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Gold außer Kurs
Was es mit der "Geschichtlichkeit der Wahrheit" auf sich hat

Von Dr. Eduard Kamenicky

Es wäre aufs höchste erstaunlich, wenn eine Botschaft wie die der Bibel, eine Lehre wie jene der Kirche nicht gewaltige geistige Reaktionen auslöste. Was hier als Ganzes von erhabener Kunde, umfassender Sinndeutung des Lebens, forderndem Weltgesetz und seliger Verheißung unter dem Stichwort Evangelium mit göttlichem Anspruch in Erscheinung tritt, ist so unvergleichlich groß und so mitreißend, daß man ohne alles Studium. seiner geschichtlichen Wirkungen von einer die Kultur der Völker wie die Seele des Einzelnen zutiefst aufwühlenden Resonanz von vornherein überzeugt sein kann. Es darf schon rein psychologisch als unvermeidlich gelten, daß ein Wort wie dieses — und welches könnte ihm nur entfernt an die Seite gestellt werden? — ebenso sicher auf begeisterte Zustimmung wie auf kompromißlose Ablehnung stößt. So war es und so ist es auch, und beides ist nicht zu verwundern.

Der umdeutende Vorbehalt

Die, wenn man will, interessantere Reaktion auf das Evangelium ist indes jene, in der sich Respekt und Distanz ihm gegenüber auf eine seltsame Weise verschränken, wobei unter dem Schein positiver Annahme der christlichen Heilslehre sich deren Verneinung und vermeintliche Überwindung vollzieht. Unter dem doppelten Eindruck, an dieser Botschaft als geistiger Größe weder geschlossenen Auges vorbeileben, noch sie aber in ihrem sehr wohl begriffenen Sinn faktisch akzeptieren zu können, entdeckt man die Lösung in einer das Evangelium so sehr verwandelnden Aneignung und in einer Deutung desselben, daß man hoffen darf, nach gelungener Ausmerzung seines harten Kerns noch etwas von seiner ursprünglichen Kraft für ein Leben gemäß eigener Weisheit dienstbar zu machen. Ein raffinierter Plan, bei dem es, wie jeder sieht, um den Ernst und das Eigentliche der Wahrheit geschehen ist.

Erstes Beispiel: Gnosis

Die Apostel waren noch nicht gestorben, als der erste große Versuch, das Wort Christi auf diese Weise zu unterlaufen und zu entschärfen, ins Werk gesetzt wurde. Er hat in der Folge die Kirche durch Jahrhunderte in ein Ringen auf Leben und Tod verwickelt, bei dem es tatsächlich um alles ging — nämlich darum, wie die göttliche Kunde vom Heil wirklich gemeint war. Diese mit großem Aufwand von Intelligenz und Leidenschaft unternommene Anstrengung, das Evangelium zu verfälschen, ist uns unter dem Sammelnamen Gnosis geläufig. Sie griff mit Begierde nach den heiligen Schriften, erklärte sie aber bald zu einem geheimnisvollen Chiffren-System, das von den Uneingeweihten oder Katholiken (was praktisch in ihrer Terminologie immer mehr gleichbedeutend wurde) gröblich mißkannt war. Die Gnosis trat nicht zum Kampf gegen die Wahrheit, sondern vorgeblich für eine tiefere Wahrheit an. Das machte sie für das Christentum eminent gefährlich. Ihr Vorwurf gegen die Kirche lief in immer neuer Gestalt auf die Behauptung hinaus, das Wort der Heilsbotschaft vorschnell und etwas primitiv als bare Münze zu nehmen. Der Gnostiker würde, wenn wir es mit Hilfe des Bildes von der Münze ein wenig verdeutlichen wollen, dem Katholiken, kurz gesagt, zu bedenken geben: Bild und Aufschrift dieser Münze meinen ganz anderes, als du denkst. Das bleibt freilich der Masse verborgen und wird nur den Eingeweihten anvertraut. Diese wissen es besser. Solange du dich an die buchstäbliche Geltung und Richtigkeit dessen klammerst, was du da in Händen hältst, bist du weit von der Wahrheit entfernt. Schade für dich, aber da ist dir wohl nicht zu helfen.

Zweites Beispiel: Reformation

Ein zweiter Versuch, einem radikalen Neuverständnis der — wie man meinte und sagte: längst verdorbenen — göttlichen Kunde Bahn zu brechen, nahm mit dem Ende des Mittelalters immer mehr Kontur an. Jetzt schien vor allem der Druck der sittlichen Forderungen unerträglich auf den zu neuer Weltfreude und Sinnenlust erwachenden Völkern zu lasten, die Unerbittlichkeit der christlichen Imperative nicht mehr zeitgemäß zu sein. Ohne Zweifel lag den sogenannten Reformatoren nichts ferner, als die Heilsbotschaft als solche über Bord werfen zu wollen; aber deren erlösende Wahrheit mußte sich einfach anders verstehen lassen, um für den Menschen ein Evangelium zu sein. Auch hier war ein Widerspruch zum katholischen Standpunkt unvermeidlich, dem immer noch alles als »bare Münze« galt — ohne Abstriche, ohne Einschränkung, ohne Neu-Verständnis ... Wieder ging das Gold des Wortes in tausend Streitgesprächen, in Manifesten, Pamphleten und ernsten Büchern von Hand zu Hand. Zuletzt machte auch hier nicht Annahme oder Verwerfung, sondern die Einschätzung des Wortes und des mit ihm Gemeinten den Unterschied. Auf das Bild vom Goldstück gemünzt, würden die Reformatoren etwa sagen: O ja, das alles gilt und wiegt und zählt — aber nur in Gottes und Christi Hand. Glaube doch ja nicht, daß du etwas beitragen, etwas erwerben oder verdienen kannst, daß du imstande wärest, mitzuwirken bei dem, was allein Christus tut. Was du in deinem katholischen Realismus für eine Münze hältst, ist eher einer Gedenkplakette zu vergleichen: alles dies ist zur Erinnerung geprägt an das, was geschehen ist, was Christus getan hat, ein für allemal, was dir bei Gott gutgeschrieben und angerechnet wird, wenn du nur glaubst und einverstanden bist mit Gottes Plan. Aber quäle dich nicht weiter und bemühe dich nicht um das Unmögliche, als ob der Mensch, verdorben durch die Sünde bis auf den Grund seines Wesens, etwas zu wirken und zu geben vermöchte, was von Wert wäre vor Gott. — Eine demütige Erwägung, könnte man sagen; und doch war sie es, die hinter der Fassade des hoch und heilig gehaltenen Wortes etwas Wesentliches von dessen Sinn und Inhalt verschwinden ließ, indem unter ihrer Wirkung das verdienstliche Werk und der jenseitige Mensch, Tugendstreben und Ideal der Vollkommenheit, ja Sakrament und Kirche lautlos zusammensanken.

Drittes Beispiel: Aufklärung

Dann war die gefeierte Neuzeit vollends da und mit ihr der Wissensstolz der Aufklärung, die Skepsis des Liberalismus, die rationalistische Kleinstgläubigkeit. Auch die echten Söhne dieser Epoche scheuten in ihrer großen Mehrheit das schroffe Nein zu der Lehre des Meisters von Nazareth. Aber in den Händen von Lessings Nathan wurde schon recht zweifelhaft und im Grunde unwichtig, wo hier nur wirklich das Kleinod war. Und weil sich alles zuletzt als Objekt der Wissenschaft erwies und erst mit der Wissenschaft der Mensch die ihm zugedachte Höhe erstieg, wurde auch der alte Schatz des Evangeliums hervorgeholt und endlich einmal kritisch unter die Lupe genommen. Abermals ein Akt der “Annahme”, dem allerdings der Geist des Glaubensgehorsams und der Bereitschaft zur Nachfolge Christi schon völlig fremd war. Da stand immer noch der Katholik, dieses sonderbare Geschöpf, bewahrend, festhaltend an dem ihm Überlieferten, treu, in Ehrfurcht, seines göttlichen Reichtums gewiß. Immer noch hatte er die alte Münze in der Hand wie den Denar himmlischen Lohnes, trug die Kunde des mit ihm Verheißenen im Herzen. Bis der Mann der Wissenschaft an ihn herantrat und zu ihm sagte: “Was hast du da Hübsches? O ja, ein schones Stück! Ein interessantes Stück! Meisterlich gefälscht, aber natürlich — gefälscht!” Und nach und nach erfuhr der gläubige (man sagte: “ach so gut-gläubige”) Katholik, was alles nicht echt war. Gewiß: die Bibel in Ehren. Die Tradition in Ehren. (Und die Wissenschaft erst recht!) Aber man war eben so weit, unterscheiden zu können. Und man fand mit der Zeit so viele Falsifikate, daß der geistige Schatz der Kirche praktisch in nichts zerrann. Diese Leistung war im wesentlichen schon im 19. Jahrhundert erbracht, wenngleich sie erst allmählich den Christen zum Bewußtsein kam.

Viertes Beispiel: Die Gegenwart

Und jetzt treten mit großer Selbstsicherheit die Neu-Interpreten von Bibel, Kirche und Dogma auf — die Geschichtsschreibung hat mangels zeitlichen Abstandes von diesem Ereignis noch keinen endgültigen Namen für sie geprägt —‚ welche ihre umfassende Kritik noch raffinierter üben. Sie sagen nämlich (wenn wir das Bild von der Münze beibehalten und ihre Haltung an diesem verdeutlichen wollen): »Eine Fälschung? Nein, nein, das ist schon echt! Das ist schon alt, uralt! Das ist sogar, nach allen Merkmalen zu schließen, mit großer Sicherheit erstes Jahrhundert. Aber - was willst du eigentlich heute, im zwanzigsten, damit? Echtes Gold, kein Zweifel, aber — längst außer Kurs! War damals gängig und gültig, selbstverständlich. Aber heute? Man könnte es allenfalls in eine Vitrine legen, sozusagen als ein museales Stück. Aber damit ist niemandem wirklich gedient. Es bliebe dabei tot und fossil. Man muß es einschmelzen. Man muß es umprägen. Man muß daraus etwas machen, was dem Menschen heute dient, was seinen Bedürfnissen entspricht. Gewiß, man muß es nutzbar machen und wieder in Verkehr bringen, aber angepaßt an die neuen Verhältnisse einer ganz anders gewordenen Welt ...”

Das klingt abermals verblüffend, nahezu klug, für viele einleuchtend und jedenfalls gefährlich verführerisch wie jeder andere erwähnte Versuch, die christliche Botschaft in einer für sie zuletzt tödlichen Weise zu adoptieren und dem Menschen zu eigen zu machen. Der Kern dieser geisteswjssenschaftlichen “Relativitäts-Theorie” (die nicht mit der naturwissenschaftlichen Albert Einsteins verwechselt werden darf) lautet: alles ist geschichtlich bedingt und in seiner Bedeutung daher überholbar. Es hängt notwendig von der Erkenntnis, der Bildung, dem Charakter der Völker und ihrer Kultur ab und kann nur aus der Zeit heraus, in der es gesagt, geglaubt und geschaffen wurde, richtig verstanden werden. Man muß alles im Rahmen des Weltbildes, zu dem es gehört, auf das es sich bezieht und das es zum Ausdruck bringt, sehen, man muß es aus seinen geschichtlichen Bedingungen und Zusammenhängen beurteilen. Die Zeiten ändern sich und wir Menschen wandeln uns mit ihnen. Das hatten sogar schon die Alten erfaßt. Dieses Grundgesetz allen Lebens und aller Entwicklung muß die Methodik jeder deutenden Wissenschaft, jeder geistigen Erschließung menschlicher Leistungen und Anschauungen aller einzelnen. Epochen bestimmen. Nur die Berücksichtigung aller geschichtlichen Faktoren und Konditionen kann uns hinsichtlich jedes geistigen Denkmales der Menschheit den Weg zu dessen ursprünglichem Sinn freimachen. Solche Deutekunst (oder Hermeneutik) ist der Universalschlüssel wahrhaft wissenschaftlicher Interpretation. Was sich mit ihrer Hilfe als geschichtlich fundierter und gesicherter Sinn der Dokumente menschlicher Überzeugungen erheben läßt, ist in seiner Geltung natürlich beschränkt auf den Raum der ihm zugehörigen Kultur und Mitwelt. Sobald sich die Perspektiven des Menschen geschichtlich verschieben, stellt sich alles von neuem Standort aus verändert dar. Das kann gar nicht anders sein. Dieser Wandel ist stetig und er ist notwendig; denn er ist die Seele des Fortschritts. Daß dies alles auch für die Religion und ihre Lehre gilt, steht außer Zweifel. Wir beginnen sehr spät, diese Einsicht nutzbar zu machen; desto machtvoller kommt sie heute zum Durchbruch; desto radikaler muß sie auch hier mit allen ihren Folgerungen zu Ende gedacht werden.

In dieser hier notgedrungen ganz knapp resümierten Doktrin ist Berechtigtes und Berüchtigtes, Banales und Fatales, Schlüssiges und Kurzschlüssiges so heillos miteinander vermengt und verfilzt, daß man die Breitenwirkung dieser mit Irrtum versetzten Erkenntnismelange auf ein weithin laienhaft unkritisches, wissenschaftsgläubiges und fortschrittlich gesinntes Publikum durchaus verstehen kann. Der Arglose beginnt gewöhnlich erst dann zu stutzen, wenn sich die Relativitätspropheten so sehr übernehmen, daß sie etwa Sätze wagen wie: Wahrheit sei einzig Sache des intellektuellen Geschmacks, oder: was die Sentenzen einer Schrift des ersten oder eines Konzils des vierten Jahrhunderts für die, die sie niedergelegt haben, bedeutet hätten, sei heute überhaupt nicht mehr eruierbar. Denn mit solchen und ähnlichen Annahmen würde nicht nur alle Texterschließung zu einer Sache der Willkür und jede Weitergabe von Wissen zu einer Angelegenheit von Zufall und Glück, der Mensch selber entpuppte sich angesichts einer derart monströsen Diskontinuität seiner geistigen Manifestationen als ein irrationales Wesen von so bedenklicher Art, sich zu äußern und seine Überzeugungen darzustellen, daß er mit den Zeugnissen seines Geistes ferner kaum mehr das anhaltende Interesse des vernünftig Denkenden erwarten dürfte. Daß sich darin alle Wissenschaft des Menschen selbst zuschanden machte, ist völlig klar, und hier muß nun wohl auch den abenteuerlustigsten Partisanen des sogenannten Erkenntnisfortschritts der Zweifel packen.

Eine große Versuchung

Dem nüchternen Beobachter und Beurteiler dieser theoretischen Eskapaden mag es fürs erste unverständlich erscheinen, wie man geneigt sein kann, sich zu solch extremen Aufstellungen fortreißen zu lassen. Alle Erfahrung der Menschheit spricht eindeutig dagegen, daß sich jemals derart radikale Einbrüche ereignet hätten, durch die den Späteren das elementare Verständnis der Früheren total unmöglich geworden wäre. Alle Bewährung der Geisteswissenschaft, der Tradition und der kulturellen Kontakte von Ära zu Ära widerlegt mit leidenschaftsloser Tatsächlichkeit eine so verstiegene Skepsis. Allein, die Versuchung ist groß, sich in solche Mutmaßungen einzulassen. Denn nichts böte eine verläßlichere und noch allgemeiner anwendbare Handhabe, bisher unerschütterlich Gültiges in Frage zu stellen, ja das in seinem Rang Unantastbare zu entwerten, als diese These von der bloß beschränkten Richtigkeit, weil »Geschichtlichkeit« von allem, mithin auch der Wahrheit. —

Die letztgenannte Konsequenz macht allerdings besonders auffällig, daß hier etwas nicht stimmen kann. Denn daß Wahrheit »zeitbedingt« wäre, nur temporär gültig und sohin der Veränderung unterworfen, stellt das genaue Gegenteil dessen dar, was alle im Sinne haben, die einen klaren Begriff von Wahrheit besitzen und in ihrem Denken verwenden. Ganz gleich, welchem Sachverhalt Wahrheit im einzelnen zugesprochen wird, in jedem Fall ist mit ihr volle und zweifelsfreie Richtigkeit gemeint, ein Übereinstimmen des Geistes in seinem Erkennen mit der erfaßten Wirklichkeit in ihrem eindeutigen So-und-nicht-anders-sein. Wann und wo immer eine solche gedankliche Spiegelung des Objektiven gelingt, kann dieser Wahrheit der Charakter des Zutreffens nicht mehr verlorengehen. Das gilt von der Aussage über eine bestimmte Begebenheit, wie sie in der Rechtspflege eine Rolle spielt, ebenso wie von der Formulierung einer auf vieles bezüglichen, gesetzhaften Einsicht. Man müßte den Wahrheitsbegriff von Grund auf mißverstehen und mit einem ihm völlig fremden Inhalt erfüllen, um den »geschichtlichen« Übergang von Wahrheit in ihr Gegenteil gedanklich vollziehbar zu machen. Auf diese Weise aber verließen wir mit unserer Rede den Boden der Vernünftigkeit, die uns dazu anhält, einen Begriff von solcher Tragweite niemals anders als im Sinne seiner evidenten, von allen, die ihn kennen und benützen, spontan bejahten Bedeutung zu gebrauchen.

Absicht und Methode

Diese Überlegung läßt es noch rätselhafter erscheinen, daß eine solche Umkehrung von Inhalt und Funktion des Wahrheitsbegriffes überhaupt stattfinden und in der Maske eines epochalen Erkenntnisfortschrittes auftreten kann. Dafür sind allerdings einige typische Ungenauigkeiten im Argumentieren auf der einen und im Mitdenken auf der anderen Seite verantwortlich, die, wenn man sie sich geschickt zunutze macht, dieser widersinnigen Behauptung zunächst den Anstrich des Plausiblen verleihen. Jene Ungenauigkeiten aber sind der Hauptsache nach folgende:

Man betont mit Emphase, daß jeder Satz, jede Erkenntnisformulierung, notwendig geschichtlich sei. Das ist allerdings geradezu trivial, denn es bedeutet nicht mehr, als daß jeder Satz irgendwann irgendwo von irgendjemandem ausgesprochen wird, sofern er zu unserer oder anderer Kenntnis gelangt und dergestalt im Leben des Menschen als geistige Größe zu figurieren vermag. Daß sich dabei jede Aussage einer ganz bestimmten Sprache und im Fall ihrer Fixierung eines konkreten Zeichensystems bedient — Dinge, die von Volk zu Volk, von Epoche zu Epoche, ja in gewissem Sinn von Mensch zu Mensch verschieden sind —‚ versteht sich ebenso von selbst und hat nicht den geringsten Einfluß auf die Richtigkeit des Wahren und die Unrichtigkeit des Falschen. Das breite Spektrum der sprachlichen und zeichenhaften Möglichkeiten im Hinblick auf die Vermittlung von Einsicht und Rede in der Menschenwelt erzeugt aber den Eindruck der Relativität, ja der Unsicherheit, den man ohne viel Mühe auf die Wahrheit der so vielfältig überlieferten Denk- und Aussageinhalte übertragen kann. Wer weiß schon, was die Hieroglyphen, die einen ägyptischen Obelisken bedecken, bedeuten? Wer ist in unseren Breiten auch nur imstande, zuverlässig und gewandt eine koreanische Zeitung zu lesen? Das sind freilich sehr platte Argumente, die das Problem keineswegs treffen. Mein persönliches Nichtbeherrschen einer Sprache entwertet diese in keiner Weise als logisches Instrument. Das wäre ja noch trauriger! Selbst die Irrtumsfähigkeit auch des Versierten bei der Entzifferung schwieriger Texte reicht an die Wahrheitsfrage als solche gar nicht heran. Aber diese alltäglichen Fakten machen Stimmung im Dienste des gewünschten Wankelsinns: »Wer weiß, wie sich überhaupt alles in Wahrheit verhält?«

Eine zweite Ungenauigkeit besteht darin, daß die ebenso selbstverständliche Geschichtlichkeit der Wahrheitserkenntnis unbemerkt auf die Wahrheit selbst übertragen wird. Dies ist ein beliebter Trick, den viele nicht sogleich durchschauen. Jede menschliche Erkenntnis, über die wir Kunde erhalten und sprechen können, ist unvermeidlich in einer bestimmten geschichtlichen Situation gewonnen worden und von geschichtlich aufweisbaren Voraussetzungen ihrer Gewinnung abhängig. Diese Feststellung ist aber, mit Verlaub, nicht weniger banal als die erste. Wie sollte oder könnte es sich auch anders verhalten? Und daß es eine Vertiefung von Einsichten im Sinne voranschreitender Denk- und Forschungsleistung gibt, andererseits auch den Verlust von Wissen - und zwar beides für die Menschheit im ganzen wie für Völker und Individuen im einzelnen, ist wahrhaftig keine sensationelle Entdeckung, vielmehr für den, der über die Weisen von Erkenntnisgewinn und Erkenntnisvermittlung des Menschen ein wenig nachgedacht hat, eine Binsenwahrheit, ja im Grunde von vornherein klar. Daß hierbei im einzelnen unzählige Faktoren eine »geschichtliche« Rolle spielen, ist ebenso gewiß wie der Umstand, daß ein Riesenteleskop die Tiefen des Universums zu erschließen tauglicher ist als ein einfaches, einen bloßen Ausschnitt des Firmamentes schärfer begrenzendes Rohr. Wie vermöchte aber derlei das Wahrsein des Wahren oder das Nichtwahrsein des Nichtwahren zu tangieren?

Eine dritte Ungenauigkeit liegt in der Transponierung des geschichtlichen Interesses auf die Gegenstände, welchen dieses Interesse gilt — und eines Tages vielleicht eben nicht mehr gilt. Die Aufmerksamkeit des menschlichen Denkens kann sich unter Umständen ganz bestimmten Sachverhalten zuwenden und infolgedessen »Wahrheiten« bezüglich dieser Sachverhalte erfassen und ausdrücken. Es ist aber durchaus möglich, daß sich die Menschen in der Folge von den betreffenden Objektbereichen abwenden, vielleicht weil sie durch anderes gefesselt werden. Dies läßt ihre frühere Einsicht und auch das Wahre an ihr mit einem Mal als inaktuell, als »geschichtlich« und »für heute belanglos« erscheinen. Daß auch hier das Wahre wahr bleibt, ungeachtet seiner ferneren Würdigung durch den Menschen, ist uns bereits ganz durchsichtig geworden. Die angedeutete Manipulation weckt aber bei vielen ein Gefühl tiefer Unsicherheit, wenn sie etwa darauf hingewiesen werden, wie sehr manche »Wahrheit« eines Tages offenbar gar keine Rolle mehr spielt.

Wahrheit ist ungeschichtlich

Daß Wahrheit als solche ungeschichtlich ist, ergibt sich schon aus ihrem Begriff und wird durch eben das tausendfach erhärtet, was heute dazu dienen soll, diese in sich ruhende, verbleibende, unantastbare Geltung von Wahrheit fragwürdig zu machen: das Ganze der menschheitlichen Erkenntnisleistung mit den staunenerregenden Erfolgen des gesunden, zielstrebigen Denkens auf allen Gebieten der Wissenschaft. Ohne dauernde Geltung des Wahren in seinem Wahrsein wäre dieses gewaltige Werk gar nicht möglich, müßte alle Bemühung um Wahrheit als eitel und die immer neue Verifizierung der menschlichen Einsichten, ihre gelingende Bestätigung an der Wirklichkeit, als aussichtslos gelten.

Als völlig abwegig muß aber jener Versuch erkannt werden, der darauf abzielt, die Wahrheit, die durch Gott selbst verbürgt wird, als modifizierbar, zeitbedingt und hinfällig zu betrachten. Daß dies ein Ehrgeiz von Theologie ist, scheint nur mehr im Kontext kompletter Begriffsverwirrung faßbar, welche ihrerseits Züge einer epidemisch um sich greifenden Umnachtung aufweist. Sich damit im einzelnen auseinanderzusetzen, dürfte ziemlich müßig sein, genauso wie ein Dialog mit jener Theologie, deren Kerndogma lautet, daß Gott tot sei. Sinnvolles zu Sinnlosem vorzubringen, ist ein hartes Geschäft; bedarf doch jede vernünftige Außerung zu einer Idee eines Funkens von Vernünftigkeit in dieser selbst, um sich auf ihn beziehen zu können.

Die zuletzt erinnerte, seltsame Mode des »geistigen Lebens« der Gegenwart erlaubt nur mehr den Schluß, daß hier mit dem Sinn für Wahrheit zugleich das elementare Verständnis des vernunftbegabten Geschöpfes für Gott im Begriffe steht zu entschwinden — an sich ein makabres Phänomen. Dennoch kommt uns aus ihm, so überraschend das klingen mag, eine sichere Hoffnung entgegen: die Gewißheit, daß jenen skurrilen Hypothesen keine Dauer beschert ist. Sie ermangeln der Kraft des Geistes und werden daher das Zeugnis der Geschichte, die das Echte besiegelt, nicht für sich haben. Sie werden vielmehr verblassen, zerrinnen und eines Augenblicks wie ausgelöscht sein, ihrer Nichtigkeit überführt, deren Spur man vergeblich verfolgt. Denn es ist nicht Art der Entwicklung, das Wahre zu verleugnen, sondern die Sterilität und Leere des Unwahren zu erweisen, das schließlich dem Vergessen anheimfällt.

Der Artikel erschien zuerst im FELS, August 1974.


Eduard Kamenicky: Tradition der Kirche - und was sie unaufgebbar erscheinen läßt


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