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ThemenHäresie |
Katholische Wahrheit und katholisches Dogma Von Matthias Joseph Scheeben I. Die katholische Wahrheit im strengen Sinne und das Dogma als Hauptart derselben. 416 Nicht alle Lehren, welche von Gott als Inhalt seiner Offenbarung der Kirche anvertraut sind und zu ihrem depositum gehören, oder welche überhaupt als theologische Lehren dazu geeignet und bestimmt sind, von der Kirche vorgetragen zu werden, werden darum auch stets von ihr durch praedicatio manifesta allgemein zu glauben oder zu halten vorgeschrieben und als Glaubensnorm geltend gemacht. Diejenigen, welche tatsächlich in dieser Weise geltend gemacht werden, führen darum im Gegensatz zu den andern den engeren Namen katholische Wahrheit im strengeren Sinne des Wortes (veritas catholica = allgemein gültige und verbindliche Wahrheit, von einigen, z. B. Holden und Chrismann, auch veritas canonica genannt), oder kirchliches Dogma im weiteren Sinne des Wortes (dogma ecclesiasticum = vorschriftsmäßige Lehre der Kirche, zu deren zweifellosen Annahme jedes Glied der Kirche als solches ebenso verpflichtet als berechtigt ist). Inwieweit diese Lehren als ausdrückliche Offenbarungswahrheiten bezeugt und geltend gemacht und folglich als Gegenstand des göttlichen Glaubens vorgelegt werden, heißen sie katholische Glaubenswahrheiten (veritas fidei catholicae), oder Glaubensvorschriften, oder Glaubenslehren (dogmata fidei, resp. dogmata divina), oder auch Dogmen schlechthin im engeren und strengen Sinne des Wortes. Im entgegengesetzten Falle, wo sie nämlich bloß als theologische oder zur Integrität des Glaubens gehörige Wahrheiten vorgetragen und geltend gemacht werden, heißen sie einfach katholische Wahrheiten oder Lehren (veritates catholicae oder doctrinae ecclesiasticae, resp. ecclesiae catholicae). Letzterer Ausdruck wird sowohl generisch, als die Wahrheiten beider Klassen einschließend, wie auch spezifisch für die zweite gebraucht. Die zweite Klasse umfaßt dann wieder die beiden Arten der theologischen Wahrheit, welche oben §6 erklärt wurden, nämlich sowohl diejenigen, welche causaliter, wie diejenigen, welche bloß finaliter theologisch sind: und so wird auch der Name doctrina catholica bald auf beide, bald auf eine der beiden Arten bezogen. Es empfiehlt sich, die der ersteren Art veritas catholica theologica, die der zweiten veritas pure catholica zu nennen. Obgleich alle drei Arten der veritas catholica unfehlbar und daher negativ gleich zweifellos gewiß sind, so bleibt doch der positive Grund und darum die eigentümliche positive Beschaffenheit und Intensität der Gewißheit verschieden. Darum heißen die ersten schlechthin doctrinae de fide, ipsa fide catholica credendae, die zweiten einfach fide, oder ex fide oder secundum fidem certae (d. h. von jedem Gläubigen auf Grund und infolge seiner fides catholica als notwendiges Resultat und Korrelat derselben mitanzunehmen und festzuhalten), die dritten schlechthin certae oder verae. Die zweite Art der Gewißheit wird bei vollkommener, d. h. positiver, direkter und richterlicher Vorlage durch die Kirche von vielen Theologen mit der ersten gleichgestellt, und so auch ihr Name als mit dem der ersten gleichbedeutend genommen. 417 Veritas catholica ist hier nach dem vorhergehenden Paragraphen formell nicht die bloß tatsächlich allgemein verbreitete, sondern die kraft eines die ganze Kirche beherrschenden Gesetzes allgemein mit Notwendigkeit anzuerkennende und unzweifelhaft festzuhaltende Wahrheit. In diesem Sinne sind virtuell alle im Depositum der Kirche enthaltenen Wahrheiten eo ipso schon katholisch, weil von Gott der Gesamtheit vorgeschrieben; aktuell werden sie es jedoch erst dadurch, daß die Kirche diese göttliche Vorschrift promulgiert und geltend macht. In einem laxeren Sinne (s. unten sub III.) nennt man veritas catholica eine Lehre, welche nicht mit strenger Evidenz, sondern bloß mit moralischer Gewißheit von der Kirche geltend gemacht erscheint. In noch laxerem Sinne oder vielmehr nicht positiv, sondern negativ nennt man veritas catholica eine Lehre, die nicht unkatholisch ist, d. h. nicht der allgemein gültigen Lehre zuwiderläuft, oder die man als guter Katholik unbeschadet der professio catholica annehmen kann, aber nicht annehmen muß. Die veritas catholica im ersten Sinne ist ein weiterer Begriff als der der veritas fidei catholicae, so daß, während die Leugnung dieser immer Häresie ist, die Leugnung jener einen ganz andern, und zwar sehr mannigfaltigen Charakter haben kann. So verlangte Martin V. in der Bulle „Inter cunctas“, daß die Wiclifiten und Hussiten beschwören sollten (art. 10): Die Sentenz des Konstanzer Konzils über die 45 Artikel des Hus und die 30 des Wiclif sei vera et catholica, und daß demgemäß die Artikel „non sunt catholici, sed quidam ex eis sunt notorie haeretici, quidam erronei, alii temeraii et seditiosi, alii piarum aurium offensivi“. 418 Dogma, griechisch dogma (von dokein = glauben, meinen, dafürhalten, besonders auch in entscheidender Weise dafürhalten = censere, arbitrari, daher = decernere, statuere, wie das intransitive placet oder visum est Spiritui Sancto et nobis, wofür Apg. 15,25 und 28: edoke), bezeichnet in der Schrift und Kirchensprache keine bloße Meinung oder subjektive Überzeugung, sondern Verordnung, Gesetz (Apg. 16,4) = griechisch kanon, besonders aber, wie analog schon bei den alten Philosophenschulen, einen für eine Gemeinschaft autoritativ festgestellten Lehrsatz, im Gegensatz einerseits zu Privatüberzeugungen, anderseits zu disziplinären Feststellungen. Singulär ist der Gegensatz "dogma" zu "kerygma" bei Basilius (De Spir. S. c. 27), als wenn jenes die esoterische, dieses die exoterische Lehre bezeichnete. Sonst sind beide Ausdrücke durchgängig als identisch gebraucht. 419 Das von Gott und Christus Geoffenbarte ist als solches sofort dogma divinum oder christianum. Inwiefern es von den Aposteln autoritativ niedergelegt wurde, ist es ferner dogma Apostolicum und wird, wenn von der Kirche promulgiert, auch in vollem Sinne dogma ecclesiasticum. Das divinum ist als solches schon objektiv und an sich ecclesiasticum, weil es 1) eben für die Kirche gegeben ist und in der Kirche stets, wenigstens implicite oder auch von einem großen Teile derselben explicite, geglaubt wird, ohne jedoch darum immer allgemein vorgeschrieben zu werden, und weil es 2) die oberste und ursprüngliche Regel ist, wonach die Kirch bei ihrer Feststellung verfährt; umgekehrt ist das ecclesiasticum auch als solches in seiner Weise divinum, weil es kraft göttlicher Autorität und unter göttlicher Assistenz festgestellt wird. Dogma schlechthin ist in der Kirchensprache dasjenige, was zugleich im vollen Sinne divinum, apostolicum und ecclesiasticum ist, was also durch göttliche Offenbarung unmittelbar festgestellt und als solches auch von der Kirche unbedingt und allgemein festgestellt resp. festgehalten wird (kirchliche Glaubenslehre = dogma fidei divinae et catholicae). Das dogma mere divinim, dem die zweite Bedingung und damit die allseitige Feststellung abgeht, heißt wegen Abgangs dieser Form, für die es jedoch an sich empfänglich ist und zu der es sich entwickeln soll, bei den Neueren dogma materiale, bei den Älteren dogma quoad se (z. B. S. Thom., In ep. ad Rom. c. 14, l. 3) und wird durch den Hinzutritt jener Bedingung auch dogma formale oder quoad nos. Fehlt die erste Bedingung oder wird sie in der zweiten nicht bestimmt hervorgehoben, indem die Kirche eine Wahrheit zwar autoritativ lehrt, aber nicht ausdrücklich als Gottes Wort bezeugt: so wäre die so festgestellte Lehre, um sie von dem Dogma schlechthin zu unterscheiden, als dogma mere ecclesiastica zu bezeichnen, wenn nicht der Sprachgebrauch es mit sich brächte, daß eben das divinum et catholicum auch als Dogma schlechthin bezeichnet zu werden pflegt. Wo es sich um andere kirchlich feststehende resp. richterlich festgestellte Wahrheiten handelt, nennt man daher nur das betreffende kirchliche Urteil dogmatisch (iudicium dogmaticum), nicht aber den Inhalt desselben Dogma, außer etwa bei den zur weiteren Entwicklung der Glaubenswahrheiten dienenden theologischen Konklusionen, wo deren Inhalt positiv und direkt richterlich von der Kirche festgestellt und so nach der oben im Texte erwähnten Ansicht vieler Theologen in das obiectum fidei hinübergenommen wird. Die nicht formell und kategorisch als Gottes Wort, aber doch authentisch und mit Nachdruck proponierten Lehren nennt man einfach doctrina ecclesiae catholicae im spezifischen Sinne dieses Wortes, weil sie von der Kirche eben in ihrer Eigenschaft als Lehrerin im Gegensatz zu Zeugin vorgetragen werden. (So Pius IX., Ep. ad reg. Sardin. 9. Sept. 1852: „Dogma fidei est, matrimonium a D. N. J. C. elevatum esse ad dignitatem sacramenti, et est doctrina ecclesiae catholicae, sacramentum non esse qualitatem accidentalem contractus.”) Es steht jedoch nichts im Wege, daß auch solche Wahrheiten, welche, wie die eben erwähnte, Dogmen im strengsten Sinne des Wortes sein könnten und es später werden, also dogma materialia sind, zeitweilig nur als doctrina ecclesiae catholicae geltend gemacht werden. Wie in diesem Falle die doctrina catholica zugleich doctrina divina ist, so sind auch alle im engeren Sinne theologischen Wahrheiten als direkt zur doctrina divina oder christiana gehörig zu betrachten, während die pure catholicae nur indirekt dazu gehören. II. Mannigfaltigkeit und Einteilung der eigentlichen Glaubensdogmen. 420 Dieselben können verschiedentlich eingeteilt werden, sowohl A. materiell, hinsichtlich ihres objektiven Verhältnisses zur göttlichen Offenbarung, als B. formell, hinsichtlich ihrer Promulgation durch die Kirche, und C. moralisch, hinsichtlich der Verpflichtung, von ihrem Inhalte Kenntnis zu nehmen. 421 A. In der ersten Hinsicht gehören hierhin fast alle die Verschiedenheiten und Einteilungen, welche oben (§ 6 sub. I.) bezüglich des Inhaltes der Offenbarung gemacht wurden. Nur mit der Ausnahme, daß die res per accidens revelatae (resp. die als per accidens revelatae erscheinenden) an sich, materiell und distributiv, wie sie nicht direkter Gegenstand der eigentlichen Lehrverkündigung sind, so auch nicht unter die Dogmen gehören; es ist bloß Dogma, daß die Heilige Schrift in ihrem wahren Texte „ indubiam per omnia veritatem“ enthält. Daher verfehlt man sich durch die Leugnung solcher Dinge nur insofern gegen das Dogma, als diese Leugnung entweder bewußt und absichtlich, oder doch tatsächlich unter gegebenen Umständen die Behauptung einschließt, die Heilige Schrift sei an sich in irgendeinem Satze falsch. 422 So konnte z. B. vor Zeiten die Leugnung der Bewegung der Sonne um die Erde, obgleich diese Bewegung kein Dogma ist und sein kann und auch nicht wegen der Natur des Gegenstandes durch dogmatische Erklärung der Heiligen Schrift pro oder contra entschieden werden kann, gleichwohl einen Verstoß gegen das Dogma involvieren, inwiefern sie entweder von der ausdrücklichen Behauptung, die Heilige Schrift sei in den einschlägigen Stellen falsch, begleitet war, oder aber, solange eine vom eigentlichen Sinne abweichende Erklärung der Heiligen Schrift nicht hinreichend gerechtfertigt war, logischerweise nur durch Leugnung der Wahrheit der Heiligen Schrift gerechtfertigt werden konnte. Von diesem Gesichtspunkt aus sind namentlich die gegen die Galileischen Lehrsätze gefällten Zensuren zu verstehen. 423 B. Hinsichtlich der kirchlichen Vorlage und Sanktion zerfallen die Dogmen vor allem 1) in dogmata quoad se oder materialia und in dogmata quoad nos oder formalia (s. oben I., n. 419). 2) Die formellen Dogmen, worauf es zunächst ankommt, zerfallen ihrerseits in dogmata non declarata, welche bloß durch kirchliches Gewohnheitsgesetz in Kraft stehen, und in dogmata declarata oder definita. Weil bei den letzteren im Gegensatz zu den ersteren sowohl der Ausdruck des Inhaltes fest formuliert als auch die gesetzliche Kraft formell ausgesprochen ist: so sind sie allerdings in speziellerem und vollerem Sinne dogmata formalia als die ersteren. Es wäre aber weit gefehlt und sehr verwirrend, darum sie allein als formelle Dogmen und demnach alle nicht deklarierten Dogmen bloß als materielle Dogmen gelten zu lassen, also diese Einteilung mit der vorhergehenden zu verwechseln, wie dies in neuerer Zeit vielfach teils aus Unklarheit, teils aus der bewußten Absicht, nur die formulierten Dogmen als vollgültig gelten zu lassen, geschehen ist. (Vgl. hierüber Kleutgen, Theologie der Vorzeit Bd. I, n. 57 ff.) 3) Die formulierten Dogmen lassen sich wieder in dogmata symbolica oder non symbolica abteilen, je nachdem die Formulierung in einer für das allgemeine äußere Bekenntnis des Glaubens passenden und berechneten Form, oder bloß zur Klarstellung der fraglichen Wahrheit selbst geschieht. Weil die ersteren in der Regel zugleich die Fundamental- oder Stammwahrheiten des Glaubens enthalten, so haben sie vor den letzteren einen gewissen Vorzug, wie auch die Glaubenssymbole regulae fidei per excellentiam genannt werden. Unter ersteren ragen wieder die sogenannten articuli fidei hervor, als Glieder des im Apostolischen Symbolum niedergelegten corpus doctrinae. 424 Hinsichtlich der Verpflichtung, von ihrem Inhalte Kenntnis zu nehmen, zerfallen die Dogmen in solche, welche bloß implicite von allen Gliedern der Kirche geglaubt zu werden brauchen, und solche, welche von allen explicite geglaubt und daher auch ihrem Inhalte nach erkannt werden müssen. Diese Notwendigkeit ist aber wieder entweder eine Notwendigkeit des Mittels zur Seligkeit (necessitas medii), oder bloß eine Notwendigkeit des göttlichen oder kirchlichen Gesetzes (necessitas praecepti). Die in der einen oder andern Weise notwendig zu wissenden Dogmen kann man, weil es die wesentlichsten sind, auch Fundamentalartikel nennen, aber in ganz anderem Sinne, als die Protestanten seit dem Anfange des sogenannten Latitudinarismus im 17. Jahrhundert von Fundamentalartikeln sprechen. Nach den Protestanten nämlich sind alle nicht fundamentalen Artikel auch nicht objektiv Glaubensgesetz, und kann man sich ihnen gegenüber gleichgültig verhalten oder gar sie explicite leugnen. Nach katholischer Auffassung aber sind alle formellen Dogmen objektiv bindendes Glaubensgesetz, dem jeder wenigstens der Intention nach (durch fides implicita) sich konformieren muß, und das er auch aktuell erfüllen muß, sobald er dessen Inhalt erkannt hat. 425 Man könnte endlich die Dogmen noch einteilen bezüglich des Grades der Verpflichtung und der Gewißheit, die ihnen zukommt, in dogmata stricte und late talia; da aber nach dem Sprachgebrauche unter Dogma nur dasjenige verstanden wird, was im strengsten und engsten Sinne ein solches ist, so paßt diese Einteilung mehr auf die veritas oder doctrina catholica, bezüglich welcher sie teilweise bereits gemacht ist und teilweise sogleich noch weiter ausgeführt werden wird. Seit der Josephinischen Zeit haben manche katholische Theologen, die Protestanten nachahmend, das Dogma = Lehrsatz genommen, wie die alten Philosophen, und daraufhin eine Einteilung der Dogmen in dogmata imperata, libera, tolerata und vetita gebaut. Dieselbe ist zwar materiell richtig, aber der Form nach mißbräuchlich und verwirrend. 426 III. Die katholische Wahrheit resp. kirchliche Lehre und Theologie im weiteren oder approximativen Sinne und ihr kontradiktorischer Gegensatz, die katholische Lehre im weitesten oder vielmehr negativen Sinne. Während die unkatholische, d. h. der katholischen Wahrheit materiell widersprechende Lehre formell den konträren Gegensatz zur katholischen Wahrheit als solcher bezeichnet: stellt die einfach nicht katholische, d. h. der katholischen Lehre materiell nicht offenbar widersprechende Lehre formell den kontradiktorischen Gegensatz derselben dar. Die einfach nicht katholische Lehre nennt man, weil sie durch die kirchliche Regel freigelassen und weder vorgeschrieben noch verworfen wird, aber eben darum auch nicht den Charakter einer durchaus feststehende und zweifellosen Sentenz hat, „freie Meinung“. Daraus folgt aber nicht, daß nun jede Lehre, welche nicht peremtorisch von der Kirche geltend gemacht und evident von ihr verbürgt wird, darum auch als schlechthin frei gegeben und als bloße Meinung zu gelten habe. Denn die Freiheit, wie die Gewißheit, hat ihre Arten und Grade, namentlich hier, wo es sich nicht um mathematische Wahrheiten und Beweise, sondern um religiös-ethische Wahrheiten und um Regeln und Beweisquellen handelt, welche sich aus dem lebendigen Organismus der Kirche ergeben und mit demselben verwachsen sind. So gibt es hier außer den juristisch bindenden Regeln und den evident konstatierten, vollgültigen Zeugnissen noch andere, welche moralisch binden und moralische Gewißheit gewähren, und welchen man daher zwar ohne formellen Ungehorsam und ohne Verletzung einer evident unfehlbaren Gewißheit, aber nicht ohne Verwegenheit, Verletzung der Pietät und mutwillige Mißachtung einer hinreichend verbürgten Wahrheit entgegentreten kann. 427 Aus diesem Grunde gibt es über die katholische Wahrheit im strengen Sinne hinaus noch eine katholische Wahrheit resp. kirchliche Lehre oder Theologie im weiteren oder approximativen Sinne, welche der wahre Katholik mit Ehrfurcht und Vertrauen annehmen muß, deren Verleugnung nicht ohne Verletzung der katholischen Gesinnung stattfinden kann, und durch welche folglich das Gebiet der „freien und bloßen Meinung“ noch weiter eingeschränkt wird. Die beiderseitige Grenzscheide dieses Zwischengebietes kann allerdings der Natur der Sache gemäß in concreto nicht mathematisch genau festgestellt werden; gleichwohl ist sie um so mehr im Auge zu behalten, weil bei einem unvermittelten Übergänge von der strikt katholischen Lehre zu der freien Meinung die erstere durch die letztere im hohen Grade gefährdet würde. Ja selbst innerhalb des Gebietes der freien Meinung sind nicht alle Meinungen gleichberechtigt, indem es vorkommen kann, daß die eine von der Kirche bloß geduldet, die andere, ihr entgegengesetzte, in hohem Maße begünstigt wird, resp. die eine in sichtlicher Weise bedeutend weniger, die andere, ihr entgegengesetzte, bedeutend mehr dem Geiste der Kirche und ihrer Gesamtlehre entspricht (opinio minus pia im Gegensatz zu opinio pia schlechthin). Auch ist wohl zu bemerken, daß für die Gelehrten manche kirchlich noch als frei behandelte Meinungen schon als wissenschaftlich ganz unhaltbar (improbabilis) und ihr Gegenteil als wissenschaftlich vollkommen erwiesen und gewiß gelten kann. 428 Auf die moralisch als solche feststehende und sich kundgebende oder approximative katholische Lehre finden natürlich ebenfalls die oben sub. I. angegebenen drei Arten oder Stufen der katholischen Wahrheit Anwendung. Eine spezielle technische Bezeichnung gibt es jedoch nur für die erste und höchste Stufe, d. h. für diejenige Lehre, von welcher es moralisch feststeht, daß die Kirche sie als unmittelbare Offenbarungswahrheit betrachtet wissen will: sie heißt nämlich fidei proxima. Die beiden anderen Stufen werden negativ charakterisiert, indem man die Leugnung der betreffenden Lehre bei der zweiten Stufe als errori (nämlich errori stricte theologico) proxima, bei der dritten bloß mit dem allgemeinen, allen drei Stufen zukommenden Prädikat temeraria charakterisiert. Es liegt jedoch auf der Hand, daß zuweilen, oder vielmehr oft, eine Lehre bloß moralisch zur ersten Stufe des dogma fidei gehört, während sie ganz unbedingt schon auf der zweiten Stufe der doctrina certa secundum fidem steht, woher es dann auch kommt, daß die Zensuren haeresi proxima und error häufig verwechselt werden. Ebenso ist es natürlich, daß, abgesehen von förmlichem kirchlichem Urteil, die veritas catholica der zweiten und dritten Stufe meist nur mit moralischer Kraft und Gültigkeit auftritt. 13. Folge 429 Anfangend im 17. Jahrhundert mit der wohlmeinenden Absicht, den Protestanten durch kluge Vorsicht und liberale Nachsicht den Übertritt zur katholischen Kirche zu erleichtern, indem man das unbedingt zu Glaubende von dem weniger Notwendigen oder Freigelassenen unterschied seit dem Ende des 17. Jahrhunderts durch die heftigen Streitigkeiten unter katholischen Theologen, die sich wechselseitig verschrien, gefördert von den Jansenisten und Aufklärern des 18. Jahrhunderts böswillig begünstigt , hat sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter der Ägide des Josephinismus eine vom zahmen Liberalismus zum Libertinismus fortschreitende Richtung herausgebildet, welche im Namen der von den Protestanten gelehrten „Toleranz“ mehr oder minder alles, was nicht Dogma im strengsten Sinne sei, als freie Meinung reklamierte, oder, wie man damals sagte, als adiaphorum, gleichgültig bezeichnete. Die Nachwirkungen dieser Richtung sind im 19. Jahrhundert besonders in den gelehrten Kreisen Deutschlands und den mit ihnen in Verbindung stehenden Englands hervorgetreten, nur daß man statt der Toleranz jetzt die ebenso von den Protestanten entlehnte „Freiheit und Würde resp. das Interesse der Wissenschaft“, d. h. der „Männer und Priester der Wissenschaft“ auf die Fahne schrieb. Bei Gelegenheit der in ihrem Sinne intendierten Münchner Gelehrtenversammlung hat dann Pius IX. in dem Breve „Tuas libenter“ an den Erzbischof von München die diesbezüglichen kirchlichen Grundsätze dargelegt (s. unten sub IV.); hieraus ist im Syllabus von 1864 prop. 22 der Grundsatz ausgehoben: „Obligatio, qua catholici magistri et scriptores omnino adstringuntur, coarctatur iis tantum, quae ab infallibili Ecclesiae iudicio veluti fidei dogmata ab omnibus credenda proponuntur.“ Das Vatikanische Konzil hat dann in dem Prooemium seiner ersten Konstitution feierlich daran erinnert, daß jene protestantischen Einflüsse die Folge gehabt hätten, „ut plures etiam e catholicae ecclesiae filiis a via verae pietatis aberrarent in iisque, diminutis paulatim veritatibus, sensus catholicus attenuaretur“, und so die „integritas et sinceritas fidei“ in Gefahr gebracht worden sei. Daher sagt es auch am Schlusse der Konstitution: „quoniam satis non est haereticam pravitatem devitare, nisi ii quoque errores diligenter fugiantur, qui ad illam plus minusve accedunt“, so erinnere es an die Pflicht, auch die diesbezüglichen Urteile des Heiligen Stuhles zu beobachten. Die große Gefahr, die in jener Richtung für den Glauben selbst lag, hat sich nach dem Vatikanum tatsächlich und evident bei den vielen Anhängern derselben herausgestellt, indem sie die Glaubensregel selbst abwarfen.
Es handelt sich bei diesem Text um einen Ausschnitt aus Scheebens Handbuch der katholischen Dogmatik, Erstes Buch: Theologische Erkenntnislehre. Erster Teil: Die objektiven Prinzipien der theologischen Erkenntnis. C. Die Geltendmachung des Wortes Gottes durch den Lehrapostolat oder die kirchliche Regelung des Glaubens und der theologischen Erkenntnis, bestehend aus dem Fünften Hauptstück, das die §§ 28 bis 37 umfasst. Wir bringen hier § 29: Die kirchliche Regel des Glaubens und Denkens im objektiven Sinne: Katholische Wahrheit und katholisches Dogma. Einteilung und Kennzeichen derselben (umfassend die Randnummern 416-434). Den Vorgängerparagraphen 28 (Die katholische Glaubensregel im allgemeinen und speziell im aktiven Sinne) finden Sie hier auf kath-info. Angesichts des gegenwärtigen Umgangs mit dem Wort Gottes durch die römischen Autoritäten sind die Ausführungen Scheebens von höchster Aktualität.
Recktenwald: Ist das noch die Kirche Christi? Keine Freiheit ohne Wahrheit In der 88. Episode meines Podcasts geht es um das Thema „Keine Freiheit ohne Wahrheit“. In Auseinandersetzung mit merkwürdigen theologischen Thesen, wie sie z.B. Saskia Wendel vertritt, gehe ich der Frage nach, ob wir unsere Freiheit gegen Gott verteiden müssen.
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