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Barmherzigkeit

Von P. Engelbert Recktenwald

“Bei Spee hört es sich so an, als müsste ein lebenslänglich böser Mensch nur rechtzeitig die Sterbesakramente empfangen, um sich vor der ewigen Verlorenheit zu retten”, schreiben Hansjakob Becker und Hermann Kurzke in ihrer Deutung des Bußliedes “Tu auf, tu auf, du schönes Blut”, dessen Verschwinden aus dem Gotteslob sie beklagen (Artikel Verschieb es nicht, in Christ in der Gegenwart vom 30. November 2014). Sie beziehen sich dabei auf die Strophe

“Wen er [der Tod] nit findt in Gnadenzeit,
Wär nützer nie geboren:
Wer unbereit von hinnen scheidt,
Ist ewiglich verloren.”

Mit dem Wort “unbereit” scheint ihnen eine Überschätzung der Sterbestunde vorzuliegen.

Tatsächlich bereitet der Gedanke an einen Menschen Unbehagen, der sein Leben lang auf Teufel komm raus sündigt, ohne sich um Gott und sein Gebot zu scheren, dann aber in letzter Minute noch die Kurve kriegt und gerettet wird. Das fühlt sich so an, als ob er mit Hilfe von Gottes Barmherzigkeit kaltblütig dessen Gerechtigkeit ausgetrickst habe. Wir alle fühlen: Das kann es nicht sein.

Auf der anderen Seite bleibt die Wahrheit bestehen, dass es, solange wir leben, für eine Bekehrung nie zu spät ist. Gottes unerschöpfliche Barmherzigkeit steht uns bis zum letzten Atemzug offen, so dass, wie der hl. Benedikt sagt, wir nie einen Grund haben, an unserem ewigen Heil zu verzweifeln. Und diese Wahrheit bereitet uns kein Unbehagen, sondern Trost und Zuversicht.

Dieser scheinbare Widerspruch beleuchtet das Dilemma, in dem sich Gottes Barmherzigkeit - menschlich gesprochen - befindet. Einerseits ist sie stets bereit, dem reuigen Sünder ohne Grenzen zu verzeihen, andererseits kann gerade diese Bereitschaft Grund eines frevelhaften Leichtsinns gegenüber dem ewigen Seelenheil sein.

Es kommt eben darauf an, ob wir im Vorhinein mit Gottes Barmherzigkeit rechnen und sie als Freibrief fürs Sündigen missbrauchen, oder ob wir uns im Nachhinein in die Arme der göttlichen Barmherzigkeit werfen, weil wir unsere Sünden bereuen. Die Reue als die innere Umkehr des Herzens ist der entscheidende Vorgang, ohne den auch der Empfang der Sterbesakramente nichts nützen würde. Das Problem desjenigen, der vorsätzlich sündigt, weil er seine spätere Bekehrung mit einplant, besteht darin, dass der Grund seiner späteren Bekehrung ein anderer sein muss als der Grund seiner jetzt geplanten Bekehrungsabsicht: Dieser besteht in einem Kalkül, das die Barmherzigkeit Gottes zum Sündigen missbraucht; jener besteht in einer inneren Abkehr von der Sünde, in einem Abscheu vor ihr. Es ist aber psychologisch unmöglich, aus Liebe zur Sünde einen späteren Abscheu vor der Sünde vorauszuplanen. Eine geplante Bekehrung, die nur der Heilsabsicherung im Sündigen dient, ist tatsächlich nichts anderes als ein Trick, über den Gott nur spotten kann: “Der Herr aber lacht ihrer” (Weish. 4,18). Wenn dann tatsächlich die Todesstunde naht, kann der Sünder eben nicht zur Verwirklichung dessen schreiten, was er sich für diese Stunde vorgenommen hat. Denn was von ihm verlangt wird, ist nicht die Realisierung seines Kalküls, sondern eine radikale Umkehr und eine Reue, die gerade dieses Kalkül mit einschließt. Er muss etwas anderes tun als das, was er sich vorgenommen hat, auch wenn beides eine Inanspruchnahme der göttlichen Barmherzigkeit bedeutet. Die kalkulierte Inanspruchnahme ist eine vermessene, und nicht umsonst wird die Vermessenheit zu den Sünden gegen den Heiligen Geist gerechnet, die nicht vergeben werden. Sie wird nicht etwa deshalb nicht vergeben, weil Gottes Barmherzigkeit eine Grenze hat, sondern weil sie eine Gesinnung impliziert, die sich gegen eine wahre Bekehrung abriegelt, indem sie an die Stelle einer wahren Bekehrung einen Trick setzt.

Trotzdem ist eine Bekehrung nicht schlechterdings unmöglich. Es bedarf aber gewissermaßen eines Gnadenwunders, weil diese Bekehrung etwas anderes ist als das, was der Vermessene unter Bekehrung versteht. Die vom Sünder einkalkulierte Bekehrung ist ein Bestandteil seines vermessenen Plans, die zum Heil notwendige Bekehrung ist ein Widerruf des gesamten Plans. Darüber hinaus schließt diese Bekehrung eine Änderung der Vorstellung ein, die der Vermessene von Gottes Barmherzigkeit hat. Der Vermessene hält sie für eine Art harmlose Gutmütigkeit, die sich übertölpeln lässt. Der reuige Sünder erfährt sie dagegen als ein verzehrendes Feuer, das die Sünden aus den letzten Falten des Herzens herausbrennt. Die falsche Barmherzigkeit lässt das Herz kalt, die wahre Barmherzigkeit wühlt es auf, erfüllt es mit Reueschmerz und gleichzeitig mit einem milden Frieden. Die falsche Barmherzigkeit ist eine Ausgeburt frevelhafter Vermessenheit, die Gott ihren sündigen Plänen unterwerfen will, die wahre Barmherzigkeit ein Strahl der göttlichen Liebe, der ein Herz aus Stein in ein Herz aus Fleisch verwandelt (Ezechiel 11, 19). Die falsche Barmherzigkeit betäubt das Gewissen, das unter seiner Sündenlast leidet, die wahre Barmherzigkeit weckt und befreit das Gewissen.

Doch wenn Becker und Kurzke schon Unbehagen empfinden angesichts der Möglichkeit der späten Bekehrung, wie groß müsste dann erst das Unbehagen sein angesichts einer Heilsvermessenheit, die jede Bekehrung als unnötig ansieht? Diese Vermessenheit wird von Eckhard Bieger SJ und Christian Schnaubelt als ein Grundzug der nachkonziliaren Zeit beschrieben: “‘Katholisch’ fühlt sich seit dem Konzil anders an. Es ist weniger von Disziplin, religiöser Observanz, sondern mehr von Offenheit und dem Gefühl getragen, dass jeder Mensch eigentlich in den Himmel kommt. Dies ist auch einer der Gründe, warum die bis in die 60er-Jahre intensive Beichtpraxis weitgehend zusammengebrochen ist” (in: 27 x katholisch, Paderborn 2014, S. 37 f).

Es geht also nicht mehr darum, dass uns, wie Becker und Kurzke gegenüber Spee meinten, das Leben heute wichtiger sei als das Sterben. In Wirklichkeit haben für den nachkonziliaren Christen Leben wie Sterben gleichermaßen ihre Heilsrelevanz verloren, weil wir sowieso alle in den Himmel kommen. Wen wunderts, dass eine solche Heilsgewissheit noch viel mehr die Vermessenheit fördert als die Aussicht auf eine letzte Chance in der Sterbestunde? Die Kritik an Spee fällt mit noch größerer Wucht auf den nachkonziliaren Christen zurück.

Der Zusammenbruch der Beichtpraxis ist, wie Bieger und Schnaubelt richtig feststellen, die notwendige Folge. Bekehrung und Sündenvergebung hat der nachkonziliare Christ nicht mehr nötig. Die Barmherzigkeit Gottes ist überflüssig geworden. Der nachkonziliare Heilsoptimismus hat also nichts mit einer Neuentdeckung von Gottes Barmherzigkeit zu tun. Er hat sie vielmehr in jene zahnlose Gutmütigkeit verwandelt, die letztlich auf eine Gleichgültigkeit Gottes gegenüber Gut und Böse hinausläuft. Das hat wiederum Rückwirkungen auf das Menschenbild: Der nachkonziliare Christ beraubt sich auf selbstentmündigende Weise der Ewigkeitsverantwortung für seine Taten und erniedrigt sich zu einer belanglosen Eintagsfliege mit anschließender Zwangsbeglückung.

Der leichtfertige Heilsoptimismus verhindert gerade die Erfahrung von Gottes Barmherzigkeit, die nicht darin besteht, die Sünde zu bagatellisieren, sondern das Unverzeihliche zu verzeihen. Um die göttliche Barmherzigkeit neu zu entdecken, bedarf es keiner neuen Theologie, sondern der Besinnung auf das, was die Kirche immer gelehrt hat. Wir leben in einer Zeit, in der viele Theologen mit Verachtung auf die Tradition herabblicken und so tun, als ob ein nachkonziliarer Gott der Liebe einen vorkonziliaren Gott der Strenge abgelöst habe. Das Gegenteil ist der Fall.

“Gott hat das sehnlichste Verlangen nach unserem Heil. Sobald daher der Sünder nur in sich geht, seine Sünden ganz allgemein verabscheut und sich zum Herrn bekehrt (er mag dann später, wenn sich Gelegenheit bietet, die Sünden einzeln vornehmen und bereuen), schenkt uns Gott schon Seine Verzeihung und umfängt den Sünder in väterlicher Liebe.” So heißt es im Römischen Katechismus, der im Auftrag des Konzils von Trient herausgebracht wurde. Dieser Text fasst präzise zusammen, worin Gottes Barmherzigkeit besteht. Der hl. Pfarrer von Ars drückt es so aus: “Gott ist mehr bereit, einem reuigen Sünder zu verzeihen, als eine Mutter, ihr Kind aus dem Feuer zu retten.” Diese so trostreiche Vergebungsbereitschaft Gottes reicht tatsächlich bis zur letzten Lebensstunde eines Menschen und ist für jeden reuigen Sünder der sichere Rettungsanker.

Der Echtheitstest für die Reue ist die Bereitschaft, sich der eigenen Sünden anzuklagen. In diesem Sinne sagt der hl. Franz von Sales: “Wenn der Mensch sich freispricht, klagt Gott ihn an; wenn der Mensch sich anklagt, spricht Gott ihn frei.” In der nachkonziliaren Verkündigung ist dem Christen die Selbstanklage abgewöhnt worden.

Wenn der Herr im zwanzigsten Jahrhundert der hl. Schwester Faustina Kowalska seine Sehnsucht geoffenbart hat, dass die Menschen seine grenzenlose Barmherzigkeit entdecken und an sie glauben, dann war das eine Einladung, sich ihr im Sakrament der Barmherzigkeit in die Arme zu werfen. Das Vertrauen, das er von uns erwartet, besteht in der Selbstauslieferung an seine umwandelnde Liebe. Wenn Gott vergibt, bedeutet dies immer auch, dass sein Erbarmen unser Herz verwandelt. Vergebung ist keine bloß äußerlich verfügte Amnestie über die Köpfe der Schuldigen hinweg.

Nach einem Bonmot Chestertons besteht die Sünde gegen den Heiligen Geist darin, nicht mehr nach der Sündenvergebung zu streben. Im nachkonziliaren Frühling ist dieses Streben unnötig geworden, weil eine vorgeblich bedingungslose Heilszusage Gottes auch eine bedingungslose Vergebung impliziert. An die Stelle der persönlichen Begegnung mit Gottes Erbarmen ist ein Heilsautomatismus getreten, der das Ringen um Bekehrung überflüssig macht. Die Verkündigung einer solchen Heilszusage ist nichts anderes als eine elegante Weise, den Sünder von Gottes Barmherzigkeit abzuschneiden. Sie ist nicht barmherzig, sondern grausam.


Ungeliebte Barmherzigkeit

Erst im Licht der Gnade können die dunklen Abgründe der Sünde erkannt und ohne Gesichtsverlust eingestanden werden. Barmherzigkeit, die den Sünder bejaht, seine Sünden aber verneint, unterscheidet sich von billiger Gnade, die das Drama der Sünde bagatellisiert und beiseiteschiebt. Die Abwehrreflexe, die der Begriff Barmherzigkeit bei manch säkularen Zeitgenossen (und ihren theologischen Advokaten) hervorruft, provozieren daher die Gegenfrage, ob die Ausblendung der eigenen Vergebungsbedürftigkeit nicht anfällig macht für Formen einer Verantwortungsflucht, die andere bezichtigt, um selbst besser dazustehen.

Aus: Jan-Heiner Tück, Barmherzigkeit. Vom Unbehagen an einer viel beschworenen Vokabel, in: Internationale katholische Zeitschrift Communio, Mai/Juni 2016, S. 188.


Das Gleichnis vom verlorenen Schaf

Eine moderne Auslegung von P. Engelbert Recktenwald.


Urs Keusch: Eine Jungfrau namens Barmherzigkeit

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