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Symbolik oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach ihren Bekenntnisschriften (Fortsetzung) Von Johann Adam Möhler (Zu Seite 1) [Sie befinden sich auf Seite 2.] § 4 In allen bedeutenderen dogmatischen Handbüchern und polemischen Schriften des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, bei Bellarmin, Becanus, Chemnitz, Gerhard usw., ja selbst in mehreren symbolischen Schriften begegnet der Leser einem besondern, weitläufigen Kapitel, dem die Aufschrift unseres Paragraphen gegeben ist. Wie sich im zweiten und dritten christlichen Jahrhundert. kein Schriftsteller über die religiösen Angelegenheiten seiner Zeit verbreiten konnte, ohne in die Frage: “woher das Böse?” einzugehen, ebenso wurde sie nun auch jetzt wieder auf das angelegentlichste untersucht, und es dürfte sich bald zeigen, daß der Gegensatz zwischen Katholizismus und Protestantismus gar nicht gründlich gewürdigt werden könnte, und das innerste Wesen des letzteren ewig unbegriffen bliebe, wenn die verschiedenen Antworten, die auf jene Frage gegeben worden sind, nicht wohl erwogen würden. Kein Gegenstand erbitterte in den ersten Zeiten der Kirchenumwälzung die Katholiken in dem Grade gegen die Urheber derselben, als ihre Bestimmungen über das Verhältnis, in welchem Gott zum moralischen Übel stehe. Gerade deshalb wurde auch von der katholischen Kirche der Satz, daß der Mensch mit Freiheit geschaffen sei, aufs Neue mit so vielem Ernst und so großem Nachdruck hervorgehoben, damit ganz unbedingt und ohne alle Winkelzüge die Schuld des Bösen in der Welt auf den Menschen falle; denn schon allein die Verneinung der Freiheit von seiten Luthers, Melanchthons, Zwinglis und Calvins mußte die Besorgnis erwecken, daß infolge davon die katholische Lehre von Gott dem Heiligen, dem die Sünde ein Greuel ist, in Schatten, und dagegen auch der lasterhafteste Mensch außer aller Verantwortung gestellt werde. Und in der Tat behauptete Melanchthon in seinem Kommentar über den Brief an die Römer, in der Ausgabe vom Jahr 1525, ohne Scheu, Gott wirke alles, das Gute wie das Böse, er sei der Urheber des Davidischen Ehebruchs und des Verrats des Judas, wie der Bekehrung Pauli. Sollte sich auch jemand die befangenste und seltsamste Vorstellung von den Verirrungen der katholischen Kirche gebildet haben, möchte er die Behauptung wagen, daß alle dieselben zusammengenommen - diese einzige aufwiegen? Und doch entschuldigt Chemnitz, dem wir die betreffenden Originalstellen verdanken - denn in den späteren Ausgaben von Melanchthons genanntem Commentar sind sie verschwunden - seinen Lehrer Melanchthon. Und wie entschuldigt er ihn! In einer so verwickelten Materie, sagt er unter anderem, habe anfänglich nicht alles plan- und zweckmäßig behandelt werden können, zumal katholischerseits die Lehre von der Freiheit übertrieben worden sei [24]. Gleich als hätte die Frage: “Woher das Böse” im sechzehnten Jahrhundert zuerst die Aufmerksamkeit der Christen in Anspruch genommen; gleich als ließe uns die Heilige Schrift auch nur im geringsten zweifelhaft, wie sie zu beantworten sei; gleich als wäre sie nicht schon im zweiten und dritten Jahrhundert von der Kirche wirklich gelöst worden! Jedoch sprach auch hier Melanchthon Luther nur nach, wie uns des Letztern Schrift gegen Erasmus lehrt. Auf Melanchthons Behauptung nahm übrigens wohl die Synode von Trient Rücksicht, wenn sie den Satz mit dem Anathem belegt, daß Gott ebenso das Böse wie das Gute wirke, und daß es der Macht des Menschen nicht überlassen sei, sich des Bösen zu enthalten [25].
In demselben Verhältnisse jedoch, als sich die Begriffe der sächsischen Reformatoren, insbesondere Melanchthons, rücksichtlich der Freiheit läuterten, verließen sie auch die Vorstellung von Gott als Urheber des Bösen, und der letztgenannte vermochte es sogar über sich, in der Augsburgischen Konfession seine frühere Lehre selbst zu widerrufen [26]; die späteren symbolischen Schriften der Lutheraner stimmen mit dieser Verbesserung vollkommen überein [27].
Diesen Vorstellungen ist die versuchte Begründung derselben ganz angemessen. Um zu zeigen, daß Gott, ungeachtet seiner zu bösen Handlungen antreibenden Tätigkeit, dennoch nicht sündige, sondern nur der Mensch, bemerkt Zwingli: Gott als der Gerechte sei keinem Gesetze unterworfen, da geschrieben stehe, nicht für die Gerechten sei das Gesetz gegeben! Mache also Gott einen Engel oder Menschen zum Übertreter des Gesetzes (cum transgressorem facit), so übertrete nicht er es, sondern die Geschöpfe, welche das Gesetz drücke und anklage [31]. Eine erbärmlichere Gedankenreihe läßt sich nun doch wohl nicht ausfindig machen, mag man den Begriff betrachten, den Zwingli vom Gerechten gibt, da dieser im Sinne der angedeuteten paulinischen Stelle das lebendige Sittengesetz in sich selbst ist, und darum allerdings nicht unter einem ihm bloß äußerlich entgegentretenden und fordernden Gebote steht, indem er es in sich selbst trägt und stets erfüllt; oder mag man das Wesen Gottes ins Auge fassen, von dessen Weisheit und Heiligkeit das Sittengesetz nur ein Ausfluß ist, und das er selbst in ewig reiner Klarheit lebt; oder mag man endlich das Sittengesetz selbst für sich allein würdigen, das Zwingli als ein willkürliches, bloß statutarisches Gebot behandelt [32], sosehr er es auch nebenbei wieder erhebt. Der Reformator von Zürich hebt die Objektivität des Bösen völlig auf, und von einer heiligen moralischen Weltordnung hat der Mann keine Ahnung, selbst dort, wo er sich in diesem Sinne auszusprechen scheint. Aus allen diesen Gründen sah er nicht ein, daß, wenn Gott zur Übertretung eines von ihm gegebenen sittlichen Gesetzes antriebe, Gott sich selbst widerspräche, und sein Wesen nicht bloß eine ihm äußerliche Norm verletzte, d. h. er sah nicht ein, daß der Begriff von Gott durch ihn vernichtet werde. Der nachteilige Einfluß dieser Lehre auf die Sittlichkeit des Menschen leuchtet von selbst ein, und wurde auch dem Calvin scharf genug vorgehalten [33].
Noch bemüht sich Zwingli, seine unselige Lehre mit dem Grunde zu rechtfertigen, daß Gott stets durch reine Absichten geleitet werde, daß mithin der Zweck die Mittel heilige, und in etwas sonderbarem Zusammenhange fügt er bei, daß der Ehebruch Davids, dessen Urheber Gott sei, Gott ebenso wenig einer bösen Handlung überführe, als wenn ein Stier eine ganze Herde Kühe befruchte [34]. Hierbei wurde nur übersehen, daß der Mensch keine Kuh sei, so wenig als Gott ein Stier, daß demnach, wenn der Mensch von Gott zum Ehebruch angetrieben werde, dies nicht ohne Verletzung des moralischen Wesens des Menschen geschehen könne, und darum allerdings Gott die Schuld zufalle. Zwinglis Vorstellung bestand wohl näher darin, daß Gott zunächst nur auf die Sinnlichkeit Davids gewirkt habe, welche durch ihre Macht den Willen überwand; da demnach Gott diesen nicht unmittelbar bewegte, habe er nur das an sich gleichgültige äußere Werk, nicht das Böse in ihm bewirkt - das Werk, das in der ehelichen Verbindung wie im Ehebruch dasselbe sei. Wie möchte er aber wohl die Versuchungen des Satans von einer solchen Tätigkeit Gottes unterscheiden?
Um zu der Bemerkung zurückzukehren, die Zwingli zur Reinigung Gottes besonders geeignet glaubt, daß Gott nämlich gute Zwecke bei seiner Hervorlockung böser Handlungen im Auge habe, so ist ihm diese mit Calvin und Beza gemein; jedoch wurde sie von diesen mit mehr Schärfe vorgetragen. Wir haben daher noch die Aufgabe, die Meinungen dieser beiden Reformatoren mitzuteilen. Calvin gesteht, daß die Annahme, Gott bestimme den Menschen zum sittlichen Verderben und treibe ihn zur Sünde an, mit dem uns bekannt gewordenen Willen Gottes nicht übereinstimme; er stützt sich daher, wie Luther in der Schrift gegen Erasmus, auf einen uns verborgenen Willen der Gottheit, nach welchem ihre Verfahrungsweise sehr billig sei, obschon wir die diese Billigkeit nicht einzusehen vermöchten [35].
Wenn dies die gewöhnliche Art ist, mit der sich Calvin in seinen Institutionen zu retten bemüht; so macht er in seiner Anweisung gegen die so genannten Libertiner, die offenbar durch seine und Zwinglis Schriften veranlaßt, für den Christen den Unterschied zwischen Gut und Bös leugneten, und gerade die Erlösung in die durch Christus vermittelte Erkenntnis setzten, daß kein Unterschied zwischen beiden bestehe, doch auch auf die große Differenz aufmerksam, die zwischen der Tat Gottes und der der Gottlosen in einer und derselben Handlung stattfinde; er sagt, Gott wirke, um Gerechtigkeit zu üben, der Böse aber werde von Geiz, Habsucht usw. getrieben [36]. Gott reizt z. B. irgendwen zum Mord, aber aus keiner andern Absicht, als eine begangene Untat zu strafen. Wir überlassen es der Beurteilung eines jeden, ob die Idee Gottes den Gebrauch solcher Mittel rechtfertige und wie überaus schädlich und alle menschliche Moralität vernichtend es wäre, wenn die Menschen hierin Gott nachahmten; aber einleuchtend ist es, daß die Untersuchung bis zum Falle Adams zurückgetrieben werde und die Frage entstehe, welche Teilnahme Gott an demselben zukomme. Calvin war nicht gesonnen, den Fall Adams aus dem Mißbrauche menschlicher Freiheit abzuleiten, vielmehr gesteht er, in Übereinstimmung mit seinen Grundsätzen, Gott habe denselben angeordnet und durch einen ewigen Ratschluß herbeigeführt [37].
Weiter entwickelt finden wir diese ungeheuren Verirrungen bei Beza. Die Grundzüge seiner Dialektik bestehen in Folgendem: Gott wollte sich einerseits erbarmen und andererseits seine Gerechtigkeit offenbaren. Nun aber war Adam sittlich gut und heilig geschaffen, da aus Gottes Hand nichts Unreines hervorgehen mag. Wie konnte demnach Gott seine Erbarmungen entfalten, deren Gegenstand nur Sünder sein können? Wie mochte er seine Gerechtigkeit entwickeln, wenn niemand Unrechtes beging und dadurch der Strafe anheimfiel? Gott mußte sich daher zur Entwicklung dieser Eigenschaften einen Weg bahnen, welcher sich ihm in der Anordnung des Falles des ersten Menschen darbot. Da nun diese göttlichen Zwecke ganz gerecht und heilig sind, so geht diese Eigenschaft auch auf die zu ihrer Ausführung gewählten Mittel über [38]. Hier ist von keiner bloßen Mitwirkung Gottes zur Vollziehung der Äußerlichkeit der bösen Handlung die Rede; da Gott der innern bösen Gesinnung bedurfte, um strafen zu können und Erbarmung zu üben, indem ohne jene keine Sünde möglich ist. Gott hatte also die Aufgabe, die böse Gesinnung irgendwie hervorzurufen, um seine Zwecke zu erreichen, d. h. er mußte seine Heiligkeit vernichten, um über ihren Trümmern zu seiner Barmherzigkeit und Gerechtigkeit zu gelangen. Auch Beza stellt daher nicht in Abrede, daß der erste Mensch einem unbesiegbaren Verhängnis erlag, als er sündigte, daß es also nicht seiner Freiheit überlassen blieb, auch nicht zu sündigen, zwischen Notwendigkeit aber und Zwang mit Luther und Calvin unterscheidend, sagt er, der letztere trete im Sündigen nicht ein; Adam habe vielmehr gerne, mit innerer Lust gesündigt (spontaneo motu, im Gegensatze von libero und voluntario motu) und, obschon er sich der Sünde nicht habe erwehren können, habe er sich doch ihrer auch nicht erwehren wollen; was eben seine Strafbarkeit begründe [39].
Zweites Kapitel § 5 Es ist eine der merkwürdigsten Erscheinungen in der Geschichte der Religionsstreitigkeiten der drei letzten Jahrhunderte, daß die Reformatoren, nach deren Grundsätzen Adam bei seinem Falle einer unwiderstehlichen Notwendigkeit, die über ihn ausgesprochen wurde, erlag, Gott über diese Tat des ersten Menschen, die eigentlich nach ihren Ansichten ein unbedingtes Leiden desselben genannt werden muß, in einen so furchtbaren Zorn ausbrechen und ein so schreckliches Strafgericht halten lassen, daß es keine geringe Aufgabe ist, zu erklären, wie so unzusammenhängende Vorstellungen in einem und demselben Kopfe verbunden werden konnten. Wenn der umfassende Ausdruck “die Reformatoren” gebraucht wird, so ist derselbe mit Bedacht gewählt; denn auch Luther und Melanchthon hatten ihre Theorie von der Erbsünde schon vollkommen ausgebildet, als beide noch ganz in die im vorigen Paragraphen beschriebenen Vorstellungen verstrickt waren, welche Zwingli und Calvin nur aufnahmen und weiter ausführten. Wie konnte Adam der Gegenstand eines so furchtbaren Zornes werden, wenn er tat, was er tun mußte, wenn er verübte, was er nicht unterlassen konnte [41] Daher denn auch eine Auffassung der Erbsünde von seiten der Protestanten, welche beinahe nach allen Beziehungen hin, man verzeihe den Ausdruck, ohne Sinn und Verstand ist. Durch die ausschweifendste Darstellung der Folgen der Sünde Adams scheinen sie das Sündengefühl und das Bewußtsein der Schuld wieder schärfen zu wollen, welches sie durch ihre Ansicht von dem Verhältnisse Gottes zum Bösen zu tilgen im Begriffe waren. Und doch verschlimmerten sie die Sache noch mehr, wie sich aus folgenden Darstellungen ergeben wird, die sich aber zuerst mit den Grundsätzen der Synode von Trient beschäftigen.
Die Lehre der katholischen Kirche von der Erbsünde ist höchst einfach und läßt sich auf folgende Sätze zurückführen. Adam verlor durch die Sünde seine ursprüngliche Gerechtigkeit und Heiligkeit, zog sich durch seinen Ungehorsam das Mißfallen und die Strafgerichte Gottes zu, verfiel dem Tode, und wurde überhaupt in allen seinen Teilen, sowohl dem Leibe als der Seele nach, verschlimmert [42]. Dieser sein sündhafter Zustand geht auf alle seine Nachkommen über und zwar vermöge der Abstammung von ihm, mit der Folge, daß niemand durch sich selbst imstande ist, nicht einmal mit Hilfe des vollkommensten, ihm von außen dargebotenen Sittengesetzes, selbst nicht des im alten Bunde geoffenbarten, Gott wohlgefällig zu handeln, und in anderer Weise gerecht vor ihm zu werden, als allein durch das Verdienst Jesu Christi, des einzigen Mittlers zwischen Gott und den Menschen [43].
Wird nun zu dem Gesagten noch hinzugefügt, daß die Väter von Trient die Freiheit, obwohl sie dieselbe als sehr geschwächt darstellen, doch dem gefallenen Menschen noch beilegen [44] und deshalb lehren, daß nicht alles religiös-sittliche Tun desselben notwendig Sünde, wenn gleichwohl auch nie aus sich und durch sich gottgefällig und irgend vollkommen sei [45], so haben wir alles und zwar in der symbolischen Form mitgeteilt, was streng als Kirchenlehre festzuhalten ist. Daß übrigens auch der gefallene Mensch noch Träger des Bildes Gottes sei (§. 1.), ergibt sich aus dem Gesagten von selbst [46].
Wenn dem Leser dieser tridentinischen Bestimmungen alle jene Fragen gegenwärtig sind, welche seit der Entstehung der pelagianischen Verirrungen, ja schon weit früher, der Wissenschaft über den hier besprochenen Gegenstand zur Beantwortung vorgelegt wurden, so wird es seiner Aufmerksamkeit unmöglich entgehen, daß die versammelten Väter für gut befunden haben, einen beträchtlichen Teil dieser Fragen in ihren Beschlüssen gar nicht zu berühren, und sich denselben gegenüber in einer gewissen Allgemeinheit zu halten. Wir sagen: diesen Fragen gegenüber; denn über den Gegenstand an sich, nach der Heiligen Schrift und der kirchlichen Überlieferung betrachtet, hat die Synode sehr bestimmte und erschöpfende Erklärungen abgegeben. Da nun aber die Lutheraner in diesem Lehrstücke zu den verderblichsten Übertreibungen fortgeschleudert wurden, und in den ersten Jahren der Reformation einige katholische Theologen, z. B. Albertus Pighius, wie es in der Widerlegung extremer Vorstellungen in verzeihlicher Weise zu geschehen pflegt, dem entgegengesetzten Extreme sich näherten [47], so wurden die Beschlüsse von Trient überaus vorurteilsvoll von den Protestanten empfangen, und denselben unbesonnen und leidenschaftlich der Vorwurf des Pelagianisierens gemacht.
Die Verhandlungen von Trient nun anlangend, so berichtet Payva ab Andrada, ein portugiesischer Theologe, der auf dem Konzilium anwesend war, in dem dritten Buche seiner Verteidigung desselben, daß es sich absichtlich nicht in nähere Bestimmungen habe einlassen wollen, und Pallavicini sagt: das Tridentinum habe sich mehr negativ ausgesprochen, indessen jedenfalls so bestimmt, daß die damals gangbaren Verirrungen in diesem Lehrstücke klar und deutlich als solche abgewiesen seien; wenn die Kirche keine genaue Begriffsbestimmung von der Erbsünde zu geben vermöge, so sei es doch hinreichend, das zu bezeichnen, was die Erbsünde nicht sei; dies vermöge sie aber ebensowohl, als der, welcher keinen klaren Begriff vom Himmel habe, dennoch mit Zuversicht behaupten dürfe, er sei keine mit Goldpapier geschmückte Leinwand. Auch erzählte derselbe berühmte Geschichtsschreiber, die päpstlichen Gesandten hätten die versammelten Väter darauf aufmerksam gemacht, über die Natur der Erbschuld selbst nicht zu entscheiden, da hierüber die Gottesgelehrten verschiedener Ansicht seien (weil Schrift und Tradition keine Aufschlüsse geben), und fügt bei, die Synode sei ja nicht berufen worden, um über Meinungen abzuurteilen, sondern Irrtümer zu verurteilen. Wir werden uns bald überzeugen, wie angemessen dieses Urteil ist [48].
“Alle, die aus Adams Samen stammen”, sagt der heilige Bonaventura , “haben eine nicht nur durch Strafe, sondern auch durch Schuld verdorbene Natur.” Dies zeigt sich in dem Mangel der Anschauung Gottes, in der Schmach, die auf der Vernunft lastet, und in dem Übergewicht der bösen Lust (concupiscentia). Aus dem Mangel der Anschauung Gottes leuchtet es aber deswegen ein, weil niemand des ewigen Gutes, für dessen Genuß er geschaffen ist, beraubt werden kann, es sei denn, er habe etwas an sich, was ihn unwürdig macht, sich vor dem Angesichte Gottes zu stellen; etwas der Art aber ist nur die Schuld. Was das Zweite betrifft, so darf sich niemand einer Sache schämen, die ihm von Natur eigen ist; aber schämt sich die Vernunft gewisser Bewegungen des Fleisches nicht? Auch dieses weist auf eine anererbte Schuld. Das Übergewicht der bösen Lust ist auch ganz gewiß; denn nur alsdann ist die Seele des Menschen geordnet, wenn der Geist Gott, und dem Geiste das Fleisch und die tierischen Kräfte untertan sind [49]. Ungeordnet und darum verkehrt ist aber die Seele des Menschen, wenn das umgekehrte Verhältnis derselben zu Gott und der Sinnlichkeit stattfindet. Dies ist nun der Fall, und nicht nur der Glaube lehrt so, sondern auch die Philosophie stimmt mit ihm überein. Die Gewalt der bösen Lust und das Gesetz der Glieder, welches ein jeder von Geburt an hat, nimmt den Geist gefangen, und beherrscht ihn. Unbestreitbar ist es also, daß die Seele eines jeden von Geburt an verkehrt ist (perversa); ist nun die rechte Beschaffenheit der Seele Gerechtigkeit, so ist die verkehrte Beschaffenheit Schuld, und da wir von Geburt an verkehrt sind, so haben wir auch von Geburt an eine Schuld. Hieran zweifelt niemand, als wer die Gewalt der bösen Lust nicht kennt und nicht weiß, in welcher Art der vernünftige Geist Gott gehorsam sein soll. Denn es ist anerkannt, daß unser Geist Gott nicht vollkommen gehorsam ist, außer wenn er ihn über alles und um seiner selbst willen liebt. Auch ist anerkannt, daß niemand Gott im Stande der verdorbenen Natur über alles und wegen seiner selbst ohne Gnadengabe liebt, ja notwendig wird er von der Gewalt der bösen Lust in der Art besiegt, daß er sich selbst oder irgendein Scheingut mehr liebt. So ist also jede Seele von Geburt eine Sünderin, weil sie verkehrt und ungeordnet ist. Und daher sagt der Apostel in der Person der gefallenen Menschheit: “Ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, welches dem Gesetze meines Geistes widerstreitet, und mich unter das Gesetz der Sünde gefangen nimmt.” Dann ruft er aus: “Ich unseliger Mensch, wer wird mich von dem Tode dieses Körpers befreien?” und antwortet: “Die Gnade Gottes durch Jesus Christus.” Wer auf dieses Gesetz in den Gliedern achtet, und auf unser Mißverhältnis zu Gott, wird gewiß nicht leugnen, daß der Mensch von Geburt an sündhaft sei, ja es wird ihm so wahr erscheinen, daß er ebenso wenig an der Erbsünde, als an der wirklichen zweifelt. Haben es nun die Philosophen und auch einige Häretiker nicht anerkannt, so geschah es, weil sie keinen Begriff von der Geradheit der Seele, von der Gerechtigkeit und davon hatten, wie sehr die Seele auf Gott hingerichtet sein soll. Die ganze menschliche Natur ist also einem Verderben preisgegeben; und zwar nicht nur, weil sie der Strafe unterliegt, sondern auch, weil sie wahrhaft sündhaft ist [50]. Die Erbsünde, sagt sofort dieser große Lehrer der Kirche, könne beschrieben werden als der Mangel der ursprünglichen Gerechtigkeit, womit die Verkehrtheit der Natur und die böse Lust zugleich gesetzt sei.”
Vernehmen wir nun den heiligen Thomas von Aquino, das Haupt einer andern großen Schule des Mittelalters; er verbreitet sich also über die Erbsünde: “Da es sich mit entgegengesetzten Dingen auf eine entgegengesetzte Weise verhält, so kann aus der ursprünglichen Gerechtigkeit die ihr entgegengesetzte Erbsünde erklärt werden. Die ganze Ordnung der ursprünglichen Gerechtigkeit bestand aber darin, daß der Wille des Menschen Gott gehorsam war, ein Gehorsam, der vorzugsweise durch den Willen geleistet wurde; denn ihm kommt es zu, alle übrigen Teile der Seele ihrer höchsten Bestimmung gemäß zu bewegen. Daraus also, daß sich der Wille von Gott abwandte, folgte eine Unordnung in allen anderen Vermögen der Seele. So also ist die Beraubung der ursprünglichen Gerechtigkeit das Formale (das Ursächliche, Bestimmende und Wesentliche) in der Erbsünde; jegliche andere Unordnung der Seelenkräfte verhält sich aber in der Erbsünde, wie etwas Materiales (als Bestimmtes, als Folge, als Erscheinung des Wesens). Die Unordnung der übrigen Seelenkräfte zeigt sich vorzüglich darin, daß sie sich in verkehrter Weise zu den veränderlichen Gütern hinwenden, eine Unordnung, welche durch den bekannten Ausdruck “böse Lust, concupiscentia” bezeichnet werden kann. Dem Wesen (forma) nach ist also die Erbsünde der Mangel der Urgerechtigkeit, der Erscheinung (materia) nach die böse Lust [51].”
An einem andern Orte sagt er: “Alle Kräfte der Seele sind gewissermaßen aus der ihnen eigentümlichen Richtung und Bestimmung verrückt worden, eine Verrückung, welche Verwundung der Natur genannt wird. Es gibt aber vier Vermögen der Seele, welche Träger von Tugenden werden können, nämlich die Vernunft, worin die Erkenntnis, der Wille, worin die Gerechtigkeit, die Strebekraft, worin der Mut, das Begehrungsvermögen, worin die Mäßigkeit ist. Inwiefern nun die Vernunft aus ihrer Richtung auf die Wahrheit verrückt worden ist, entstand die Wunde der Unwissenheit; inwiefern der Wille aus seiner Richtung auf das Gute verrückt worden ist, entstand die Wunde der Bosheit; inwiefern das Strebevermögen aus seiner Richtung auf das Schwierige verrückt worden ist, entstand die Wunde der Schwäche; inwiefern endlich das Begehrungsvermögen aus seiner durch die Vernunft zu leitenden Richtung auf das angenehme Ziel verrückt worden ist, entstand die Begierlichkeit.” (Thom. Aquin. 1.1. q. 85. art. III.) Wie nun Bonaventura mehr praktisch in wehmütig klagender Wortfülle, Thomas mit wissenschaftlicher Genauigkeit und schärferer Unterscheidung die Erbsünde darstellten, so finden wir sie in den kirchlichen Schulen vor der Empörung gegen die Kirche überhaupt dargestellt, so daß niemand, der mit einiger Nüchternheit und Sachkenntnis urteilt, auch nur die leisesten Spuren des Pelagianismus wahrnehmen wird.Wenden wir uns nun zu den Gegensätzen der Scholastiker, so zeigen sich die wichtigsten Unterschiede in der Darstellung der Art und Weise, wie sich der sündhafte Adam auf seine Nachkommenschaft vererbt. Vor allem andern muß bemerkt werden, daß die Scholastiker die Ansicht, als würden die Seelen von den Eltern durch die Zeugung auf die Erzeugten fortgepflanzt (traducianismus), aus sehr wichtigen Gründen als eine irrtümliche verworfen, und dagegen die Lehre, daß die Seelen je von Gott erschaffen werden, als die allein richtige und wahre festgehalten wurde (creatianismus). Ist nach der ersten Ansicht die Übertragung der Erbsünde, nach dem Grundsatze, daß Gleiches von Gleichem stamme, daß also von einem Sünder nur wieder ein Sünder erzeugt werde, scheinbar leicht zu erklären, so bietet dagegen die Lehre von der jedesmaligen Erschaffung der Seelen für die wissenschaftliche Behandlung unseres Lehrstücks schon auf den ersten Anblick große Schwierigkeiten dar. Denn was begegnet der eben von Gott geschaffenen, und rein, gesund und unversehrt erschaffenen Seele, daß sie im Moment ihrer Vereinigung mit dem Körper, nicht etwa nur der übernatürlichen Gaben beraubt, sondern an allen ihren natürlichen Kräften so tief verwundet ist, und in einem so entsetzlichen Mißverhältnisse zu Gott und sich selbst steht? Den Lehrern der Wissenschaft ist es zu allen Zeiten schwer gewesen, ihre Unwissenheit zu gestehen. Der Erwartung der Lernenden, nun alles zu begreifen, entspricht die Anmaßung der Lehrer, alles begreiflich zu machen. Wohl wird der Satz verteidigt, daß es in der wahren Religion Mysterien, einige Unbegreiflichkeiten geben müsse; statt dessen sollte aber der Satz durchgeführt werden, daß für uns, in unserem dermaligen Zustande, die wahre Religion an sich selbst Mysterium, daß sie das Mysterium sei, und daß uns folglich auch alle ihre einzelnen Momente Mysterien darbieten. Hier ist das Ganze geheimnisvoll, darum auch die Teile; nicht dies und jenes nur ist mysteriös, sondern alles. Einige Scholastiker lehrten, durch Adams Fall sei eine zerrüttende, verpestende Qualität in den menschlichen Leib eingedrungen, welche, durch die Zeugung fortgepflanzt, die Seele im Moment ihrer Vereinigung mit dem Leibe umfange, sie zu sich herabziehe, und ihr die Zerrüttung desselben mitteile. Abgesehen davon, daß die Entstehung einer positiven bösen Qualität selbst ein Rätsel, ja undenkbar ist, so faßte diese Erklärung das Böse sehr materiell auf; sie mochte daher etwa genügende Aufschlüsse über die körperlichen Krankheiten und den Tod zu gewähren scheinen, auf dem geistigen Gebiete aber erwies sie sich völlig unbrauchbar. Wie konnte doch auch die Verpflanzung eines solchen körperlichen Giftes dem Geiste die Keime alles dessen mitteilen, was die Selbstsucht in ihrem ganzen weiten Umfang ausmacht, Empörung gegen Gott, Hochmut und Neid gegen die Menschen, Eitelkeit und Selbstgefälligkeit in sich selbst? Würde ein so zerrütteter geistiger Zustand, würde diese krankhafte, sittliche Beschaffenheit durch die Verbindung der Seele mit dem Leibe erzeugt, so müßte es gewiß sehr schwer werden, den Begriff eines moralischen Übels festzuhalten. Diese Theorie wurde deshalb von den meisten Scholastikern verworfen, und statt derselben angenommen, daß auch der gefallene Mensch, von der Erbschuld abgesehen, ganz wie Adam, denselben ohne übernatürliche Gaben betrachtet, geboren werde, d. h. sowohl mit allen natürlichen Vermögen, Kräften und Eigenschaften des paradiesischen Menschen als auch ohne irgendeine an sich böse Qualität. Der Widerstreit zwischen Vernunft und Sinnlichkeit habe darin seinen Grund, daß der Mensch aus zwei so ungleichartigen Wesenheiten zusammengesetzt sei, weshalb auch Adam ohne das göttliche ihm mitgeteilte Prinzip, welches den niederen Teil dem höheren unterworfen, diesen Kampf allmählich von selbst in sich würde gefühlt haben (S. §. 1.) und zwar ohne schon deswegen als Sünder dazustehen, weil es eben die Natur der Sinnlichkeit sei, nicht vernünftig zu sein. Der genannte Kampf wäre ein natürliches Ereignis gewesen. Das Böse des verdorbenen Zustandes, in welchem jetzt der Mensch geboren werde, sei darin zu setzen, daß er in Adam verdient habe, der durch die übernatürliche Gnadengabe gewährten Gerechtigkeit beraubt zu werden, d. h. den Aufruhr des Fleisches gegen den Geist zu empfinden. Was ohne die übernatürliche Gnadengabe Natur gewesen wäre, ist wegen des selbstverschuldeten Verlustes dieser Gabe Strafe aller aus Adam Geborenen [52].
Indem diese Theorie die Verkehrtheit des Willens, mit der wir geboren werden, nicht erklärt und nicht zu erklären vermag, genügt sie auch nicht. Sie spricht nur von einem Kampfe zwischen dem sinnlichen und vernünftigen Prinzip, der ohne das göttliche als Naturereignis eingetreten wäre; es handelt sich aber vor allem anderen darum, die Wunden des Geistes, zumal die Verkehrtheit des Willens, zu erklären. Befände sich der Geist des Menschen etwa auch, weil er eine von Gott verschiedene Wesenheit ist, an sich, d. h. ohne die übernatürliche Gnadengabe, als nackte Endlichkeit gedacht, in der Stellung Gott und allem Heiligen gegenüber, in welcher jetzt der Mensch geboren wird? Dann wäre ja der Mensch als endliches Wesen an sich schon zur Sünde geneigt und würde es nicht erst durch Mißbrauch seiner Freiheit. Dem übernatürlichen, göttlichen Prinzip kann gewiß nicht die Bestimmung gegeben sein, die im Menschen als einem Geschöpfe vorhandene Neigung zur Opposition gegen seinen Schöpfer zu entfernen, oder vielmehr nur nicht zum Ausbruche kommen zu lassen; durch die Abwesenheit dieser übernatürlichen Gnadengabe, ohne welche nun alle geboren werden, ist deshalb der Mensch auch noch nicht willensverkehrt; er kann es werden, und wird es ohne Zweifel leicht werden, aber er ist es im Momente seiner Bildung noch nicht. Das Mißverhältnis dieser Erklärung zu dem zu erklärenden Gegenstand hat nun zu manchen Einwürfen gegen die katholische Lehre von der Erbsünde Veranlassung gegeben. Man ging von der durch eine leidenschaftliche Aufregung an die Hand gegebenen Voraussetzung aus, daß die katholischen Theologen eigentlich nur das als Begriff der Erbsünde gelten lassen, was die vorgelegte Theorie wirklich erkläre. Anstatt der Schwäche der Spekulation wurde die Gesinnung angeklagt [53].
§ 6 Die Augsburgische Konfession drückt sich über die Erbsünde in dieser Weise aus: “Sie lehren, die Protestanten nämlich, daß nach Adams Falle alle Menschen, die durch die Kräfte der Natur erzeugt sind, in Sünde geboren werden, d. h. ohne Furcht Gottes, ohne Vertrauen auf ihn und mit der Begierlichkeit [54].” Dieser Artikel beschreibt die Erbsünde als Privation und Position; als Beraubung von Gutem und als Setzung von Bösem. Wir haben zuerst die Aufgabe, den Charakter des entzogenen Guten näher zu bestimmen. Die katholischen Theologen auf dem Reichstage zu Augsburg, Eck, Wimpina und Cochläus, die eine Widerlegung des vorgelesenen lutherischen Bekenntnisses ausgearbeitet hatten, bemerkten in ihrem Aufsatze, daß die Beschreibung der Erbsünde: “die Menschen würden ohne Furcht Gottes und ohne Vertrauen auf Gott geboren,” deshalb sehr unpassend und unzulässig sei, weil Gott fürchten und auf ihn vertrauen in einer Reihe von geistigen Tätigkeiten bestehe, die niemand dem bewußtlosen Kinde zumuten werde; daher sei auch der Mangel dieser Thätigkeiten in keiner als eine Sünde des Neugebornen zu betrachten; das Nichtvorhandensein jener Tugenden begründe eine mit Selbstbewußtsein und Freiheit begangene Schuld und bezeichne auch darum das Wesen des Erbübels nicht, eben weil mit diesem der Mensch geboren werde, und dasselbe vor allem Selbstbewußtsein vorhanden sei [55].
Der Verfasser der Apologie sah sich hierdurch genötigt, mit der wünschenswerten wissenschaftlichen Genauigkeit zu sprechen. Er erläuterte die unklar gedachte Stelle mit der Bemerkung, daß durch dieselbe nichts anderes angedeutet werden sollte, als daß dem auf natürlichem Wege erzeugten Menschen die Anlage oder die Gaben mangelten, Furcht gegen Gott und Vertrauen auf ihn zu erzeugen [56]. Hiermit war in der Tat das Dogma der Protestanten mit aller Schärfe vorgelegt, indes doch nur demjenigen verständlich, der die Verbindung desselben mit anderen Lehren kannte. Den Lesern wird es erinnerlich sein, daß der Mensch, nach den Ansichten Luthers und der Seinigen, ursprünglich nur mit natürlichen Kräften begabt wurde, eine Vorstellung, die nun hier einen äußerst wichtigen Einfluß gewinnt. Denn da der gefallene Mensch, als solcher, offenbar jene Tugenden nicht mehr entwickeln kann, die dem noch Reinen möglich waren, und deshalb nicht kann, weil ihm die Kräfte dazu mangeln, so sahen sich die Reformatoren in der Lage, die Lehre aufzustellen, er habe gewisse natürliche Kräfte nicht mehr [57].
Am meisten Aufschluß über diese abhanden gekommenen natürlichen Kräfte gewährt uns die Konkordienformel. In den synergistischen Streitigkeiten, welche die lutherische Kirche beunruhigten, behauptete Victorin Strigel [58], ein Haupt der heterodoxen Partei, ein scharfsinniger, wohlunterrichteter Denker, der mit den Verteidigungsmomenten der Katholiken wohl vertraut [59], und von der Unbesiegbarkeit des Dogma von der Freiheit überzeugt war, daß auch der gefallene Mensch wenigstens noch die Anlage, die Fähigkeit, das Vermögen besitze, Gott zu erkennen und das Heilige zu wollen, obschon diese Anlage völlig gelähmt, gleichsam erstorben sei, und nie für sich in einige Tätigkeit übergehe.
Die Formeln, deren er sich bediente, sind: der gefallene Mensch besitze noch den modum agendi, capacitatem, aptitudinem, d. h. er erfreue sich doch noch wenigstens der leeren Erkenntnis- und Willensform in Bezug auf die geistlichen Dinge, obgleich sie alles wirklichen und wesentlichen Gehaltes entblößt sei [60]. Obschon nun Victorin die Folgen der Sünde Adams für das ganze aus ihm sich entwickelnde Geschlecht weit zerstörender auffaßte als die Katholiken wenigstens durch die trientischen Bestimmungen sie aufzufassen unmittelbar gehalten sind, so genügte seine Betrachtungsweise den Orthodoxen seiner Kirche dennoch nicht; sie nannten ihn einen Pelagianer, und behaupteten, auch jenes bloße Vermögen, jene an sich leere Form sei im Menschen zerstört, und sprachen hierin allerdings ganz im Sinne Luthers. Die Concordienformel nun verwarf gleichfalls die Ansicht der Synergisten und erklärte sich dahin, daß der gefallene Mensch auch nicht einmal mehr das bloße natürliche Vermögen besitze, Gott in seinem heiligen Willen zu vernehmen und dem Erkannten gemäß zu wollen [61], Mit einem Worte, das Erkenntnis- und Willensvermögen, insofern sich dasselbe auf die göttlichen Dinge bezieht, wird dem bloß natürlichen, nur aus Adam geborenen Menschen abgesprochen, oder wenn wir wollen, die vernünftige Anlage. Die Wahrheit dieser Auffassung der lutherischen Lehre von der Erbsünde wird durch die Erklärung der Konkordienformel, daß sie nicht gemeint sei, den gefallenen Menschen für ein unvernünftiges Geschöpf zu halten [62], keineswegs aufgehoben, vielmehr bestätigt; denn sie weist ausdrücklich jenem Vermögen des menschlichen Geistes, welches sie Vernunft nennt, bloß die endliche Welt als Wirkungskreis an [63], und legt dadurch unverkennbar zu Tage, daß nach ihrer Meinung, der von Gott verstoßene Adam und alle seine Söhne, inwiefern sie nun dieses sind, keine geistige Anlage mehr für Gott und sein Reich bewahrt haben.
Zu demselben Resultate gelangen wir auf mehreren Wegen. Der erste, der sich uns darbietet, ist dieser: das Bild Gottes beschreiben die lutherischen Bekenntnisschriften, wie oben (§. 2.) nachgewiesen wurde, als die natürliche Fähigkeit des Menschen, Gott zu erkennen, ihn zu fürchten und auf ihn zu vertrauen. Diese Fähigkeit ist es aber gerade, die wir vorzugsweise als die Vernünftigkeit, die vernünftige Anlage im Menschen verehren. Nun von eben diesem Bilde Gottes versichern die Lutheraner wiederholt, daß es durch die Erbsünde vertilgt und den Nachkommen Adams geraubt worden sei [64]. Der zweite Weg, der das bezeichnete Ergebnis gleichfalls bestätigt, besteht in den Ansichten, die die Lutheraner von der Freiheit des Menschen nach dem Falle aufstellen; nach denselben wird nämlich behauptet, daß er bloß eine gewisse äußerliche, in den geistlichen Dingen aber keine habe, sondern sich in Bezug auf die letzteren wie ein Stein, ein Klotz usw. - Dies sind die häufig gebrauchten Vergleichungen - verhalte [65]. Desgleichen bemerkt die Concordienformel, daß der gefallene Mensch nichts auf die göttlichen und geistigen Dinge Bezügliches denken, glauben und wollen könne, daß er für alles Gute völlig erstorben sei und kein Fünkchen geistlicher Kräfte mehr besitze [66].
Ist es schlechterdings undenkbar, wie aus dem Organismus des menschlichen Geistes ein Glied herausgenommen und vertilgt werden könne; wie ein Vermögen einer einfachen Wesenheit, die nicht aus Teilen zusammengesetzt ist, deren Vermögen nur für die Wissenschaft auseinander gehalten werden, in dem an sich Eines in allen und alle in Einem sind, solle von allen übrigen abgelöst und vernichtet werden mögen, so ist hiermit das Unbegreifliche der lutherischen Vorstellung von der Erbsünde noch nicht erschöpft [69].
Von dem Positiven, das an die Stelle des Entzogenen trat, ist ebensowenig eine Vorstellung möglich. Luther stellt in seinem Kommentar über die Genesis, zum dritten Kapitel derselben, eine Vergleichung zwischen der Erbsünde und der ursprünglichen Gerechtigkeit an, und zieht aus der Essentialität der Erbsünde Schlüsse auf die Essentialität der ursprünglichen Gerechtigkeit [70]! Ist demnach Luthern die ursprüngliche Gerechtigkeit das Vermögen, Gott zu lieben und zu erkennen, so wäre ihm die Erbsünde das Vermögen, Gott nicht zu lieben und nicht zu erkennen, oder vielmehr ihn zu hassen, und im Finstern über ihn zu sein! Es ist dies ungefähr dasselbe, wie wenn man sagen wollte, jemand besitze das Vermögen, nicht nur kein Vermögen, sondern überdies noch Schulden zu haben. Luthern war es mithin nicht nur ausgemacht, daß durch Adams Fall das gesamte Menschengeschlecht einen integrierenden Teil seines geistigen Wesens verloren habe, sondern auch, daß im Menschen ein entgegengesetztes Wesenhaftes dafür eingetreten sei; und dies letztere war ihm in dem Grade über allen Zweifel erhaben, daß er aus demselben, als einem schlechthin Unbestreitbaren, gleichsam an sich Gewissen, ganz unbedenklich weitere Folgerungen zieht! Ist es unbegreiflich, wie das Bild Gottes aus dem menschlichen Geiste mit der Wurzel ausgerottet werden konnte, so ist es nun noch unbegreiflicher, wie eine neue Essenz in den Geist eingefügt werden mochte! Und aus dem Bösen etwas Wesenhaftes machen! Mit den Gnostikern und Manichäern waren dergleichen Vorstellungen nach unsäglicher Anstrengung der Kirche beinahe durchgängig verschwunden, und nun tauchten sie so mächtig und voll Anmaßung abermals auf.
Das Wesenhafte, das Luther in der Erbsünde fand, setzte sich übrigens nach ihm im Geist und Leib des Menschen an. Folgende Stellen, die sich bei ihm in verschiedenen Büchern finden, mögen als Beweise für das eben Gesagte dienen, wie sie denn überhaupt die Beschaffenheit seiner Vorstellungen über diesen Gegenstand außer Zweifel setzen. Seine Ausdrücke sind: Sündigen sei die Natur des Menschen, Sünde sei die Wesenheit des Menschen, die Natur des Menschen sei nach dem Fall eine andere geworden, die Erbsünde sei eben das, was aus Vater und Mutter geboren wird (gleichbedeutend sind die Formeln: der Leim, aus dem wir gebildet werden, sei verdammlich, der Fötus im Mutterleibe sei Sünde); auch sagt er: »der Mensch, wie er von Vater und Mutter geboren ist, mit seiner ganzen Natur und Wesen, sei nicht nur Sünder, sondern die Sünde selbst [71]. Melanchthon nennt gleichfalls die Erbsünde eine »angeborene Kraft«, und in einem Zusammenhange, der es sehr bestätigt, daß auch er sich etwas Wesenhaftes unter derselben dachte [72].
Dies positiv Böse nun, das wahre Ebenbild des Teufels, welches nach dem Verluste des Ebenbildes Gottes durch die Zeugung im Menschengeschlecht fortgepflanzt werden soll, gibt den lutherischen Begriff von der Konkupiszenz, den die Reformatoren als den einzig biblischen, einzig richtigen, genauen und erschöpfenden von der Erbsünde der christlichen Welt aufdringen wollten (Apolog. II. § 3 seq. p. 54 seq). Sie verstehen hiernach unter der Konkupiszenz ein völliges Auf- und Untergehen aller Triebe, Neigungen und Bestrebungen des Gefallenen und nicht Wiedergebornen im Bösen, und zwar vermöge einer auf ihn von Adam aus übergegangenen bösen Kraft.
Luther streifte unleugbar an dem manichäischen Gebiete an, wenn er nicht wirklich schon die Grenze überschritt, und es ist auf das dankbarste anzuerkennen, daß sich seine Schüler mit so vielem Nachdruck dem Eindringen so großer Verirrungen entgegensetzten; wiewohl noch immer die Ausdrücke, die sie von der Erbsünde gebrauchten (congenita prava vis, positiva qualitas), den ursprünglichen Zustand der Lehre verraten; auch weiset die protestantische Lehre, daß die Erbsünde selbst nicht durch die Wiedergeburt, selbst nicht durch Gotteskraft aus dem Menschen, solange er hienieden lebt, verschwinde, auf das Essentielle hin, welches Luther in dem angebornen Übel fand; - eine Lehre, die eine wesentliche Differenz zwischen dem Protestantismus und Katholizismus begründet, wovon aber erst weiter unten ausführlicher gesprochen werden kann. Übrigens muß sich Luther in einer höchst seltsamen Geistesstimmung befunden haben und von den dunkelsten, verworrensten und unheimlichsten Gefühlen bewegt worden sein, als die ersten Gedankenkeime für seine neue Lehre von der Erbsünde in ihm erwachten; denn wenn er damals mit Melanchthon lehrte, daß Gott das Böse in dem Menschen wirke, wie konnte er zugleich unter demselben etwas Essentielles sich vorstellen und von einem sündhaften Stoffe sprechen, aus dem wir gebildet würden? Die Feststellung eines solchen Verhältnisses zwischen Gott und dem Bösen, daß nämlich jener der Urheber von diesem sei, ist wieder gar nicht manichäisch, und führt, wenn wir den spekulativen Begriff der lutherischen Lehre von der Erbsünde geben wollen, einer ganz besonderen Ansicht entgegen, die wir gehörigen Ortes mitteilen werden, sobald nämlich alle Momente, die eine erschöpfende Einsicht in den Gegenstand gewähren dürften, werden vorgelegt sein. Hier sind nur noch einige Folgerungen namhaft zu machen, welche die symbolischen Schriften der Lutheraner selbst aus den bereits entwickelten Grundbegriffen ziehen.
Wir erlauben uns über diese lutherische Lehre von der Erbsünde noch folgende vorläufige Bemerkungen. Es ist nicht zu verkennen, daß die Gesinnung, die dieses so beschaffene Lehrstück hervorgerufen hat, sehr löblich sei: sie ist offenbar aus einem tiefen Gefühl des menschlichen Elendes, der allgemeinen Sündhaftigkeit und der Erlösungsbedürftigkeit des Menschengeschlechts hervorgegangen, und will dieses Gefühl rege erhalten. Erkennen wir dies freudig an, so dürfte es doch ebenso gewiß sein, daß das genannte Dogma diesen Zweck nur dort erreicht, wo die Macht des Gedankens nicht aufkommt, und dem Drange dunkler Gefühle ohne klares Bewußtsein nachgegeben wird. Es wird nämlich vergessen, daß, nachdem Gott eine solche mechanische Tätigkeit an dem Menschen verübt hat, als da ist die gewaltsame, schon allem vernünftigen, noch mehr aber dem christlich-erleuchteten Denken so tief widersprechende Vertilgung eines natürlich geistigen Vermögens, und zwar seines religiös-moralischen, jenes ihn allein und wahrhaft vor den Tieren auszeichnenden Vorzugs, von gar keiner Sünde mehr von Adam bis auf Christus gesprochen werden könne, und alles moralische Übel sich in ein physisches umwandle. Wie sollte der Mensch sündigen, der auch nicht einmal die dunkelste Erkenntnis von Gott und seiner Bestimmung haben kann, der nicht einmal das Vermögen, das Heilige zu wollen, nicht einmal Freiheit besitzt? Er mag rasen, er mag wüten und zerstören, aber seine Handlungsweise wird nicht anders, als die eines wilden Tieres gewürdigt werden können. Die zweite Betrachtung, die sich uns aufdrängt, ist diese, daß durch Luthers Übertreibungen, sobald sie von den Seinigen als unhaltbar erkannt wurde, eine andere Übertreibung notwendig herbeigeführt werden mußte. Von einem Extreme, welches in der Behauptung besteht, daß durch Adams Fall alle höheren guten Keime im ganzen Geschlecht bis auf die letzte Spur vertilgt worden seien, wurde zu dem andern übergegangen, daß der Mensch auch jetzt noch nach jeder Beziehung ebenso beschaffen sei, und ebensogut die Welt erblicke, wie der ursprüngliche. Sobald der Damm in sich starker, aber unerleuchteter Gefühle durchbrochen war, vermochte nichts mehr die Hinwegspülung der ganzen Lehre vom Sündenfalle zu hemmen, da dieselbe in der Tat auch nur von dem verworrensten Gefühl eingegeben und keiner höheren geistigen Tätigkeit irgendein Einfluß bei ihrer Zusammensetzung verstattet worden war. Drittens: wenn zur Zeit der ersten Kirche von den Heiden so oft gefragt wurde, warum doch wohl auch Gott erst nach Jahrtausenden, die seit dem Falle verflossen, den Erlöser gesandt und so vielen Geschlechtern denselben versagt habe, pflegten die heiligen Väter, z. B. der Verfasser des Briefes an Diognet und Irenäus, das Verfahren Gottes unter dem pädagogischen Gesichtspunkt auffassend, zu erwidern: Gott habe das Menschengeschlecht durch eine lange, harte Erfahrung darüber belehren wollen, was es, sich selbst überlassen, vermöge; er habe es zur Selbsterkenntnis, zum Bewußtsein seiner Sünde und Schuld, zum lebhaften Gefühl seiner Krankheit und zur Demütigung vor Gott zu erheben beabsichtigt, um sofort die Sehnsucht nach einer höheren Hilfe recht fühlbar zu erwecken, und zu bewirken, daß dieselbe mit der klarsten Einsicht ihrer unbedingten Notwendigkeit zum Heile angenommen würde. Auch die Theologen des Mittelalters geben häufig diese Antwort [78]. Was könnte aber wohl vom lutherischen Standpunkt aus erwidert werden? Daß der Mensch, ohne Erkenntnis- und Willensvermögen für das Göttliche, Gott und seinem Reiche ferne bleiben müsse, ist wohl begreiflich; es begreift sich in einem Augenblick so gut, als es auf der Stelle jedermann einleuchtet, daß der nicht gehen kann, der keine Füße hat. Wozu also der Gewaltstreich, die religiöse Anlage des Menschen, das Gottebenbildliche in ihm zu vertilgen? Und wer dürfte eine Theodizee wagen, wer getraute sich die Kunst zu, Gott in der Weltgeschichte auch nur einigermaßen zu rechtfertigen?
Die Konkordienformel versucht übrigens ihrer Lehre auch ein tröstliches Moment abzugewinnen; sie macht nämlich die Bemerkung, wenn der Christ auch nur ein Fünkchen von Sehnsucht nach dem ewigen Leben in sich verspüre, so könne er sich durch dieses Gefühl von der begonnenen Tätigkeit Gottes in ihm überzeugen und freudig der Zukunft entgegenblicken, da Gott das von ihm angefangene Werk auch vollenden werde [79]. Aus dem Wahne nämlich, daß alle höheren geistigen Vermögen im gefallenen Menschen zerstört seien, folgte von selbst, daß in diesem auch nicht die schwächlichste und entfernteste Sehnsucht nach Gott aufkeimen könne; findet sich also eine solche im Christen, so ist dies den Verfassern der genannten symbolischen Schriften der sicherste Beweis von der begonnenen Wiedergeburt. Aus der Annahme aber, daß im Menschen nach dem Falle noch die religiöse Anlage zurückgeblieben, und darum auch die Möglichkeit eines höheren Sehnens noch vorhanden sei, fließe kein solcher Trost. Eine gefährliche Selbsttäuschung; denn daß allerdings auch bei den Heiden noch ein höheres Fünkchen glühe, ergibt sich aus der Betrachtung ihrer Geschichte, über welche wir einiges uns zu sprechen erlauben.
§ 7 Wir haben oben gesagt, daß von der gesamten Geschichte der Menschheit ein ganz anderes Bild gewonnen werde, je nachdem man sie vom katholischen oder vom orthodox-lutherischen Standpunkt aus betrachte. Wir sind nun imstande, diese Behauptung gehörig zu unterstützen; jedoch müssen wir ihrer näheren Begründung einige wenige Worte noch vorausschicken, für welche wir die freundliche Nachsicht der Leser auch insofern in Anspruch nehmen, als ihnen zum Teil schon Gesagtes noch einmal begegnen wird. Nichts Betrübenderes konnte sich wohl für die Kirche je ereignen, als durch die Lage der Dinge sich aufgefordert zu sehen, den Vorstellungen von der Größe der Erbsünde eine Grenze zu setzen. Denn es ziemt dem Christen, sich mit ganzer Seele dem unendlichen Schmerz über die Entfernung von Gott und das Elend der gefallenen Menschheit zu überlassen, und es erfüllt mit Traurigkeit, in diesen Gefühlen der innigsten Wehmut, die in sich schrankenlos sind, an eine Begrenzung des Übels gegen den Irrtum, der von außen her stürmt, denken zu müssen. Es ist jedoch trostvoll für die Kirche, daß diese Begrenzung nur vorgenommen wird, um den Begriff eines moralischen Übels festzuhalten, und dadurch der Empfindung des Schmerzes und der Trauer Wahrheit und eine feste Stütze zu verleihen, die sich in der Ansicht der Gegner, wie oben schon gesagt worden ist, nimmermehr findet. Nur solange eine regellose Aufreizung der Gefühle und der Einbildungskraft währt, mag der Empfindung aus derselben Nahrung zufließen; sobald jene Aufwallung aber zusammensinkt und der klare Gedanke mit der Besonnenheit erwacht, wird das Bodenlose der Gefühle entdeckt, die sofort mit ihrem leeren Grunde ganz verschwinden. Welcher Mensch kann bei der Wahrnehmung, daß sein Dasein nicht Gott geweiht ist, trauern, sobald er ernstlich bedenkt, was es heißt, Gott habe ihm das Vermögen dazu geraubt? Um das Übel in seiner wahren und ganzen Größe anzuerkennen, darf es nicht so groß geschildert werden, als es von den Bekenntnisschriften der Lutheraner geschieht. Wenn wir daher in dem Folgenden eine von dem Standpunkt der kirchlichen Orthodoxie aus selten oder nie durchgeführte Ansicht vom religiös-sittlichen Leben der heidnischen Völker vorlegen, so möge niemand wähnen, wir hätten kein Gefühl für die Größe des erblichen Übels, von welchem unser Geschlecht so schmerzhaft ergriffen ist, und darum auch für die Fülle der Wohltaten des Erlösers; gerade um dem Danke gegen ihn eine feste Grundlage zu geben, kehren wir die bessere Seite der heidnischen Welt hervor, und bedauern darum nur, nicht mehr als eine höchst fragmentarisch gehaltene Darstellung geben zu können. Die ausgedehnten Forschungen unserer Zeit über die alten und die fernsten Teile der neuen Welt haben auf eine glänzende Weise die katholische Darstellung des gefallenen Menschen bestätigt. Kein Volk hat sich gefunden, das nicht an Gott geglaubt und demselben durch Opfer seine Huldigung dargebracht hätte. Nirgends sind die religiösen Vorstellungen rein, ja allenthalben mit großen Irrtümern befleckt; aber im Aberglauben liegt stets noch der Glaube verborgen, und dieser ist das Gute in jenem: auch im rohesten Fetischdienste gibt sich der Zug des Menschen zu Gott hin noch zu erkennen; er beweist, daß der Gefallene noch geistliche Kräfte besitze, um in der Sprache der lutherisch-symbolischen Schriften zu reden. Melanchthon scheint eine Ahnung von dem Gewicht empfunden zu haben, das diese Erscheinung auf die Waagschale der Katholiken legt; er bemüht sich jedoch durch die Bemerkung das Gleichgewicht wiederherzustellen, daß die Reste des Glaubens uralten Traditionen zu verdanken seien [80]. Ohne diese Überlieferungen würde sich allerdings, wie denn dies auch von jeher die kirchliche Ansicht war, der Glaube verloren haben; allein hätten dieselben nicht auch zugleich einen Anknüpfungspunkt und eine Stütze im Innern des Menschen gefunden, so konnten sie unmöglich beibehalten werden; als etwas dem Menschen bloß Äußerliches mußten sie ganz vergessen werden und hinwegfallen. Die gesellschaftliche Vereinigung der Menschen und die Bildung der Staaten war zuverlässig ohne Religion nicht möglich, was gewiß auch daraus hervorgeht, daß die Nationen ihre Gottheiten hatten, deren Schutze das Gemeinwesen anvertraut war, denen Tempel errichtet, und zu welchen die Gebete emporgesandt wurden. Die Völker legten dadurch das Gefühl ihrer Abhängigkeit von einer höhern Macht an den Tag, die die Flehenden wirklich auch führte und beschützte, obschon sie keine würdige Verehrung fand. Dieser unvertilgbare Zug der Menschen sich zu vereinen und zu verbinden, ist in seinem Grunde wahrhaft religiös, und ein unauslöschliches Zeugnis von zurückgebliebenen Kräften höherer Art; der ganz böse Mensch (totus malus) würde keinen Trieb nach Gemeinschaft mehr gefühlt haben, und alle hätten sich in wildem Kampfe aufgerieben, im Falle es je zu einer Mehrheit von Menschen würde gekommen sein. Wenn Calvin diese Vereine, diese Vorbilder der künftigen Kirche, ohne Religion und ohne Glauben sich bilden und einzig ans dem Spiel der niederen Tätigkeit des Menschen hervorgehen läßt, so war ihm gewiß die Natur derselben völlig fremd (Calvin. Institut. l. II. c. 2. §. 13. p. 87).
Vorzüglich mag dies China, das Reich der Mitte, beweisen, welches im Sinne seiner uralten Grundlagen recht eigentlich eine Theokratie zu sein bestimmt ist. Der Kaiser soll nur Gottes Stimme hören und das Organ derselben für das ganze Volk, die Familie des Fürsten, werden. Alle Übel und Drangsale, die die Bürger dieses väterlichen Reiches quälen, werden demzufolge als göttlich verhängte Strafe des Ungehorsams gegen den unsichtbaren Herrscher betrachtet, und sittliche Besserung, Rückkehr zur frommen Einfalt der Väter als die Bedingung erneuerter Wohlfahrt des Landes angeschaut. Wer möchte hier eine Vertilgung der geistlichen Kräfte des Menschen vermuten, hier, wo die religiöse Betrachtungsweise des ganzen Lebens so durchgeführt und in die innersten Elemente der Staatsverfassung und Staatsverwaltung aufgenommen ist? Wer hat noch je auch nur einige Bruchstücke aus den Schriften der chinesischen Weisen gelesen, ohne den Ernst des Lebens, die trefflichen Sittenvorschriften und die oft so tiefe Weisheit zu bewundern, die uns in denselben so häufig begegne? Allerdings würde Melanchthon über die Tugenden des Lao-tseu, Congfu-tseu und Meng-tseu dieselbe Ansicht entwickeln, die er über die Seelenstärke des Sokrates, die Keuschheit des Xenokrates und die Mäßigkeit des Zeno vortrug, daß ihnen nämlich nur selbstsüchtige Rücksichten zugrunde lägen, und sie daher für Laster müßten gehalten werden [81]. Wir sind allerdings nicht gesonnen, die chinesischen oder die griechischen Weisen als reine Tugendhelden, die, inwiefern sie nur auf sich selbst standen, vor Gottes Gericht bestehen möchten, zu verehren, und zu behaupten, daß alle ihre Bestrebungen aus einer gottgefälligen Quelle hervorgegangen seien; allein es handelt sich nicht darum, ob jemand, der Christus nicht kennt, von seinem Lichte nicht erleuchtet und von seiner göttlichen Kraft nicht gestärkt ist, aus sich und durch sich rein und gerecht vor Gott werden möge, sondern die Frage ist, ob der gefallene Mensch durch und durch verdorben, ob alles, was er tue und sinne, Sünde [82] und verdammlich [83] sei, ob er sogar die religiös-sittliche Anlage verloren habe, ob jene Tugenden als etwas bloß Äußerliches betrachtet werden müssen, und in keinem tieferen Verhältnisse zum Menschen stehen, als körperliche Schönheit und Reichtum [84]. Dies leugnen wir, und leugnen es selbst auf die jetzt freilich nicht gar zu große Gefahr hin, daß es uns jemand zum Verbrechen anrechne, und uns als falsche Theologen bezeichne, gleichwie Philipp Melanchthon unsern edlen Vätern den Vorwurf machte, daß sie die philosophischen Studien in die Schulen eingeführt und die Lesung des Plato und Aristoteles empfohlen hätten, da doch jener voll von Hochmut sei, welchen er leicht seinen Freunden mitteile, und dieser im Grunde nur streiten lehre [85]: daß jene ehrwürdigen Männer nur noch ihre besseren Vorstellungen und sittlichen Bestrebungen in ihrem Geiste empfangen konnten, hält der Katholik für den Beweis noch zurückgebliebener guter Kräfte; daß jene nicht gediegen, und diese nicht vollkommen, ja höchst unvollkommen und meist geradezu böse waren, für eine notwendige Folge des Falles.
Wenden wir uns von den Chinesen zu den Hindus. Das Gefühl der Entfernung von Gott und des tiefen Falles der Menschheit zeigte sich bei denselben so rege, daß sie die ebenso ernste als kindliche, und in Betracht der Fassungskräfte des jugendlichen Weltalters, welches die ewige, reine Idee des Menschen in Gott nur dann festzuhalten vermag, wenn sie ihr eine konkrete Wirklichkeit in der Zeit gibt, sehr liebenswürdige Lehre von einer Präexistenz der Geister aufstellten, die um ihrer Sünden willen von Gott auf diese Erde verstoßen seien. Sie betrachteten daher das ganze menschliche Leben als eine von Gott gnädig verliehene Frist zur Reinigung und Läuterung, wie dies in dem bekannten Hollwellischen Fragmente so lebendig als klar ausgesprochen ist, und außer den Hindus noch in Tibet, im Reiche der Birmanen, von den Siamesen usw. geglaubt wird; auch wurde jene Idee in dem ganzen bürgerlichen Leben der Hindus, besonders aber in dem Verhältnis der verschiedenen Kasten zueinander ausgeprägt. Wer kann, fragen wir nun, die Entfremdung von Gott schmerzlich empfinden, ohne noch irgend etwas Gottverwandtes, ohne das Bild Gottes in sich zu tragen? Waren die Mittel, die sie zur Wiedervereinigung mit Gott anwendeten, verkehrt; so waren sie es deshalb, weil uns kein Name gegeben ist, in dem wir gerecht vor Gott werden möchten, als allein Jesus Christus; allein selbst in der oft krampfhaften, über alles tragischen Anstrengung, wieder zu Gott zu gelangen, liegt das unwidersprechliche Zeugnis von einer aus der Brust des Menschen nicht vertilgten Sehnsucht nach dem ewigen Leben. Wer kann die Tempel auf Elephantine und Salsette betrachten, und den Indern die Anlage zur Religiosität absprechen? Wer hat je ihre Lehre vom gegenwärtigen Zeitalter, dem Kali-Juga, und seinem Verhältnis zu den früheren beherzigt, ohne sich zu gestehen, daß sie in sich eine tiefe Empfindung des immer sich vergrößernden Verfalles der Menschheit nähren? Wer hat je ihre Lehre von den göttlichen Inkarnationen kennen gelernt, ohne darin wenigstens eine entfernte Sehnsucht nach einer göttlichen Befreiung vom Falle anzuerkennen? Eine Sehnsucht, die sich im ganzen Altertum findet. Artete der frühere indische Theismus mannigfach in Pantheismus aus, so ist die Ursache in der durch die Entwicklung der Sündhaftigkeit immer mehr geschwächten endlichen Vernunft zu suchen; daß aber kein Atheismus, die vollendete Gottlosigkeit, zutage gefördert ward, ist dem unauslöschlichen Ebenbild Gottes im Menschen zu danken. Was möchte wohl ein Luther und Melanchthon, ein Musäus und Wigand, Flacius und Heßhuß erwidert haben, wenn man ihnen die Lehre der Parsen vorgehalten hätte, die von der Unnatur des Bösen so tief ergriffen waren, daß sie sich das Dasein desselben in der guten Schöpfung nicht anders zu erklären wußten, als durch die Annahme eines für sich bestehenden bösen Prinzips, das dem Guten ewig entgegenwirke? Liegt hierin nicht sogar ein zarteres religiöses Gefühl verborgen, als in der oben vorgetragenen Ansicht Melanchthons, Calvins und Bezas, daß der gute, heilige Gott selbst zum Bösen antreibe, und desselben zur Ausführung seiner Zwecke bedürfe? Vermischten endlich auch die Parsen das physische und moralische Böse, hielten sie es wenigstens nicht gehörig auseinander; es berechtigt diese Erscheinung zu keinem Einwurfe gegen unser eben gefälltes Urteil: die Reformatoren wären nämlich nur zur Erwägung einzuladen, daß es ihnen selbst nicht viel besser erging als den Parsen, und zwar unter ganz anderen Verhältnissen; denn diese kannten die christliche Lehre nicht, die Reformatoren aber bekämpften die Wahrheit, die dicht neben ihnen in ihrem reinen Glanze strahlte. In der ganzen alten Welt gewahren wir ein Suchen nach Wahrheit. Man bedenke, wieviel dies heißt! Hat sie auch niemand aus sich herausgefunden, denn sie muß dem Geschöpfe gegeben werden, so wurde sie doch ersehnt. Der ganz verdorbene Mensch, dem alle geistlichen Kräfte geraubt sind, in dem Gottes Ebenbild vertilgt ist, strebt aber nicht nach Wahrheit und kann nicht darnach streben. Gewiß wurde sie auch nur zu häufig in der geschöpflichen Welt gesucht, und nur selten gewann es der Mensch über sich, den Blick freudenvoll nach oben zu richten; allein entdeckten wir auch nur Einen solchen, so mag es nicht mehr zweifelhaft bleiben, daß es der Mensch immer konnte, wenn er wollte, und die Freiheit, auch des gefallenen Menschen, ist bewährt. Mit unendlichen Abstufungen von sittlichen Charakteren und religiösen Weisen macht uns die Geschichte bekannt: von dem häßlichsten Scheusale an bis zur Frömmigkeit hinauf, die innig rührt, finden sich durch unzählige Grade hindurch lebendige Beispiele; und hier sollte sich die sittliche Freiheit nicht kundtun, sondern nur eine äußere, bürgerliche Freiheit ? Warum ward der eine nicht, der sich unter denselben Verhältnissen bewegte, was der andere in sittlich-religiöser Beziehung? Freilich, wenn auf Gott unbedingt alles zurückgeführt, alles nur als seine Tat betrachtet, und das Böse, wie das Gute, ursächlich auf ihn bezogen wird, dann mögen wir auch hierin keinen Beweis von der Wahrheit finden, daß auch der gefallene Mensch noch frei und durch sittlich-religiöse Kräfte ausgezeichnet sei, deren Verwendung ihm überlassen bleibe; dann mögen wir aber auch aufhören, von Gut und Bös überhaupt zu sprechen, und den Gedanken an einen heiligen Gott und an eine sittliche Zurechnung in die Reihe schöner Träume versetzen. Die Geschichte bestätigt demnach die katholische Lehre von der Erbsünde, und unwidersprechlich stellt es sich heraus, daß der Mensch, obschon er tief fiel, doch nicht aus der Freiheit und dem Ebenbilde Gottes herausgefallen ist, daß nicht alles, was er sann und tat, Sünde und verdammlich sein mußte, und daß er nicht bloß die Freiheit zum Sündigen genoß, wie die lutherischen Symbole versichern. Übrigens befremdet es auch hier nicht, wenn wir die Ausschweifung der lutherisch-symbolischen Ansicht von dem vorchristlichen Weltalter betrachten, daß sich ihr im Verlaufe der Zeit eine andere Ausschweifung gegenüberstellte, die selbst die tiefsten Lehren des Evangeliums als heidnische Erbstücke auffasset, oder wenn es recht gut geht, das Christentum für eine natürliche Entwicklung des Menschengeschlechts hält, und im Heidentum eben darum auch eine, also abgesehen vom Falle, an sich notwendige Bildungsstufe der Menschheit verehrt. § 8 Die Reformierten gingen in ihrer Beschreibung von der Erbsünde und den Folgen derselben keineswegs ganz so weit wie die Lutheraner. Wir können überhaupt in mehr als einer Beziehung beobachten, daß das erst durch Calvin geschaffene oder doch geordnete Lehrgebäude der Reformierten in mancher Beziehung unverkennbare Vorteile aus den Abwegen und Mißgriffen der früheren Reformatoren zog. Der wissenschaftliche und gelehrte Calvin zeigt sich darum auch da und dort billiger gegen die Katholiken, gibt ihre Lehre zuweilen nicht so sehr entstellt, wie seine Vorgänger, und verfährt überhaupt mit viel mehr Umsicht und Ruhe als Luther. So geschah es, daß, gleichwie z. B. Zwinglis kalte, leere Ansicht vom Sakramente des Altars durch Calvin der wahren christlichen Lehre wieder um ein Bedeutendes nähergebracht wurde, auch in dem Lehrstücke, das wir eben behandeln, eine mindergroße Entfernung von der Wahrheit stattfindet. Die rückgängige Bewegung, wo sie eintrat - denn sie erfolgte öfters auch nicht - wurde jedoch beinahe immer auf Rechnung der Klarheit und Bestimmtheit der Begriffe erkauft; und wenn die verschwundene allzu große Härte erfreut, so ist die an ihre Stelle getretene Unsicherheit des Gedankens und ein gewisses Hin- und Herschwanken desto störender. Calvin selbst drückt sich sehr verschieden über die Erbsünde und ihre Folgen aus. An einigen Orten sagt er ohne Einschränkung, das Bild Gottes sei im Menschen vernichtet worden [86]. An andern Orten spricht er dasselbe also aus: der Mensch sei dergestalt aus dem Reiche Gottes verbannt, daß in ihm alles, was auf das fromme Leben der Seele Bezug habe, ausgelöscht sei [87], und versichert, der Mensch erhalte die Organe für das Reich Gottes erst in der neuen Schöpfung in Christo Jesu wieder [88].
Diesen Bestimmungen stehen jedoch andere entgegen, in welchen keine völlige Vernichtung und gänzliche Aufhebung des Bildes Gottes im Menschen ausgesprochen ist, sondern nur eine greuliche Entstellung, Verstümmelung und Befleckung desselben [89]. Dieselbe Unbestimmtheit, dasselbe Schwanken kommt zum Vorschein, wenn Calvin einzeln die Kräfte untersucht, die dem sündigen und nicht erneuerten Menschen noch eigen seien; oder wenn er das nach dem Dogma der Katholiken auch im gefallenen Menschen gerettete freie Prinzip nach allen Beziehungen hin einer Prüfung unterwirft. Er bemerkt, die Vernunft (ratio, intellectus) und der Wille (voluntas) könnten aus dem Menschen nicht verdrängt werden, weil diese Vermögen den charakteristischen Unterschied des Menschen vom Tiere bildeten [90]. In dem Kreise der gesellschaftlichen Institutionen, der freien und mechanischen Künste, der Logik, Dialektik und Mathematik läßt er nun die Vernunft (besser den Verstand) recht rühmlich, auch bei den Heiden, sich bewegen, und macht gelegentlich einen derben Ausfall auf die unter den damaligen Protestanten so allgemein herrschende Verachtung der Philosophie [91]. Gelangt er nun aber zur Beschreibung der religiös-moralischen Kräfte, dann tritt die seltsamste Unbestimmtheit ein.
Er stellt, was die Erkenntnis Gottes betrifft, keineswegs in Abrede, daß einige Wahrheiten bei den auch besonderer göttlicher Offenbarungen nicht gewürdigten Völkern da und dort zerstreut gefunden würden, und scheint deshalb die Annahme eines völligen Unterganges der geistlichen Kräfte nicht zu billigen [92]; allein er vernichtet die Hoffnung, die dieses Zugeständnis gewährt, durch den Beisatz wieder, daß Gott wohl dergleichen Blitze in tiefer Nacht deshalb vergönnt habe, um die Männer, denen sie zuteil, oder vielmehr aufgenötigt worden seien, durch ihr eigenes Geständnis verdammen zu können [93]; da ihnen nun die Entschuldigung, als seien sie mit den Wegen des Herrn unbekannt gewesen, unmöglich sei. Er scheint demnach wieder abgeneigt, jene Spuren von wahrer Erkenntnis Gottes als Erzeugnis und Eigentum der höheren, mit Gott wirkenden, menschlichen Kräfte zu betrachten; er scheint sie vielmehr als die Folge ganz seltsamer und wunderlicher Einwirkung Gottes auf gewisse Menschen zu besonderen Zwecken aufzufassen, was um so auffallender ist, als er anderwärts das Besorgtsein um einen guten Ruf aus dem Schamgefühle, und dieses aus dem angeborenen Sinn für Recht und Tugend ableitet, worin schon der Samen der Religion eingeschlossen sei (L. c. l. I. c. 15. n 8). So gewahren wir durchaus einen trefflichen, gesunden Sinn, der mit verirrten Gefühlen um den Sieg ringt, aber nach einem kurzen, frischen Ansatze, sich ihrer zu bemächtigen, immer wieder erliegt.
Ungefähr in ähnlicher Weise behandelt er die moralischen Erscheinungen der Vorwelt. Die Katholiken pflegten zuweilen auf Männer wie Camillus hinzuweisen, und aus dem Leben derselben die sittliche Freiheit, auch der Heiden, und gewisse Reste des Guten unter denselben zu beweisen; sie verteidigten überdies den Satz, Gottes besondere, um der rückwärts wirkenden Verdienste Christi willen erteilte Gnade, welche die übrig gebliebenen guten Kräfte gestärkt habe, sei in vielen Erscheinungen unverkennbar[94]. Welchen Weg betritt nun Calvin, um dergleichen Erscheinungen zu erklären? Er bemerkt, es sei sehr leicht, durch dieselben über die wahre Natur des Verderbens sich täuschen zu lassen, und verkennt die schöneren Spuren eines sittlichen Geistes nicht geradezu. Allein er sagt, wir sollen uns hierbei einfallen lassen, daß hier und da Gottes Gnade hemmend einwirke, nicht um innerlich dem Menschen stärkend und reinigend zu Hilfe zu kommen, sondern um die sonst unfehlbaren Ausbrüche des Bösen mechanisch zu verhindern [95]. Die Weise des guten Camillus erklärt er hiernach durch die Annahme, es möge dieselbe ein bloß äußerliches, hypokritisches Wesen gewesen sein, oder die Wirkung der eben angedeuteten, das Böse in der Brust des Menschen mechanisch zurückhaltenden Gnade, die ihn um nichts besser als alle übrigen mache [96]. Durch solche mehr als mechanische Erklärungsversuche beweist Calvin unwidersprechlich, daß, wenn er auch von der Vernunft und dem Willen als nicht vertilgten und nicht vertilgbaren Seelenvermögen spricht, wodurch sich der Mensch vom Tiere unterscheide, er dabei doch keineswegs gemeint war, daß der Mensch aus jener unseligen Katastrophe eigentlich moralisch-religiöse Kräfte gerettet habe.
Was die reformierten Bekenntnisschriften betrifft, so können sie in mehrere Klassen eingeteilt werden, indem diejenigen, welche unter dem näheren oder entfernteren Einflüsse Zwinglis ausgefertigt wurden, sich sehr erheblich von denen unterscheiden, in welchen Calvins Geist weht. In der Tetrapolitana ist das Lehrstück von der Erbsünde gar nicht besonders behandelt, sondern nur im Artikel von der Rechtfertigung nebenbei berührt, eine Erscheinung, zu deren Erklärung Zwinglis Darstellung von der Erbsünde weiter unten noch vorgelegt werden wird.
Die ältesten helvetischen Konfessionen (II. und III.) sprechen sich mit vieler Besonnenheit und Umsicht aus, und könnte man nur ihres Geistes versichert sein, d. h. wären wir nur gewiß, daß ihre eben gerühmte Eigentümlichkeit nicht aus demselben Grunde zutage gefördert ward, aus welchem die Tetrapolitana von der Erbsünde gar nicht besonders zu sprechen für gut fand, so könnte sich sogar der Katholik vollkommen zufrieden erklären [101]. An die helvetischen Konfessionen schließt sich die anglikanische an, die überall schroffes Wesen gerne zu vermeiden sucht [102].
Die erste (nicht älteste) helvetische, die gallische, belgische und schottische dagegen drückten Calvins Lehre ganz aus: der Mensch ist durch und durch, ganz und gar verdorben [103]. Jedoch begegnen wir auch manchen Halbheiten und Unentschiedenheiten in denselben, wie bei Calvin. Merkwürdig ist es übrigens, daß das erste helvetische Symbolum die lutherische Ansicht, daß der gefallene Mensch nicht einmal mehr das Willens- und Erkenntnisvermögen für das Reich Gottes besitze, gerade für manichäisch erklärt [104].
Noch verdient folgende Erscheinung unsere Aufmerksamkeit. Auch die reformierten Symbole betrachten die wirklichen Sünden nur als das Heraustreten der Ursünde, als das allmähliche Offenbarwerden derselben in einzelnen, begrenzten Erscheinungen; auch ihnen ist Adams Sünde die einzige, die einige Quelle, woraus alle schöpfen, ohne sie je zu erschöpfen, die unendliche, stets rege und wirksam, einen Ausdruck zu finden, und wenn sie ihn gefunden, unbefriedigt, abermals einen neuen zu suchen (Confess. Belg. c. XV. p. 179). Mit Recht mochten die Katholiken entgegnen, daß dieser Ansicht zufolge an sich alle Sünden gleich sein müßten, indem nach den Grundsätzen eines falschen Realismus die Person ganz in der Natur, das Einzelwesen im Allgemeinen aufgehend gedacht werde, und die Erscheinung, daß nicht alle Unbekehrten auf gleiche Weise Schurken und Bösewichter, nicht alle Bruder- und Vatermörder, Räuber und Giftmischer seien, keineswegs von den Reformierten durch den verschiedenen Gebrauch der Freiheit, welche gemäß ihrer Lehre niemand besitzt, erklärt werden könne; daß also das Urübel nach den Grundsätzen Calvins mit blinder Notwendigkeit fortwirke, und in jedem Menschen ein ganz bereitwilliges, weil unfreies Organ finde, seine abscheulichsten Tücken zu vollziehen. Es könne darum lediglich nur als Zufall begriffen werden, wenn der eine als ein furchtbarer Verbrecher, der andere als ein wohlgesitteter Mensch erscheine; im Grunde sei dieser so nichtswürdig als jener; die allen gleiche und von niemanden irgendwie zu hemmende Sündhaftigkeit offenbare sich nur bald da bald dort in heftigeren Explosionen. Die erste helvetische Konfession verwahrt sich nun gegen diese und dergleichen Folgerungen, und verdammt die Jovinianer, Pelagianer und Stoiker, welche die Gleichheit aller Sünden lehrten! (Confess. Helv, I. c. VIII. p. 17) Sie selbst aber kann wohl keine andere Verschiedenheit der Sünden feststellen wollen, als die der äußeren Erscheinung, nach welcher freilich vielleicht nicht eine Sünde der andern gleich ist. Jedoch verehren wir in dieser Verwahrung ein gesundes Gefühl, eine erfreuliche Ahnung der tiefen, mit keinem Worte hinlänglich zu bezeichnenden Verirrung, von welcher die Reformation ausging. Die Lehre der reformierten Symbole von der bösen Lust (Concupiscentia) setzen wir nicht ausführlich auseinander, da sie nicht wesentlich von der orthodox lutherischen Ansicht abweicht. Was endlich den Tod des Leibes betrifft, so wird derselbe, wie in der katholischen Kirche, als eine Folge der Erbsünde angesehen [105].
§ 9 Zur Erläuterung einiger Erscheinungen in den reformierten Symbolen teilen wir als Anhang die Lehre Zwinglis von der Erbsünde mit. Dieser Reformator wagt den Versuch, nicht bloß nach den biblischen Andeutungen das Wesen des Erbübels zu bestimmen, sondern auch psychologisch die Sünde Adams zu erklären, einen Versuch, dem er durchaus nicht gewachsen war, der weit hinter früheren Bestrebungen, dieses geheimnisvolle Dunkel zu erhellen, zurücksteht, ja im Grunde gar nichts erklärt, und die Erbsünde schon voraussetzt. Zuerst belästigt Zwingli den ernsten Leser mit einem unzeitigen Witze, indem er sagt: es sei eine sehr üble Vorbedeutung für den künftigen Ehemann gewesen, daß Eva aus einer Rippe des schlafenden Adam gebildet worden sei; denn es habe sich an die Beobachtung, daß ihr Gatte nicht einmal während einer solchen Operation aufgewacht und zur Besinnung gekommen sei, von selbst der lose Gedanke anschließen müssen, ihre Ehehälfte könnte wohl leicht getäuscht und hintergangen werden. Satan habe nun Evas aufkeimenden Unternehmungsgeist, dabei aber auch ihre Unerfahrenheit in allen Ränken bemerkt; der inneren Lust, einen Streich zu spielen, und der mit derselben im Mißverhältnisse stehenden Unbeholfenheit in gleicher Weise zu Hilfe kommend, habe er ihr nun alle Mittel und Wege zum Betruge des Mannes dargeboten, wovon die erste Sünde die Folge gewesen sei. Der über die Sünde scherzende Mann sagt hierauf ernster, aus der ganzen Art der satanischen Verführung und den gemachten Anerbietungen insbesondere sei leicht zu entnehmen, daß die Selbstliebe Adams die Ursache seiner Sünde geworden, aus der Selbstliebe fließe mithin auch das ganze menschliche Elend. Da nun aber allen Gesetzen der erscheinenden Welt gemäß nur Gleiches aus Gleichem entstehe, so würden von seinem Falle an alle Menschen mit der Selbstliebe, dem Keime alles moralisch Bösen, geboren. Hier beschreibt Zwingli die Erbsünde, die an sich nicht Sünde sei, als Naturanlage zum Sündigen, als Hang und Neigung zur Sünde, und sucht sich durch folgende Vergleichung klar zu machen. Ein junger Wolf sei nach allen Beziehungen hin der Naturanlage nach Wolf, d. h. Derjenige, der vermöge angeborener Wildnis die Schafe zerreiße und verschlinge, wenn er auch noch keines wirklich zerrissen habe, und die Jäger, welche ihn irgendwo entdeckten, behandelten ihn wie einen älteren, da sie ganz überzeugt seien, er werde zuverlässig auch, sobald er herangereift sei, gleich den übrigen die Herden anfallen und seine Verwüstungen beginnen. Die Naturanlage sie die Erbsünde oder der Erbfehler; der einzelne Raub die sich aus jener entwickelnde wirkliche Sünde, die zugleich auch Sünde im eigentlichen Sinne sei, während jene weder Sünde, noch für Schuld gehalten werden dürfe.
Diese Darstellung, wie sie nichts erklärt, ist sie zugleich echt protestantisch. Dass sie nichts erkläre, erhellt daraus, dass die Selbstliebe, besser wohl die Eigenliebe, schon als die Ursache der Sünde Adams dargestellt wird, welche demnach schon vor dem Falle verborgen in ihm war und durch die satanische Vermittlung nur in die erscheinende Welt eingeführt wurde, nur zum Ausbruche kam. Dieselbe Eigenliebe wird aber auch als die sich auf Adams Nachkommen aus seiner Sünde verbreitende Wirkung, als die Naturanlage aller seine Söhne dargestellt, so dass die Erbsünde als das dem Adam schon anerschaffene Verderben erscheint und eigentlich nicht als ein Erbe von Adam, sondern vielmehr als eine Einpflanzung Gottes betrachtet werden muss. Aber eben darum ist die Erklärung auch echt protestantisch, indem durch dieselbe Gott ehrlich und unbefangen als die Ursache der Sünde betrachtet wird, und alle einzelnen wirklichen Sünden nur als notwendige Entwicklungen, als die Erscheinungsformen der Naturanlagen aufgefasst werden, was trefflich durch den jungen, unfreien Wolf, der ohne freies Prinzip dem Instinkte nicht widerstehen kann, anschaulich gemacht wird. Daher betrachtet auch Zwinglie die Erbsünde mit Recht nicht als Sünde, sondern nur als Übel, das der Natur anklebt, aber inkonsequent ist es, wenn er die wirklichen Sünden als Sünden betrachtet wissen will, da sie ja nur notwendige Entwicklungen der Naturanlage sind: auch wäre es seinen früher schon vorgelegten Grundsätzen über die Ursache des Bösen angemessen gewesen, wenn er gar kein sittliches Vergehen als eine Schuld contrahierend angesehen hätte. |
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