva, schon steht sie auf einem Fuße, das andere Knie ist noch gebogen. Man sieht gleichsam, wie sie sich durch die Kraft des Schaffenden erhebt, dem sie die gestalteten Hände entgegenstreckt, dankend für das Geschenk des Lebens (Stolberg, Reise I, 436). In allen diesen Schöpfungsbildern ist nur das Allernötigste zur Bezeichnung der Situation angedeutet. Nichts unterbricht die Haupthandlung, kein Beiwerk lenkt ab. Nicht minder gewaltig, einfach, ergreifend sind die nun folgenden Szenen aus dem Leben der ersten Menschen, vor allem der Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradiese Schuld und Strafe in einem Bilde. In der Mitte der Baum der Erkenntnis, von welchem der Versucher (eine Schlange, die oben zu einem Weibe wird) der verlangenden Eva die verbotene Frucht reicht. Von erschütternder Wirkung ist, wie unmittelbar hinter dem Rücken des Dämons der Racheengel blitzähnlich hervorbricht und die Schuldbewußten aus dem Paradiese verweist, nach welchem die verzweiflungsvoll in ihre goldenen Haare greifende Eva noch einen letzten, sehnsüchtigen Blick zurückwirft (S. Kugler-Burckhardt II, 531. Grimm I5, 345-346, Büttner 64 f. und Müntz, Hist. De l’Art III, 479). Ergreifende Szenen bietet die große Komposition von der Sündflut, deren Schrecken der Künstler mit vollster Meisterschaft entrollt [4]. Figurenreichtum zeichnet die Opferszene aus, welche wohl das Opfer Abels und Kains versinnlicht. Noah und seine Söhne schließen die unvergleichliche Kette. Die neun Mittelbilder gleichen Teppichen, welche an dem gemalten architektonischen Gerüst der Decke ausgespannt scheinen: sie sind der erste und hauptsächlichste Teil des Gewölbeschmuckes. Den zweiten bilden die an den sich abwärts rundenden Teilen des Gewölbes dargestellten zwölf Gestalten der Propheten und Sibyllen, je fünf an den Langseiten, je eine an den Schmalseiten, alle in kolossaler Größe Riesengeister wollen Riesengestalten. Diese großartigen Gewandfiguren ("Gleichsam plastische Gedanken" nennt sie Lübke, Geschichte der Plastik 720) gleichen erhabenen Geistererscheinungen und doch sind sie so fest umrissen dargestellt, als wären sie in Stein gehauen. Sie thronen auf mächtigen Marmorsesseln, deren Lehnen das ganze Deckengerüst zu tragen scheinen. Dienende Genien begleiten die Verkünder des Messias für Juden- und Heidentum, die teils in Bücher und Schriftrollen vertieft die Zukunft erforschen, teils sie begeistert verkünden. Das geistige, tiefinnerliche, im Erforschen, Schauen und Verkünden des erwarteten Heils versunkene Leben der ‚in die Geheimnisse Jehovahs Eingeweihten‘ (Amos 3, 7) ist hier mit einer Vollendung ausgedrückt, welche die antike Kunst nicht zu ahnen, die neuere nie mehr zu erreichen vermochte (Molitor 255). Nur die herrlichsten dieser Gestalten sollen hier gewürdigt sein. Die delphische Sibylle scheint die Erfüllung ihrer Weissagung bereits vor sich zu sehen; tiefe Begeisterung entstrahlt den Augen dieser mächtigen und doch anmutigen Gestalt. "Isaias liest im Schicksalsbuche der Welt. Seine Stirn scheint die Kurve einer Himmelssphäre zu sein, eine Gedankenurne, wie die Gipfel der hohen Gebirge die kristallenen Urnen sind, aus denen die großen Flüsse entspringen. Der Engel ruft ihn, und er erhebt das Haupt sanft gen Himmel, ohne den Blick von dem Buche zu wenden, als schwebe er zwischen Unendlichkeiten. Jeremias ist in Sack und Asche gehüllt, wie es sich für den Propheten ziemt, der sich in die Nähe von Jerusalem verirrte. Seine Lippen beben gleich der Posaune der Eroberer. Sein Bart reicht, ineinander gewirrt, bis auf die Brust herab. Das Haupt ist geneigt wie der Wipfel einer vom Blitze gespaltenen Zeder; die Augen sind halb geschlossen, und in ihren Tiefen wogt ein Meer von Tränen. Die Hände scheinen stark, aber sie sind geschwollen, weil sie die wankenden Mauern des Tempels stützen. Man sieht, daß ihn die Klagen der Elegien der Söhne Israels umschweben, die an den Ufern des fremden Flusses als Sklaven weilen, das andauernde Wehklagen der Herrin unter den Nationen, die jetzt vereinsamt und trostlos ist gleich einer Witwe. Schau, wie erregt Hesekiel ist! Sein Geist beherrscht ihn. Er spricht mit seinen Visionen, als sei er von göttlicher Ekstase ergriffen. Daniel ist eifrig mit Schreiben beschäftigt; er muß der Welt die Züchtigung der Tyrannen und die Hoffnungen der Guten erzählen. Das Bewunderungswürdigste an diesen riesigen Figuren, an denen man sich nie satt sehen kann, ist, daß sie nicht bloß Dekorationen eines Saales, Verzierungen einer Kapelle sind, sondern Menschen, ja Menschen, die unsere Schmerzen erlitten haben und von Dornen verwundet wurden, welche die Erde trägt; die Stirne von den Runzeln des Denkens gefurcht und das Herz von der Kälte der Täuschung erstarrt; welche die Kämpfe gesehen haben, in denen ganze Generationen verschwinden; welche auf ihre Häupter den Nebel des Todes fallen sahen und mit ihren Händen eine neue Ordnung der Gesellschaft vorzubereiten suchten; die Augen geschwächt, fast erblindet von der fortwährenden Betrachtung der veränderlichen und wechselvollen Erscheinungen der Zeiten, das Fleisch verbrannt vom Feuer der Ideen" [5]. Einzelne dieser "gewaltigsten Gestalten, welche die Kunstgeschichte kennt", wie die libysche Sibylle, die Propheten Daniel und Jonas, gehen vielleicht über die Grenze ungezwungener und schöner Beweglichkeit hinaus: allein die meisten halten bei aller Majestät der Formen und bei aller Erregtheit ihrer Bewegungen doch noch das Maß harmonischer Schönheit ein [6]. Wer den Meister hier tadeln will, möge die Schwierigkeit der Aufgabe bedenken. Diese war: "zwölf Wesen durch den Ausdruck höherer Inspiration über Zeit und Weltlichkeit in das Übermenschliche emporzuheben. Die Gewaltigkeit ihrer Bildung allein genügte nicht; es bedurfte abwechselnder Momente der höchsten geistigen und zugleich äußerlich sichtbaren Art. Vielleicht überstieg dieses die Kräfte der Kunst" (Burckhardt, Cicerone a. a. O.). Mit den großartigen Gestalten der Propheten und Sibyllen steht in enger Verbindung eine Reihe schlichter Familienszenen: die ‚Vorfahren Christi‘, welche in den Bogenfeldern der Wand und in den Dreiecken der Stichkappen dargestellt sind. In ernstem, melancholischem Sinnen harren diese tief empfundenen Gestalten erwartungsvoll auf die Verheißung der Völker. Bei diesem Stammbaum Christi wie bei den Sibyllen und Propheten folgte Michelangelo der Auffassung der mittelalterlichen Kunst. An diesen dritten Gemäldezyklus reihen sich als vierter die vier großen Zwickelbilder an den Ecken des Gewölbes. Es sind hier die wunderbaren Errettungen des Volkes Israel als Vorbilder der Erlösung geschildert: Die Tötung Goliaths, Judiths Heldentat, Amans Bestrafung und das Wunder der ehernen Schlange. Letztere Darstellung mit dem ergreifend ausgesprochenen Gegensatz von Rettung und Verderben ist eine der herrlichsten des ganzen Deckenschmuckes. "Bewunderungswürdigeres als die Zusammendrängung und klare Sonderung dieser von dämonischer Furcht und begeisterter Zuversicht erfüllten, durch das rettende Symbol geistig und räumlich getrennten Gruppen auf einer Bildfläche von gleich ungünstiger, aber ebendeshalb den Genius herausfordernder Beschaffenheit hat Michelangelo kaum hervorgebracht" (Urteil von Lützow, Kunstschätze 439. Grimm I5, 353 f. schildert eingehend die Darstellung des Goliath und der Judith, um zu zeigen, mit welcher Kunst Michelangelo auch das eigentlich Historische aufzufassen weiß). In diesen vier Gemäldezyklen fügte der Meister in staunenswerter Erfindungskraft noch “eine Welt von rein idealen Bildungen, welche nichts anderes sind als ein edler Schmuck für das ersonnene Prachtgerüst, die lebensvolle Verkörperung der architektonischen Glieder” (Lübke II, 101. Vgl. Lützow a.a.O. 440 und namentlich Burckhardt, Cicerone 642 f., über diese “belebten, persönlich gewordenen Kräfte der Architektur”). Michelangelo beabsichtigte bei der Gesamtanordnung offenbar die Nachahmung einer Festdekoration, wie man sie im Zeitalter der Renaissance auch bei religiösen Feierlichkeiten aufzustellen pflegte. Die Fülle dekorativer Gestalten, welche Michelangelo teils unten in den Zwickelenden als Träger von Namensschildern der Propheten und Sibyllen, teils als Füllfiguren über den Bogenzwickeln in mannigfach bewegter Haltung, teils endlich als Träger oder Bekrönungen einzelner Teile der gemalten Architektur anbrachte, entsprechen den bei solchen Festdekorationen als lebende Bilder aufgestellten Persönlichkeiten. Alle diese unbekleideten Figuren, die derben Kinder und prächtigen Jünglinge, sind in die engste Beziehung zum architektonischen System gesetzt als Gesimsträger, Inschriftenträger, Halter von Schildern, Draperien oder Girlanden. Keine dieser Figuren erscheint in gewöhnlich ruhiger Haltung, alle sind vielmehr in aufgeregter Mittätigkeit; aber ohne Beziehung zum Inhalt der Gemälde dienen sie nur zum Festschmuck [7]. So sehr man diese unbekleideten Gestalten vom rein künstlerischen Standpunkte bewundern muß, so erscheinen sie doch in einer Kapelle für manches Auge verletzend [8]. Der geistige Inhalt der sixtinischen Deckenmalereien Michelangelo’s steht auf der gleichen Höhe mit der künstlerischen Darstellung. Sie sind gleichsam eine Riesendichtung in Farben über den langen Weg, der aus der Schöpfungshöhe zur Erlösungsbedürftigkeit und zur ersten Morgendämmerung des Erlösungstages führt. Ihre stumme Sprache besitzt eine Beredsamkeit ohne gleichen. Das Alte Testament als die Vorbereitung zum Neuen, ewigen ist wohl nie mehr mit so viel Wahrheit und Schönheit dargestellt worden (“Unmöglich kann man im Bilde”, urteilt Molitor 255 “dem heiligen Wort der Bibel näher kommen, als es hier dem genialen Mister gleungen ist”). Zuerst die Schöpfung der Natur, d. h. des Fundamentes für das geistige Leben der Menschheit, dann die Erschaffung der Menschen, ihr Fall in die Sünde, in welche bald die Familie (Kain und Abel), die Gesellschaft (Sündflut), ja auch ihre Besten (Trunkenheit Noahs) verwickelt werden. Aus der Sündenschuldenlast sehnt sich die ganze Menschheit des Alten Bundes nach Erlösung; aus dem Volke ragen die gottauserwählten Propheten für die Juden und die Sibyllen für die Heiden empor, die begeisterten Seher in eine Erlösungszukunft, dabei aber auch die ergriffensten Träger der Trauer des Volkes. An den Ecken tauchen schon in vier Lebensszenen der Geschichte Israels die Vorbilder der Erlösung selbst auf: der böse Feind, welcher das Volk Gottes vernichten wollte, viermal besiegt in Goliath, Holofernes, Aman und der Schlange alles nur Vorbilder von dem, was da unten auf dem Altare als ewiges Opfer des Gottessohnes und der Kirche fortgefeiert wird. Anmerkungen: [1] Symonds I, 205. Ohne die Sixtinische Kapelle gesehen zu haben, sagt Goethe, kann sich keinen überzeugenden Begriff machen, was ein Mensch vermag. [2] Frey, Studien 100. Die Stelle des Paris de Grassis über die Besichtigung der picturas novas ibidem noviter detectas fehlt in der Ausgabe von Döllinger, der für solch wichtige kunsthistorische Dinge auch nicht das geringste Verständnis besessen zu haben scheint; die Notiz wurde durch Müntz publiziert in der Gaz. des beaux arts, 2. Periode XXV (1882), 386. [3] Urteil von Woltmann-Woermann II, 580. Vgl. dazu Stolberg, Reise in Deutschland, der Schweiz, Italien und Sicilien I (Mainz 1877), 434 ff., und die bekannten begeisterten Worte Goethes, dem selbst die Natur auf Michelangelo nicht mehr schmeckte, da man sie doch nicht mit so großen Augen wie er sehen könne. “Man kann alle möglichen Abhandlungen über das Erhabene lesen”, sagt Castelar (Erinnerungen an Italien 77), “und es wird einem gleichwohl schwer fallen, diesen Begriff richtig zu erfassen. Allein man erheben seine Augen zur Sixtina: hier ist das Erhabene, hier das Mißverhältnis zwischen unserem schwachen Dasein und der unendlichen Macht einer Idee, die uns mit ihrer unermeßlichen Größe verwirrt, ja vernichtet. Dies ist das Erhabene; es erfreut und erschreckt dich gleichzeitig.” Das Studium aller Einzelheiten des großen Werkes ermöglichen die ausgezeichneten Braun’schen Photographien. Vortreffliche Kopien der Erschaffung des Adam, der Eva, des Sündenfalles, des Isaias, Jeremias, der delphischen und libyschen Sibylle von C. Schwarzer in der Galerie Schack zu München. Der Bericht des Paris de Grassis über die endliche Enthüllung, der gleichfalls in der Ausgabe von Döllinger fehlt, ist gedruckt in der Gaz. des beaux arts, 2. Periode, XXV, 387. [4] Vgl. Lübke II, 105-107. Das siebente Bild stellt eine Opferszene dar, nach Condivi und Vasari, denen sich Grimm I5 346 und Ollivier 75 anschließen, das Opfer des Kain und Abel. Plattner II, 1, 265 f. will in dem Bilde Noahs Dankopfer sehen, eine Deutung, der Springer 122 und Lübke II, 104 folgen. Die drei letzten Bilder (Opfer, Sündflut und Trunkenheit Noahs) wurden zuerst gemalt; sie sind gestaltenreicher und zeigen daher kleinere Figuren als die übrigen. Nach ihrer Vollendung überzeugte sich Michelangelo, daß die weite Entfernung von dem Auge des Beschauers einen größern Maßstab verlange. Wölfflin in Janitschs Repert. XIII (1890), 265 f. macht darauf aufmerksam, daß man auch nachher ein beständiges Größerwerden der Figuren bemerkt. "Man vergleiche nur die Figur Gott Vaters, der Sonne und Mond schafft, mit der Gott Vaters bei der Belebung Adams. Dieses Wachsen des Maßstabes hängt zusammen mit einem neuen Raumgefühl." Das Gleiche weist der genannte Forscher, einer der besten Kenner Michelangelos, bezüglich der Sklavengestalten nach: die größten umgeben das Schlußbild, die Scheidung von Licht und Finsternis. Bei den Propheten und Sibyllen zeigt sich dasselben Phänomen. "Der Stil wird allmählich größer und malerischer, die Figuren wachsen.... Die kleinen dekorativen Füllfiguren liegen im gleichen Entwicklungsstrom und können keine Ausnahme machen. Die steinfarbenen Kinderpaare zunächst an den Seitenwänden der Prophetenthrone wiederholen genau die Geschichte der Sklavenpaare." [5] Mit dieser begeisterten Schilderung von Castelar, Erinnerungen an Italien 70 f. vgl. diejenige von Taine bei Müntz, Hist. de l'Art III, 483. S. auch Goyau-Pératé, Le Vatican 548 s. Hoffmann 88-89. Rio, Michal-Ange 27 s. Ollivier 87 s. 118, und Steinmann im Repertorium f. Kunstwissensch. XVII, 175 f. [6] Urteil von Woltmann-Moermann II, 585. Condivi nannte den Jonas wegen seiner Verkürzung an der gewölbten Decke die wunderbarste von allen Gestalten der Decke. Aber auch Burckhardt, Cicerone 644, findet nicht bloß den Jeremias und Joel, sondern auch den Jonas von "wunderbarer Herrlichkeit". Im einzelnen werden hier die Urteile auseinandergehen. Die Krone gebührt meines Erachtens der delphischen Sibylle und dem Jeremias. Von ersterer sagt Plattner II, 1, 269, sie sei nicht allein die schönste unter den hier von Michelangelo vorgestellten Prophetinnen, sondern überhaupt eine der vollkommensten weiblichen Bildungen der neueren Kunst. Die Bedeutung des Jeremias hebt vor allem Springer 130 hervor: "Diese Gestalt hat es Michelangelo angetan, und er konnte sie seitdem niemals wieder völlig aus dem Sinne verlieren. Was er auch schuf, immer schwebte ihm dabei die Erinnerung an Jeremias vor und klang die Stimmung, in welche ihn die Gestalt des Propheten versetzt hatte, leise mit. Der Jeremias birgt den Keim zum Moses des Juliusdenkmals in sich und zu den Hauptstatuen der Mediceergräber." Daß Jeremias das Selbstportrait Michelangelos bietet, ist sehr wahrscheinlich; s. Steinmann im Repertorium für Kunstwissenschaft. 1894, Bd. XVII, 177 f. [7] Diese Deutung, welche sich mit der von Lübke und Burckhardt gegebenen berührt, möchte ich vorschlagen statt der gezwungenen und gekünstelten, die neuerdings versucht wurden. Wie verfehlt es ist, wenn L. v. Scheffler (Michelangelo. Eine Renaissancestudie. Altenburg 1892) den “Ideengehalt der sixtinischen Kapelle” auf den Platonismus Michelangelo’s zurückführt, hat W. Henke in der Allgem. Zeitung 1892, Nr. 77, Beil. an einigen Beispielen gut gezeigt. Der genannte Anatom verfällt jedoch hier wie in seinen “Empirischen Betrachtungen über die Malereien von Michelangelo an der Decke der sixtinischen Kapelle” im Jahrbuch der preuß. Kunstsammlungen VII (1886), 3 f. 82 f. 140 f. in denselben Fehler, dass er Dinge in die Fresken hineinlegt, die nicht darin liegen. Namentlich die überaus seltsame Deutung der Karyatidenpaare an den Seiten der Sitzplätze der Propheten und Sibyllen ist irrig und unbegründet; sie wird durch die erwähnte Inschrift meines Erachtens geradezu ausgeschlossen. Ein so ausgezeichneter Forscher wie Jakob Burckhardt, mit welchem ich im März 1895 diese Frage besprach, ist gleichfalls der Ansicht, dass die Deutungen von Scheffler wie von Henke zurückzuweisen seien. Wölfflin im Jahrbuch der preuß. Kunstsammlungen XIII, 181 stellt die sehr wahrscheinliche Vermutung auf, dass die Sklaven erst nachträglich zu den bereits vorhandenen Medaillons hinzugekommen seien. [8] Sie berechtigen aber nicht dazu, den Gemälden den christlichen Charakter abzusprechen; denn das Fleisch, das Michelangelo malt, ist nie sinnlich (vgl. Historisch-politische Blätter XCI, 755 und Jansen, Soddoma [Stuttgart 1870] 110), auch sind die nackten Gestalten rein accessorisch; s. Rio, Michel-Ange 30. Unverständlich ist mir, wie Pératé 550 über die sixtinische Decke schreiben kann: Est-ce une oeuvre chrétienne? Non; c’est une oeuvre biblique, la bible même etc. Es mag hier gestattet sein, noch das wenig bekannte Urteil mitzuteilen, welches Overbeck im Jahre 1810 über die Decke der Sixtina fällte. Dasselbe findet sich in einem Briefe,d er in der Allg- conf. Monatschrift I (1888), 40 abgedruckt ist. Overbeck schreibt: “Wahrlich, es ist das Höchste und Herrlichste, was vorhanden ist. Wo ist ein Werk, was so wunderbar vollendet ist als die Decke, welche die Schöpfungsgeschichte darstellt und das jüngste Gericht, umgeben von den furchtbaren Gestalten der Propheten, die nun am Ende der Zeiten als kolossalische Erscheinungen hervortreten, dem Gläubigen eine sichere Stütze, aber den verstockten Sündern furchtbare Schreckbilder einer beständig lebendigen Erinnerung ihrer Hartherzigkeit, da sie nicht glauben wollten und sich nicht bekehren von der Welt Eitelkeit, Gespenster gleichsam, die sie in die Hölle hinunterjagen! Es malt gegenwärtig ein Franzose dort, der ein ungeheures Gerüst hat, auf dem man der Decke ganz nahe kommen kann. Da dieser nun am Sonntage nicht arbeitet, so konnten wir das Gerüst besteigen und hatten den hohen Genuss, diese herrlichen Werke, insonderheit die Erschaffung des Adam, ganz nahe zu sehen. Himmel, welche falsche Begriffe hat man doch von Michelangelo ausgestreut! Man warnt allgemein vor ihm als einem Manieristen, der alles übertrieben habe! Wie ist es möglich, so ganz blind zu sein! Wahrlich, man muß sich an den Carlo Marattis und Battonis und Gott weiß an was sonst die Augen ganz vergafft haben, aller Sinn für Natur muß durchaus getötet sein, um nicht zu erkennen, dass hier die höchste, reinste Kunst ist, die in weiter nichts besteht als Wiedergebung der Natur, in der reinen, großen Seele des Künstlers verherrlicht! Man muß auch gar die Natur nicht kennen, um nicht auf den ersten Blick ihre Gepräge wiederzuerkennen, um nicht gleichsam elektrisch getroffen zu werden von der Wahrheit dieser Gedanken, dieser Formen, dieser Charaktere! Und nun von der andern Seite muß man sich doch wahrlich nie die Ruhe gegeben haben, diese Werke nur gehörig anzusehen, oder auch absichtlich eine falsche Nachricht darüber geben wollen, wenn man sagen will, dass sie flüchtiger Bravour gemacht seien - da im Gegenteil eine so delicate Bestimmtheit und Charakteristik und ein solcher Grad von Ausführung sie stempelt, dass schon dieses sie über alle andern Werke erhebt. Glattgeleckt wei van der Werffs sind sie freilich nicht; aber wenn auch die Oberfläche glatt machen wollenden heißt, so sind unsere heutigen geschmeidigen Faselhänse die vollendetsten Menschen. In Rücksicht der Vollendung, glaube ich, kann ein jeder sich Michelangelo zum Muster nehmen. Welch eine Wissenschaft vereinigt er mit seinen göttlichen Gaben! Welch eine Kenntnis des menschlichen Körpers, der Perspektive und Optik! Wie wunderbar malte er! so dass man gar keine Behandlung wahrnimmt, ja gar nicht daran denken kann, sondern nur die Sache sieht. Kurz, in allem ist er Muster! Überall ist er in die Tiefe gestiegen, und was anderen ewig Geheimnis blieb, damit spielte er. Er konnte mit Recht sagen: Die Kunst ist meine Frau.” |
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