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Über die Erbsünde

I.

Die soeben zitierten Aussagen des hl. Paulus [Röm 5,12: "Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde derTod, und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil alle sündigen"], auf die sich das Lehramt der Kirche berufen hat, erhellen also unseren Glauben über die Folgen, welche die Sünde Adams für alle Menschen hat. Von dieser Lehre werden sich die katholischen Exegeten und Theologehn immer leiten lassen müssen, wenn sie mit der Weisheit des Glaubens die Erklärungen bewerten, welche die Wissenschaft über die Ursprünge der Menschheit darlegt.

Als besonders wertvoll und als Ansporn für weitere Forschungen in dieser Beziehung erweisen sich die Worte, die Paul VI. an ein Symposion von Theologen und Naturwissenschaftlern gerichtet hat: “Es versteht sich, dass jene Erklärungen als mit der wahren katholischen Lehre unvereinbar erscheinen werden, welche manche modernen Autoren von der Erbsünde geben und die, von der nicht bewiesenen Annahme der Polygenese ausgehend, mehr oder weniger klar leugnen, dass die Sünde, von der sich ein so gewaltiger Schwall von Übeln auf die Menschheit ergossen hat, vor allem der am Beginn der Geschichte begangene Ungehorsam des ‘ersten Menschen’ Adam, Gestalt des künftigen Menschen, gewesen ist” (AAS LVIII, 1966, 654).

Noch eine andere Aussage ist im tridentinischen Dekret enthalten: die Sünde Adams geht auf alle Nachkommen über wegen ihrer Abstammung von ihm und nicht nur durch sein schlechtes Beispiel. Das Dekret formuliert: “Diese Sünde Adams ist ihrem Ursprung nach einmalig und wird durch Abstammung, nicht durch Nachahmung weitergegeben; sie ist in allen als eigene Schuld vorhanden” (DS 1513).

Die Erbsünde wird also durch die natürliche Abstammung weitergegeben. Diese Überzeugung der Kirche drückt sich auch in der Praxis der Kindertaufe aus, auf die sich das Konzilsdekret beruft. Die Neugeborenen, die noch gar nicht fähig sind, eine persönliche Sünde zu begehen, empfangen dennoch gemäß der jahrhundertealten Tradition der Kirche kurz nach der Geburt die Taufe zum Nachlaß der Sünden. Das Dekret sagt: “Sie sind in der Tat getauft zur Vergebung der Sünden, damit sie in der Neu- oder Wiedergeburt von dem gereinigt werden, was sie bei der Geburt angenommen haben” (DS 1514).

In diesem Zusammenhang zeigt sich klar, dass die Erbsünde in keinem Nachkommen Adams den Charakter einer persönlichen Schuld besitzt. Sie ist der Verlust der heiligmachenden Gnade in einer Natur, die durch die Schuld der Stammeltern von ihrem übernatürlichen Ziel abgebracht worden ist. Sie ist eine “Sünde der Natur”, die nur als Analogie mit der “Sünde der Person” verglichen werden kann. Im Zustand der ursprünglichen Gerechtigkeit vor der Sünde war die heiligmachende Gnade gleichsam die übernatürliche “Mitgift” der menschlichen Natur. Deren Verlust ist in der inneren Logik der Sünde enthalten, die ja Ablehnung des Willens Gottes, des Spenders des Geschenkes, ist. Die heiligmachende Gnade ist nicht länger die übernatürliche Bereicherung jener Natur, die die Stammeltern an alle ihre Nachkommen so weitergegeben haben, wie sie sich befand, als sie das Menschengeschlecht begründeten. Deshalb wird der Mensch ohne die heiligmachende Gnade empfangen und geboren. Gerade dieser mit seinem Ursprung verbundene Anfangszustand des Menschen stellt das erbhafte Wesen der Ursünde dar (peccatum originale originatum).

Johannes Paul II. in seiner Ansprache bei der Generalaudienz am 1. Oktober 1986, in: Der Apostolische Stuhl 1986, S. 240f.

II.

Das Credo des Gottesvolkes lehrt, dass die Menschennatur nach der Ursünde nicht mehr “in dem Zustand ist, in dem sie sich am Beginn in unseren Stammeltern befand”. Sie ist “gefallen” (lapsa), da sie ohne das Geschenk der heiligmachenden Gnade und auch ohne andere Gaben ist, welche im Zustand der Urgerechtigkeit die Vollkommenheit (integritas) dieser Natur ausmachten. Hier handelt es sich nicht nur um die Unsterblichkeit und das Freisein von vielen Leiden, Gaben, die durch die Sünde verlorengegangen sind, sondern auch um die inneren Dispositionen der Vernunft und des Willens, d. h. um die habituellen Kräfte der Vernunft und des Willens. Als Folge der Erbsünde ist der ganze Mensch, Seele und Leib, erschüttert worden: “secundum animan et corpus” (nach Seele und Leib), formuliert die Synode von Orange im Jahr 529, auf die sich das tridentinischen Dekret bezieht, wenn es anmerkt, dass der ganze Mensch sich verschlechtert hat: “in deterius commutatum fuisse.”

Was die geistigen Fähigkeiten des Menschen betrifft, so besteht diese Verschlechterung in der Trübung der Fähigkeiten des Verstandes, die Wahrheit zu erkennen, und in der Schwächung des freien Willens, der gegenüber der Anziehungskraft der sinnlichen Güter schwach geworden ist und vermehrt den falschen Vorstellungen vom Guten, die vom Verstand unter dem Einfluß der Leidenschaften erzeugt werden, ausgesetzt ist. Aber nach der Lehre der Kirche handelt es sich um eine relative, nicht um eine absolute, d. h. den menschlichen Fähigkeiten nicht innerliche Verschlechterung. Der Mensch kann also nach der Erbsünde mit dem Verstand die grundlegenden natürlichen, auch die religiösen Wahrheiten und die moralischen Prinzipien erkennen. Er kann auch gute Werke vollbringen. Man muss daher eher von einer Trübung des Verstandes und von einer Schwächung des Willens, von “Verletzungen” der geistigen und sinnlichen Fähigkeiten sprechen und nicht von einem Verlust ihres wesentlichen Vermögens, auch in bezug auf die Erkenntnis und Liebe Gottes.

Das tridentinische Dekret hebt diese Wahrheit von dem fundamentalen Heilsein der Natur hervor im Widerspruch zur von Luther vertretenen entgegengesetzten These, die später von den Jansenisten wieder aufgegriffen wurde. Es lehrt, dass der Mensch infolge der Sünde Adams den freien Willen nicht verloren hat (Can. 5: “liberum arbitrium ... non amissum et extinctum”). Er kann daher Handlungen vollbringen, die einen echten moralischen Wert besitzen - gut oder schlecht. Das ist nur aufgrund der Freiheit des menschlichen Willens möglich. Der gefallene Mensch ist jedoch ohne die Hilfe Christi nicht imstande, sich nach den übernatürlichen Gütern auszurichten, die seine volle Verwirklichung und sein Heil darstellen.

In dem Zustand, in dem sich die Natur nach dem Sündenfall und besonders durch die Neigung des Menschen eher zum Bösen als zum Guten befindet, spricht man von einem “Anreiz zur Sünde” (fomes peccati), von dem die Menschennatur im Zustand der Urvollkommenheit (integritas) frei war. Dieser “Anreiz zur Sünde” wird vom Konzil von Trient auch “Begierde” (concupiscentia) genannt, wobei es hinzufügt, dass sie auch in dem von Christus gerechtfertigten Menschen, also auch nach der heiligen Taufae, fortdauert. Das tridentinische Dekret sagt mit aller Klarheit, dass die Begierde (Konkupiszenz) an sich noch nicht Sünde ist, sondern: “ex peccato est et ad peccatum inclinat” (vgl. DS 1515) (“aus der Sünde kommt und zur Sünde hinneigt”). Die Begierde als Folge der Erbsünde ist die Quelle der Neigung zu den verschiedenen persönlichen Sünden, die die Menschen durch Mißbrauch ihrer Fähigkeiten begehen (man spricht von peccata actualia, um sie von der Erbsünde zu unterscheiden). Diese Neigung bleibt im Menschen auch nach der heiligen Taufe bestehen. In diesem Sinne trägt jeder in sich den “Anreiz” zur Sünde.

Die katholische Lehre präzisiert und charakterisiert den Zustand der gefallenen Menschennatur (natura lapsa) in den Begriffen, die wir auf der Grundlage der Aussagen der Heiligen Schrift und der Überlieferung dargelegt haben. Sie wird im Konzil von Trient und im “Glaubensbekenntnis” Pauls VI. klar vorgelegt. Aber noch einmal stellen wir fest, dass nach dieser Lehre, die sich auf die Offenbarung gründet, die Menschennatur nicht nur “gefallen”, sondern auch in Jesus Christus “erlöst” ist, so dass, “wo die Sünde mächtig wurde, die Gnade übergroß geworden ist” (Röm 5,20). Das ist der wahre Zusammenhang, in dem man die Erbsünde und ihre Folgen sehen muss.

Johannes Paul II. in seiner Ansprache bei der Generalaudienz am 8. Oktober 1986, in: Der Apostolische Stuhl 1986, S. 246-248.


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