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Darf man im Katastrophenfall Passagierflugzeuge abschießen?

Von P. Engelbert Recktenwald

Ist es erlaubt, um eine Katastrophe zu vermeiden, Passagierflugzeuge, die von Terroristen entführt und als Waffe eingesetzt werden, abzuschießen?

Um sie moraltheologisch zu beantworten, ist es notwendig, das Prinzip von der doppelten Wirkung einer Handlung zu verstehen und solche Handlungen von in sich schlechten Handlungen zu unterscheiden.

Es gibt in sich schlechte Handlungen, die moralisch nie gerechtfertigt sind. “Sie sind immer und an und für sich schon schlecht, d.h. allein schon aufgrund ihres Objektes, unabhängig von den weiteren Absichten des Handelnden und den Umständen” (Johannes Paul II., Enzyklika Veritatis Splendor 80). Sie sind auch nicht erlaubt, um einen noch so guten Zweck zu erreichen. Hier gilt der Grundsatz: Der gute Zweck rechtfertigt nicht die schlechten Mittel. Dazu gehört z.B. der Mord. So ist es etwa einer Gruppe von Menschen, die sich in einer Situation extremer Hungersnot befindet, nicht erlaubt, einen Schicksalsgenossen zu töten, selbst wenn durch diesen Kannibalismus alle anderen gerettet werden könnten und ohne denselben alle zugrunde gehen würden. Bei solchen Handlungen verbietet sich jede Güterabwägung.

Daneben gibt es Handlungen mit doppeltem Effekt, nämlich einer guten und einer schlechten Wirkung. Das Entscheidende dabei ist, dass die gute Wirkung nicht eine Folge der schlechten Wirkung ist. In einem solchen Fall ist eine Güterabwägung erlaubt und notwendig. Als Beispiel soll die Situation dienen, in der das Leben einer verschütteten Gruppe von Bergleuten nur durch eine Sprengung gerettet werden kann, bei der ein Verletzter, der in zu großer Nähe des Sprengungsorts liegt und der nicht zuvor in Sicherheit gebracht werden kann, getötet wird. Diese Sprengung hat zwei Folgen: Die Tötung des Verletzten und die Rettung der restlichen Menschen. In diesem Fall darf und muß ich eine Güterabwägung vornehmen und den Tod des einen in Kauf nehmen um der Rettung der vielen willen.

Diese Rettung ist nicht, wie im ersten Beispiel, eine Folge der Tötung. Um sich dies klarzumachen, braucht man nur das Gedankenexperiment anzustellen, ob dieselbe Handlung auch sinnvoll wäre, wenn sie kein Todesopfer involvierte. In unserem Fall würde die Sprengung genauso ans Ziel führen, wenn nicht zufällig ein Verletzter in der Nähe läge. Dessen Tötung hat im Rahmen der Handlung den Charakter eines unglücklichen Umstands, sie definiert aber nicht dieselbe. Wenn wir das obengenannte Beispiel des Kannibalismus danebenhalten, fällt uns der Unterschied sofort ins Auge.

Mir scheint es klar zu sein, dass der Abschuß eines Passagierflugzeugs nach dem Prinzip der doppelten Wirkung beurteilt werden muß: Die Rettung der Menschen ist nicht eine Folge des Todes der Passagiere. Der Abschuss des Flugzeugs wäre genauso sinnvoll und zweckdienlich, wenn es keine Passagiere an Bord hätte. Deren Tod wird als tragischer Umstand in Kauf genommen, was in diesem Fall um so gerechtfertigter erscheint, als sie auch ohne Abschuß ihr Leben verlieren würden. Selbstverständlich käme diese Option nur als ultima ratio in Frage. Keine Rolle spielt übrigens aus moraltheologischer Sicht die Frage, ob es sich bei den Entführern um Terroristen oder unpolitische Kriminelle handelt.

So klar der Fall in der Theorie ist, so schwierig dürfte die Urteilsfindung in der Praxis sein. Bei der Güterabwägung müssen folgende Faktoren berücksichtigt werden:
1. Das positive Gut, das erreicht wird, muss das Gut, dessen Zerstörung in Kauf genommen wird, deutlich überwiegen.
2. Je größer das Gut ist, das geopfert werden soll, um so größer muss die Gewissheit der Gefährdung des Gutes sein, das gerettet werden soll.

Mit anderen Worten: Man darf das Flugzeug nicht auf bloßen Verdacht hin abschießen. Auch eine explizite Drohung der Terroristen ist möglicherweise nur ein Bluff. Erst wenn unmittelbar Gefahr in Verzug wäre, dürfte man zur Tat schreiten. Man mag sich viele verschiedenartige Szenarien vorstellen, aber es scheint die Notwendigkeit fast unvermeidlich, dass die Entscheidung über Leben und Tod innerhalb weniger Minuten oder gar Sekunden getroffen werden muß. Wer kann und sollte dies im konkreten Falle tun? Die Schwierigkeit spitzt sich zu, wenn Fragen wie die nach den Bodenopfern eines Abschusses miteinbezogen werden müssen: Wenn sich das Flugzeug dem angekündigten Ziel, z.B. dem Stadion, schon so sehr genähert hat, dass ein Abschuß über bewohntem Gebiet stattfindet: Überwiegt dann noch das gerettete Gut deutlich genug die Opfer? Diese Fragen betreffen die jeweils konkrete Situation. Sie können deshalb von der Moraltheologie nicht a priori beantwortet werden, sondern müssen immer jeweils neu vor Ort entschieden werden.

Auf dem Hintergrund solcher Fragen und der Furcht vor Fehlentscheidungen ist etwa das Unbehagen Volker Becks an einer generellen Billigung (was immer das heißen mag) nachvollziehbar. Wenn er aber als Begründung hinzufügt: “Eine Abwägung Leben gegen Leben kann es nicht geben. Es bleibt Unrecht, unschuldige Menschen zu töten”, dann stehen diese Worte in grandiosem Widerspruch zur heute allseits und auch von ihm akzeptierten Abtreibungspraxis, bei der Leben nicht nur gegen Leben, sondern gegen soziales, wirtschaftliches und psychologisches Wohlbefinden abgewogen wird und den Kürzeren zieht.

In der katholischen Moraltheologie der letzten Jahrzehnte gibt es eine einflußreiche Bewegung, die den Unterschied zwischen in sich schlechten Handlungen und solchen, die eine Güterabwägung erfordern, aufheben wollen, und zwar zugunsten der letzteren. Demnach bemißt sich die moralische Qualität einer Handlung ausschließlich nach der Gesamtheit ihrer Folgen. Man nennt dieses Konzept “Konsequentialismus”. Dieser kennt keine Handlungen, die in sich schlecht sind. Als Robert Spaemann 1982 in einem grundlegenden Aufsatz der “Herder-Korrespondenz” den Konsequentialismus widerlegte, liefen Moraltheologen dagegen Sturm und veröffentlichten in derselben Zeitschrift gleich drei Erwiderungen (aus der Feder von Peter Müller-Goldkuhle, Antonius Elsässer und Franz Furger). Und als Papst Johannes Paul II. in seiner Rede vom 12. November 1988 auf der Existenz von in sich schlechten Handlungen beharrte, war dies einer der Gründe für den Aufruhr der 163 Theologen, die die “Kölner Erklärung” unterschrieben und dem Papst ihren Widerstand erklärten. Während also diesen Theologen die kirchliche Lehre zu rigoristisch ist, ist sie es dem heutigen Grünen-Politiker plötzlich zu wenig. Dieser will die Güterabwägung am falschen Ort verweigern, jene an jedem Ort erzwingen. Schon für Chesterton war solche Widersprüchlichkeit der Kritik an der Kirche ein Indiz für die Richtigkeit des Kritisierten.

Auch der gläubige Katholik sollte schwierige moraltheologische Fragen nicht aus dem hohlen Bauch heraus zu beantworten suchen, sondern sich die Mühe machen, solide Handbücher zu konsultieren, die aus einer Zeit stammen, da die “Diktatur des Relativismus” noch nicht in die Theologie eingedrungen war. Die Kirche und die ihrem Lehramt ergebene Moraltheologie hat im Laufe der Jahrhunderte eine strengen logischen Gesetzen folgende Prinzipienethik entwickelt, auf die der Katholik zurecht stolz sein kann und die ihn davor bewahrt, Opfer der kurzlebigen Moden des Zeitgeistes und der political correctness zu werden.


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