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Die Gabe der Frömmigkeit

Von P. Martin Ramm

Bedeutung

Wie bei der Gottesfurcht, so müssen wir uns auch bei der Frömmigkeit zunächst davon überzeugen, dass sie edel, gut und schön und deshalb höchst erstrebenswert ist. Es ist nämlich eine traurige Tatsache, dass bei vielen weder Gottesfurcht noch Frömmigkeit einen sonderlich guten Ruf genießen.

Noch trauriger aber ist es, wenn sogar Christen die wahre Frömmigkeit nicht kennen und statt ihrer ein Zerrbild belächeln. Die wahre Frömmigkeit ist nämlich weder kleinlich-rechnend noch pharisäischselbstgerecht oder sentimental-verkitscht. All das hat mit Frömmigkeit gar nichts zu tun!

Möge der Heilige Geist uns erleuchten und uns die Frömmigkeit in hellem Licht erstrahlen lassen!

Natürliche Grundlage

Die Grundlage, auf welcher sie aufbaut, findet die Gabe der Frömmigkeit (donum pietatis) in der natürlichen pietas. Das zu verstehen ist wichtig.

• Zunächst meint pietas die schöpferische Liebe Gottes, die uns ins Dasein rief. In der Liturgie bezeichnet der Begriff die liebende Sorge des himmlischen Vaters für seine Kinder

• Ein Abbild der göttlichen pietas ist jene Liebe, mit der Väter und Mütter ihre Kinder lieben. Das Vaterherz Gottes umfasst nämlich die volle sowohl väterliche als auch mütterliche Liebe (vgl. Is 49, 15). Um aber dieser Fülle von Liebe Ausdruck zu geben, hat Gott den Menschen als Mann und Frau erschaffen, damit sie gemeinsam - als Väter und Mütter - seine Liebe widerspiegeln.

Neben dieser ersten Richtung vom Schöpfer zum Geschöpf und von den Eltern zu den Kindern gibt es eine zweite Grundrichtung der pietas. Sie besteht in der liebenden Antwort, die das Geschöpf dem Schöpfer und das Kind den Eltern gibt.

• Die pietas religiosa ist jene hingebende Liebe zum himmlischen Vater, mit welcher der Mensch seinen Gott liebt und ihm dient. Sie ist die treibende Kraft im gesamten religiösen Leben und trägt den Namen Frömmigkeit.

• Die pietas filialis hingegen ist die natürliche Kindesliebe, die sich über die leiblichen Eltern hinaus auch auf alles erstreckt, worin ein Mensch seine Wurzeln hat, insbesondere die Verwandtschaft und die kulturellen Werte seines Vaterlandes.

Die pietas als Tugend macht den Menschen schnell geneigt, Gott und die Eltern zu ehren und ihnen Liebe und Gehorsam zu erweisen.

Indem du dich also bemühst, eine gute Tochter oder ein guter Sohn zu sein, schaffst du Ansatzpunkte für das Wirken des Heiligen Geistes, denn ein wirklich frommer Mensch, der nicht zugleich auch Vater und Mutter ehrt, ist gar nicht denkbar. Nicht umsonst tadelt Jesus scharf die Pharisäer, die Vater und Mutter unter Berufung auf das Tempelopfer (Korban) hintansetzten (vgl. Mk 7, 9-13).

In deutlichem Kontrast zur schönen und edlen Tugend der pietas steht ihr Gegenstück, nämlich die impietas. Diese ist Inbegriff schändlicher Pflichtvergessenheit und Gottlosigkeit sowie für Mangel an Anstand und Liebe.

Der Geist der Frömmigkeit

Der Geist der Frömmigkeit ist nichts anderes als jener Geist der Gotteskindschaft, von dem der hl. Apostel Paulus sagt: „Weil ihr Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen, der da ruft: Abba, Vater! Du bist also nicht mehr Sklave, sondern Sohn; wenn aber Sohn, dann auch Erbe durch Gott.“ (Gal 4, 6-7) Und der hl. Apostel Johannes schreibt: „Seht, welch große Liebe uns der Vater geschenkt hat: Kinder Gottes heißen wir und sind es. Darum erkennt die Welt uns nicht, weil sie ihn nicht erkannt hat. Geliebte, jetzt sind wir Kinder Gottes; aber noch ist es nicht offenbar, was wir sein werden. Wir wissen: Wenn es sich offenbaren wird, werden wir ihm ähnlich sein; denn wir werden ihn schauen, wie er ist. Und jeder, der diese Hoffnung auf ihn setzt, heiligt sich, gleichwie auch er heilig ist.“ (1 Joh 3, 1-3)

Der hl. Franz von Sales sieht in der Frömmigkeit eine höhere und lebendigere Stufe der Gottesliebe, denn sie „lässt die Liebe in uns oder uns in der Liebe tätig werden mit rascher Bereitschaft und Freude“ (Philothea I,1).

Erste Wirkung: Nähe zum Geliebten

Das erste Kennzeichen jeder Liebe ist, dass sie die Nähe zum Geliebten sucht. Ist der Geliebte aber fern, so ist es die Sehnsucht, die geistige Brücken baut, denn was man liebt, an das denkt man oft und gern.

Das gilt nicht nur für die Liebe zwischen Eltern und Kindern oder Braut und Bräutigam, sondern ebenso und noch viel mehr für die liebende Beziehung zu Gott. Diese bewirkt eine starke Bindung nach oben. Indem ich oft und gerne an Gott denke, beginnt Gebet, und genau das ist Grundvoraussetzung für ein geistliches Leben, worin wir die Beziehung zu Gott nach Art einer Freundschaft pflegen.

Gerade an diesem Punkt wird deutlich, wie wunderbar die Frömmigkeit die Gottesfurcht ergänzt.

Auch im Hinblick auf die kindliche Liebe zum himmlischen Vater und die Offenheit für den Geist der Frömmigkeit gilt das Wort Jesu: „Wenn ihr euch nicht bekehrt und nicht werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht in das Himmelreich eingehen.“ (Mt 18, 3)

Zweite Wirkung: Bereitschaft zum Guten

Ein zweites sicheres Kennzeichen der Liebe ist die Freude daran, Gutes zu tun, denn wie die Gottesfurcht eine grundsätzliche Abkehr vom Bösen, so bewirkt die Frömmigkeit eine grundsätzliche Hinneigung und Zuneigung zu allem, was gut ist.

Wenn ein Kind seine Mutter liebt, bereitet es ihm dann nicht große Freude, wenn es die Mutter glücklich machen kann? So weckt die Liebe zur Mutter das Edelste im Menschen, und es ist schön und zugleich nützlich, wenn Kinder ihre Eltern und Menschen ihren Gott klar und herzlich lieben!

Weil aber wahre Liebe niemals blind macht, sondern sie im Gegenteil den Blick sogar schärft, vermag ein liebender Mensch viele Gelegenheiten zum Guten zu sehen, die ein anderer gar nicht wahrnimmt. Und es bleibt dann nicht beim bloßen Sehen, denn die Liebe drängt zur Tat, wie der hl. Apostel Johannes sagt: „Wir wollen nicht lieben mit Wort und Zunge, sondern in Tat und Wahrheit.“ (1 Joh 3, 18) In diesem Sinne sagt Jesus: „Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt.“ (Joh 14, 21)

Schon die Gelegenheit, Gutes zu tun, kann einen frommen Menschen eher noch glücklicher machen, als wenn er selbst beschenkt würde (vgl. Röm 20, 35). Gutes zu tun wird ihm so selbstverständlich wie das Atmen.

Auch menschlich wirkt wahre Frömmigkeit angenehm, sensibel und gewinnend.

Dritte Wirkung: Bereitschaft zum Opfer

Eine weitere Wirkung der Liebe ist die Bereitschaft auch zu Selbstverleugnung und Opfer.

• Stell dir vor, du hast die Wahl zwischen Gut und Böse. In der Kraft der Gottesfurcht wirst du ganz gewiss das Gute wählen.

• Nun stell dir aber vor, du hast die Wahl zwischen Gut und Besser, und dabei wird dir bewusst, dass das Bessere das Mühsamere ist. Was wirst du wählen? Reicht dir gut? Oder ist es nicht der Geist der Frömmigkeit, der dich dazu drängt, nach Möglichkeit das Bessere zu wählen, auch wenn es mühsam ist?

Die Frömmigkeit hebt den Menschen über sich selbst hinaus. Sie kennt keinen Kompromiss mit lauer Trägheit, und jeder Minimalismus ist ihr fremd. Das fromme Herz bevorzugt den engen und steilen Weg (vgl. Mt 7, 14). Statt sich von den Mühen beeindrucken zu lassen, hat es das je Bessere im Blick.

Schon die praktische Erfahrung lehrt, dass viel tiefere Erfüllung findet, wer nicht knausert. Spärliche Hingabe bringt klägliche, ganze Hingabe aber volle Erfüllung. Was du halbherzig tust, wird dich kaum halb befriedigen, doch was du aus vollem Herzen tust, darin liegt Segensfülle. Das bestätigt auch der hl. Apostel Paulus, wo er sagt: „Wer spärlich sät, wird auch spärlich ernten, und wer mit vollen Händen sät, wird mit vollen Händen auch ernten.“ (2 Kor 9, 6) Sei also deinem Gott gegenüber nicht knickerig! Überlege: Was kann dich innerlich bewegen? Bist du bereit, dich vom Sturm des Geistes emporreißen zu lassen?

Es handelt sich bei diesem Text um einen Ausschnitt aus dem Kapitel über die Gabe der Frömmigkeit, aus dem Buch von P. Martin Ramm FSSP "Gaben des Geistes. Christsein konkret". Das Büchlein hat 240 Seiten und kann gegen eine freiwillige Spende es bei der Petrusbruderschaft bestellt werden.


Robert Mäder: Abba, lieber Vater!


Das Stück unseres Lebens

In der 70. Folge meines Podcasts gehe ich der Frage nach, ob wir das Leben manchmal nicht zu ernst nehmen - und manchmal zu wenig ernst.

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