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Fremde Sünden

Von Prof. Dr. Georg May

Die Gewissen sind abgestumpft, das Böse nimmt überhand. Wer wollte es leugnen? Von Sünde spricht man am besten nicht mehr, der Begriff wirkt veraltet. Wieviel Klarheit ist da aus dem Bewußtsein sogar der Gläubigen geschwunden! Welche Unfähigkeit zur sittlichen Bewertung des menschlichen Handelns greift um sich! Was für Riesenlücken klaffen hier in Predigt und Katechese! Sünde? Der Hinweis auf sie findet oft keine andere Antwort als eine geringschätzige Handbewegung. Gerade darum verstrickt sich der Mensch so leicht in eine Unzahl von Sünden: in eigene, die er begeht, und in fremde, an denen er mitschuldig wird - ein bedeutsames Kapitel, in dem unser Glaubenswissen der Auffrischung und Nachhilfe bedarf, eine wichtige Erinnerung für alle jene, die sich bereits durch unbeschwerte „Menschlichkeit" und fröhlichen Leichtsinn als Christen auszuweisen meinen.

Die Tatsache der fremden Sünden

Christus ist erschienen, um die Gottesherrschaft aufzurichten. Die Aufrichtung der Gottesherrschaft aber setzt die Vernichtung der Herrschaft des Teufels voraus. Der Herrschaft des Teufels unterwirft sich, wer Sünden begeht. Es gibt eigene und fremde Sünden. Eigene Sünden sind jene, die jemand selbst begeht. Fremde Sünden sind jene, die jemand nicht selbst begeht, an denen er aber irgendwie schuld ist, weil er sie veranlaßt, gefördert oder zugelassen hat. Wer eigene Sünden begeht, übergibt sich selbst dem bösen Feind. Wer die Sünde anderer veranlaßt, fördert oder zuläßt, obwohl er sie hindern könnte und sollte, wird zum Helfershelfer des Bösen.

Die zu Christus gehören, sind aufgerufen und verpflichtet, an dem Werk des Herrn mitzuarbeiten, die Gottesherrschaft aufzurichten und den Teufel zu bekämpfen. Jeder Christ muß dem Bösen wehren, es nach Kräften verhüten und an der Ausbreitung hindern. Der Bestand und die Ausbreitung des Bösen unter den Menschen werden aber durch nichts so sehr gefördert wie durch die fremden Sünden. Ohne die Beteiligung eines anderen blieben ungezählte Sünden ungetan. Zahllose Verfehlungen geschehen allein deswegen, weil ein anderer in irgendeiner Weise mitgewirkt hat. Deswegen muß der Christ sich nicht allein vor eigenen Sünden bewahren, sondern sich auch davor hüten, an fremden Sünden mitschuldig zu werden. Die Möglichkeit, sich an den Verfehlungen anderer zu beteiligen, besteht grundsätzlich für jeden Menschen. In besonderer Gefahr, sich fremder Sünden schuldig zu machen, sind alle jene, denen Autorität über andere oder Einfluß in der Öffentlichkeit zukommt, also in der Welt Politiker und Parlamentarier, Arbeitgeber und Gewerkschaftsfunktionäre, Eltern und Vorgesetzte, Herausgeber und Schreiber von Büchern und Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehleute. In der Kirche kommen vor allem Papst, Bischöfe, Theologen und Priester in Frage, die sich leicht in fremde Sünden verwickeln können.

Die Arten der fremden Sünden

Die Weise der Mitwirkung an der Sünde eines anderen kann sehr verschieden sein. Man kann einen anderen zur Sünde veranlassen, man kann ihm bei der Sünde helfen, und man kann ihn in der Sünde bestärken. Wer in einer dieser drei Weisen am bösen Tun eines anderen beteiligt ist, trägt einen Teil der Verantwortung für dieses. Wer sich einer fremden Sünde schuldig macht, sündigt in dem Maße, in dem er Einfluß auf die Sünde des anderen ausübt.

Zur Sünde veranlaßt, wer zur Sünde rät, die Sünde empfiehlt, zur Sünde anstiftet, auf die Sünde hinlenkt und in falscher Weise über sündhaftes Tun lehrt. Mitschuldig wird auch, wer zum Bösen reizt. Der Reiz kann in vielfältiger Weise ausgeübt werden. An erster Stelle geschieht das durch die Verführung, die absichtliche Verleitung zur Sünde. Wer andere zur Sünde verführt, ahmt den Teufel nach, der selbst böse ist und andere böse machen will. In zweiter Linie reizt aber auch zur Sünde, wer sich schuldhaft so verhält, daß er die sündhafte Neigung des anderen irgendwie herausfordert. Diese Herausforderung kann durch unanständiges Benehmen, durch Spott u. a. geschehen. Fremder Sünden schuldig wird auch derjenige, der durch sein Verhalten, sein schlechtes Beispiel ein Ärgernis, d. h. einen Anreiz zur Sünde gibt. Mitschuldig durch Einwilligung wird derjenige, der die Sünde durch seine Zustimmung ermöglicht oder erleichtert. Eine gefährliche Form, sich fremder Sünden schuldig zu machen, ist die falsche Nachgiebigkeit. Sie tarnt sich gern als Friedensliebe und Güte. Mitschuldig durch Befehlen wird, wer kraft seiner autoritären Stellung andere zum Bösen veranlaßt. Besonders gern wird der Gehorsam angerufen, um sündhafte Befehle durchzusetzen. Der Gehorsam hat aber dort seine Grenze, wo die Sünde beginnt. Niemand darf z. B. unter Berufung auf den Gehorsam dem Vaterland oder der Kirche Schaden zufügen.

Mitschuldig macht sich weiter, wer jemandem bei der Sünde hilft. Bei der Sünde helfen bedeutet einem anderen bei dem bösen Tun beistehen, so daß man an der Sünde Anteil gewinnt. Das kann in größerem oder geringerem Maße geschehen, und danach bemißt sich die Schuld. Kommt ohne diese Hilfe die Sünde nicht zustande, dann ist die Schuld größer als in dem Fall, da die Unterstützung die Sünde nur erleichtert und vergrößert. Zur Sünde hilft auch, wer einem anderen Gelegenheit zum Sündigen verschafft. Zu der Sünde hilft weiter, wer für sie Mittel bereitstellt.

Mitschuldig an fremden Sünden wird schließlich, wer andere im Bösen bestärkt. Auch dies kann in mannigfacher Weise geschehen. Wer die Sünde lobt und dem Sünder Beifall spendet, wird schuldig an dem Bestehenbleiben und der Ausbreitung der Sünde. Wer die Sünde verteidigt und in Schutz nimmt, macht sich mitschuldig an ihr. Er trägt zu der Verwilderung des sittlichen Urteils und zu der Verkehrung der Sitten bei. Wer zu der Sünde anderer schweigt, obwohl Stellung und Verantwortung ihn verpflichten, gegen sie aufzutreten, macht sich an ihr mitschuldig. Wer die Sünde anderer nicht bestraft, obwohl er dazu verpflichtet und berechtigt ist, lädt Mitschuld an fremder Sünde auf sich.

Das Zeugnis der Heiligen Schrift

Die Heilige Schrift berichtet oft von fremden Sünden und enthält viele Beispiele von solchen. Einige von ihnen seien erwähnt.

  • Der König David gab seinem Feldherrn Joas den Befehl, den Urias, dessen Gattin David verführt hatte, absichtlich im Kampf fallen zu lassen, und gebot ihm damit, Unrecht zu tun.
  • Der König Herodes befahl den Kindermord zu Bethlehem. Rebekka, die Frau des Isaak, riet ihrem Lieblingssohn Jakob, den blinden Vater zu hintergehen.
  • Der Hohepriester Kaiphas riet dazu, Jesus umzubringen.
  • Aaron willigte in das Begehren der Israeliten in der Wüste ein und goß das goldene Kalb, das ein Mittel zum Götzendienst war. Pilatus willigte wider besseres Wissen ein, Jesus zu kreuzigen.
  • Die Schlange im Paradies verleitete das Weib, vom verbotenen Baum zu essen. Eva verleitete den Adam zu derselben Sünde. Herodias und Salome verleiteten den König Herodes Agrippa, Johannes den Täufer enthaupten zu lassen. Die Juden lobten den Herodes, daß er den Apostel Jakobus hatte töten lassen. Selbst durch Zustimmung zu den bösen Taten der Vorfahren kann man sich nach den Worten des Herrn noch schuldig machen (Lk 11,47 f).
  • Die Frauen von Job und Tobias reizten durch törichte Reden ihre Männer zu Zorn und Ungeduld.
  • Der Hohepriester Hell schwieg zu aen Sünden seiner Söhne und strafte sie nicht.
  • Judas half mit zu der Sünde des Gottesmordes, als er Jesus den Juden in die Hände lieferte.
  • Saulus unterstützte die Männer, die Stephanus steinigten, indem er ihre Kleider bewachte.
  • Die gottvergessenen Zeugen des Königs Achab verteidigten die Lüge des Königs gegen den unschuldigen Naboth (3 Kön 21,13).

Die Heilige Schrift warnt davor, mitschuldig zu werden an fremden Sünden. Der Prophet Ezechiel sprach schwere Drohungen gegen die falschen Prophetinnen aus (Ez 13,18). Der Prophet Isaias verglich Menschen, die nicht reden, wo sie auftreten müßten, mit stummen Hunden, die nicht bellen können (Is 56,10). Der Herr hat das Wehe über den Ärgernisgeber gerufen (Mt 18,6 f). „Mache dich nicht fremder Sünden schuldig!" mahnte der Apostel (1 Tim 5,22). Die Kirche hat diese Mahnungen aufgenommen und betet am Samstag nach dem 2. Fastensonntag in der heiligen Messe: „Durch dieses Opfer versöhnt, gewähre, Herr, daß wir, die um Nachlaß der eigenen Sünden bitten, nicht durch fremde Schuld belastet werden."

Fremde Sünden in der Gegenwart

Mitschuld an Verfehlungen anderer ist nicht auf die Vergangenheit beschränkt; sie findet sich auch in unserer Zeit. Wer die Welt der Gegenwart aufmerksam beobachtet, stößt immer wieder auf das traurige Phänomen der Beteiligung an der bösen Tat Dritter. Jeder im Jugendamt Tätige und jeder Strafrichter weiß, wie häufig auch heute und gerade heute fremde Sünden sind. Aber auch in der Kirche dürfte diese traurige Wirklichkeit nicht selten sein. Auf einige Fälle soll kurz verwiesen werden.

Die Lenker des Staates, die gegen Verbrecher nicht energisch durchgreifen, sondern sie mit Glacehandschuhen anfassen, versündigen sich schwer und machen sich mitschuldig an Verbrechen, die diese begehen. Die Parlamentarier, die bestimmte verhängnisvolle Gesetze beschließen, die einer angeblich oder wirklich geänderten Mentalität im Volke entgegenkommen, machen sich durch Einwilligung und Mithilfe teilhaftig fremder Schuld. In der Zeit des Dritten Reiches sind von hohen Funktionären viele sündhafte Befehle gegeben worden, und die allermeisten wurden ausgeführt. Die Menschen hatten nicht den Willen, sich ihnen zu widersetzen. Befehl ist Befehl! So sagte man. Auch heute befehlen in vielen Ländern der Erde die Regierenden Sündhaftes, und sie finden leider viele, die es ausführen. Es ist auch zu fragen, ob nicht bestimmte Weisen der sogenannten Sexualerziehung in den Schulen eine Massenverleitung zu fremden Sünden sind.

Menschen, die unsittliche Schriften verfassen und vertreiben, reizen andere zur Sünde. Dies gilt in erster Linie für die Herausgeber und Autoren vieler Zeitschriften und Illustrierten. Was hier an Verführung geschieht, ist nicht leicht zu überschätzen. Es gibt sodann heute so viele schwache Eltern. Durch Einwilligung machen sich Eltern an fremden Sünden mitschuldig, die den schlechten Umgang ihrer Kinder gestatten oder dulden. Auch Frauen, die ihre körperlichen Reize unangemessen zur Schau stellen, können sich mitschuldig machen an fremden Sünden. Wie viele inneren und äußeren Sünden bis hin zu den schrecklichsten Verbrechen würden vermieden, wenn der sexuelle Trieb nicht immer wieder unnötig aufgepeitscht würde!

Bischöfe, die Irrlehrer wirken und das Volk vergiften lassen, machen sich mitschuldig an fremden Sünden durch Einwilligung. Bischöfe, die zu den Irrlehren von Theologen schweigen, obwohl ihr Amt sie verpflichtet zu reden, machen sich dadurch mitschuldig an dem Ruin zahlloser Seelen, der durch diese Theologen hervorgerufen wird. Bischöfe, die zusehen, ohne einzugreifen, wie die Liturgie der Kirche verhunzt wird, machen sich mitschuldig an dieser Sünde. Eine kirchliche Autorität, die in der Frage der Mischehen nicht mehr eindeutig spricht und gebietet, wird mitschuldig, daß viele vom Glauben abfallen und zahlreiche Familien als katholische ausgelöscht werden.

Eine kirchliche Obrigkeit, die immer wieder völlig uneinsichtig und verständnislos über wichtige und begründete Anliegen ihrer Untergebenen hinweggeht, reizt diese zu bedauerlichen Handlungen und macht sich mitschuldig an den Schritten, die aus der Empörung und seelischen Verwundung dieser Gläubigen folgen.

Theologen, die Bischöfe wegen ihrer Untätigkeit gegenüber den Irrlehrern und wegen ihrer Begünstigung des zerstörerischen Progressismus loben, sie u.U. mit Johannes XXIII. vergleichen (wobei dieser Vergleich als Anerkennung gemeint ist), machen sich mitschuldig der Sünde dieser Bischöfe. Theologieprofessoren, die zu den Irrlehren ihrer Kollegen aus falscher Solidarität schweigen, machen sich mitschuldig an dem Unheil, das von diesen ausgeht. Die katholischen Moraltheologen, die behaupten, nicht in jedem Falle sei vor- oder außerehelicher Geschlechtsverkehr eine schwere Sünde, verfehlen sich an den Menschen, die sie falsch unterrichten. Mitschuldig an fremden Sünden wird auch, wer naturwidrige Methoden der Empfängnisverhütung empfiehlt, als erlaubt hinstellt oder nicht als unerlaubt bezeichnet. Geistliche, Prediger und Religionslehrer, die den Ernst der Gebote Gottes und des Letzten Gerichtes sowie die Wirklichkeit der Verdammnis unterschlagen, machen sich mitschuldig an der religiösen und sittlichen Leichtfertigkeit, die der nachkonziliaren Kirche das Gepräge gibt.

Gläubige, die Theologen, Geistliche und Religionslehrer, die durch ihr Verhalten innerhalb und außerhalb des Gottesdienstes sowie durch ihre falsche Lehre Ärgernis erregen, nicht dem Bischof melden, werden an deren Verfehlungen mitschuldig. Gläubige, die erkennen, daß bestimmte Neuerungen dem Glauben und der Frömmigkeit des Volkes Schaden zufügen und dennoch nicht bei Papst und Bischöfen vorstellig werden, werden mitverantwortlich für diese Schäden. Jene Personen, die den verschiedenen Räten angehören und gegen ungerechte und schädliche Beschlüsse nicht ihre Stimme erheben, sündigen. Wer den Abfall von Priestern, die aus irdischen Gründen ihr Priestertum aufgeben, verteidigt und in Schutz nimmt, wird mitschuldig an diesen Sünden.

Der Sünde widerstehen

Es braucht ein zartes, feingebildetes Gewissen, um alles zu tun, was geeignet ist, andere von Sünden abzuhalten, und um alles zu meiden, was dazu führen kann, an der Sünde anderer mitschuldig zu werden. Es braucht dazu auch Mut und Freiheit von Menschenfurcht. Denn die gesellschaftliche Konvention übt einen mächtigen Druck auf die Menschen aus, bestimmte Sünden zu bagatellisieren oder völlig aus dem Bewußtsein zu verdrängen. Ich erinnere nur an die Empfängnisverhütung. Umgekehrt muß auch jeder darauf achten, sich nicht irgendwie durch andere zur Sünde bestimmen zu lassen. Auch hier gibt es einen gesellschaftlichen Sog, sich nicht auszuschließen von dem, was (fast) alle tun. Ein gewissenhafter Christ wird jeder Verleitung zur Sünde, und sei sie noch so einschmeichelnd, ein entschiedenes Nein entgegensetzen. Selbst wenn es die Obrigkeit wäre, die sündhafte Befehle gibt, muß er sich widersetzen. Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen.

Der Beitrag ist dem Sammelband entnommen Georg May, Ausgewählte Aufsätze, 1996.
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