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Benedikts Analyse: Ein Stein des Anstoßes

Von P. Engelbert Recktenwald

Die von Papst Benedikt im April 2019 vorgelegte Analyse der Missbrauchsgründe hat heftige Empörung ausgelöst, allen voran bei katholischen Theologieprofessoren. Die Kommentare überschlagen sich mit verbalen Injurien gegen den Papst: eklig, krude, unverantwortlich, gefährlich seien seine Worte. Was ist passiert?

Benedikt hat die Instrumentalisierung der Missbrauchsverbrechen durch jene Theologen aufgedeckt, die schon seit Jahrzehnten eine neue Kirche mit einer neuen Lehre wollen. Sie wollten sie schon zu Zeiten, als von Missbrauch keine Rede war, sie wollen sie aus Gründen, die von ihm unabhängig sind. Doch seitdem 2010 in Deutschland die Missbrauchsverbrechen aufflogen, werden diese instrumentalisiert, indem die verhasste Morallehre und die hierarchische Struktur der Kirche für Missbrauch und Vertuschung verantwortlich gemacht werden. Ein Paradebeispiel für solche Instrumentalisierung liefert Klaus Mertes, der die eigentliche Wurzel des Übels in der kirchlichen Sexualmoral und in der Bindung “der geistlichen Macht an Männlichkeit” sieht. Da stellt sich natürlich die Frage: Und wo kommt der vielfache Missbrauch außerhalb der Kirche her, in Familien, Vereinen, in der evangelischen Kirche usw.? Ist da nicht vertuscht worden? Glauben Mertes und Co. im Ernst, der Missbrauch habe in der katholischen Kirche völlig andere Ursachen als anderswo? Er habe hier “katholische” Ursachen? Und deshalb müsse die Kirche einfach nur mainstreamförmig nach dem Vorbild der evangelischen Kirche reformiert werden, und schon wäre das Problem gelöst? Man merkt, auf wessen Seite die kruden Gedankengänge liegen.

Viele waren enttäuscht über die Rede von Papst Franziskus am Ende des römischen Missbrauchsgipfels, denn er begann sie mit einer Bestandsaufnahme des weltweit verbreiteten Phänomens sexueller Gewalt. Dieses bezeichnete er als ein “allgemeines und übergreifendes Problem, das man leider fast überall antrifft.” Ich kann verstehen, dass diese Ausführungen wie eine Relativierung der Verbrechen in den eigenen Reihen aufgefasst werden, war doch das Ziel dieses Gipfels nun mal ihre Aufarbeitung in der eigenen Institution. In solchem Kontext macht sich das Zeigen auf Andere niemals gut.

Etwas anderes dagegen ist es, wenn es um die Ursachenforschung geht. Da muss man das Gesamtphänomen in den Blick nehmen. Es gibt keinen katholischen Missbrauch, der ganz anderen Gesetzen folgen würde als der Missbrauch außerhalb der Kirche. Und genau das ist das Thema von Benedikt, und so hatte es auch schon Kardinal Lehmann in einem einschlägigen FAZ-Aufsatz vom 1. April 2010 praktiziert, ohne dass Goertz und Co. sich darüber empört hätten. Damals schrieb Lehmann, dass die Kirche zwar nicht mit dem Finger auf andere zeigen, sich aber auch nicht den Mund verbieten lassen dürfe und deutlich sagen müsse, dass es sich um einen gesellschaftlichen Missstand handele.

Aber geben wir zunächst zu, dass der Text Ratzingers seine Schwäche hat. Denn sexueller Missbrauch ist an keine ideologische Richtung gebunden, und es gab ihn auch schon vor 1968. Er kommt in konservativen wie auch in modernistischen Priesterkreisen vor. Die Verführbarkeit durch Sex und Macht ist eine menschliche Konstante, die vor keiner theologischen Richtung halt macht. Jeder monokausale Erklärungsversuch ist verfehlt. Es gibt viele Faktoren, die sexuellen Missbrauch begünstigen.

Aber zu diesen Faktoren gehört eben auch die sexuelle Revolution und die Kapitulation der deutschen Moraltheologie vor deren Forderungen. Kardinal Lehmann sprach in diesem Zusammenhang von der Sogwirkung der modernen Welt auf eine Kirche, die durch eine geschrumpfte Spiritualität geschwächt war. Der Psychiater Manfred Lütz hat den Zusammenhang der sexuellen Revolution mit der Verharmlosung der Pädophilie in einem FAZ-Artikel vom Februar 2010 faktenreich belegt: Der Sexualwissenschaftler Eberhard Schorsch wertete 1970 in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag einvernehmlichen Sex mit Kindern als harmlos, die linke Szene hätschelte, so Lütz, die Pädophilen, Jan Carl Raspe pries eine Kommune, in der Erwachsene Kinder gegen deren Widerstand zu Koitierversuchen brachten, die Grünen beantragten die Entkriminalisierung von Sex mit Kindern. Und die katholische Sexualmoral? Die wurde, so Lütz, als repressives Hemmnis für die „Emanzipation der kindlichen Sexualität“ bekämpft. Und manch fortschrittlicher Katholik wollte diesen Vorwurf nicht auf sich sitzen lassen.

Damals forderte man eine Lockerung der Sexualmoral, um Sex mit Minderjährigen zu ermöglichen, heute fordert man dasselbe, um Sex mit ihnen zu verhindern. Alles klar?

Die Kirche ist tatsächlich schuld, aber in einem anderen Sinn. Mit Kirche meine ich hier die kirchlichen Verantwortungsträger. Priester ließen sich von der sexuellen Revolution anstecken. Die bekannte Psychotherapeutin Christa Meves bestätigt aus eigener Praxiserfahrung diese Beobachtung des emeritierten Papstes. Moraltheologen bauten Hemmschwellen ab, indem sie lehrten, dass es keine in sich schlechten Handlungen gäbe. Schon im irischen Missbrauchsskandal hatte der irische Moraltheologe Vincent Twomey auf diesen Umstand aufmerksam gemacht. Warum geben die betroffenen Moraltheologen nicht zu, dass sie sich geirrt haben? Als Spaemann 1982 die Existenz von in sich schlechten Handlungen behauptete, bot die Herder-Korrespondenz gleich drei Moraltheologen auf, die ihm widersprachen. Diese Moraltheologie hielt für Triebtäter nolens volens Schlupflöcher für die Legitimierung ihres Tuns bereit - ganz auf der Höhe der Zeit in Übereinstimmung mit der geschilderten linken Sexideologie. Mertes selber gibt zu, dass es priesterliche Missbrauchstäter gibt, die ihr Tun nicht für Sünde halten. Mit der kirchlichen Morallehre wäre das niemals möglich.

Vor allem aber ist die Kirche schuld in vielen ihrer Bischöfen, die ihr Hirtenamt nicht genügend wahrnahmen. Tatsächlich besteht der himmelschreiende Skandal nicht nur im Missbrauch selber, sondern auch im unerträglichen Vertuschen und Gewährenlassen der Täter. Das Vertuschen, Wegschauen, Nicht-wahr-haben-Wollen ist eben der bequemere Weg. Diese Lethargie der Wächter beklagte Dietrich von Hildebrand schon 1973 und bezog es auf die Vernachlässigung ihrer Aufgabe, die Lehre nach den Vorgaben des II. Vaticanums (CD 13) zu zu schützen. Hinter dem Wegschauen in unserem Zusammenhang steht dieselbe Lethargie. Einer der Wenigen, die tatkräftig das Problem anpackten, war Ratzinger als Glaubenspräfekt und dann als Papst. Er gab die Null-Toleranz-Losung aus, handelte nach ihr und suspendierte, wie kürzlich selbst der SPIEGEL zugab, an die 800 Priester, die sich des sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht hatten. Die Bischöfe forderte er auf, mit den staatlichen Behörden in der Verfolgung von Missbrauchsfällen zusammenzuarbeiten. Trotzdem wurde er von pflichtvergessenen Bischöfen im Stich gelassen. Um noch härter gegen sie durchzugreifen, bedurfte es genau jener starken Zentralmacht, die von modernen Theologen bekämpft worden war. Jahrzehntelang hatten sie über den römischen Zentralismus geklagt und eine größere Selbständigkeit der Bischöfe gefordert, und nun drehten sie genau daraus Papst Benedikt einen Strick.

Hinzukommt, was Ratzinger in seinem Text den Garantismus nennt, der die Rechte von Angeklagten im Sinne des “in dubio pro reo” so weit stärkte, dass Verurteilungen kaum noch möglich waren. Auf diese Schwierigkeiten in Zusammenhang mit Missbrauchstätern hatte Kardinal Lehmann 2010 ebenfalls hingewiesen, ohne dass es einen Aufschrei gab. Aber auch dieser Garantismus hatte ständig auf der Wunschliste moderner Theologen gestanden. Zuerst klagen sie das Kirchenrecht als lieblos an, dann beklagen sie seine lasche Anwendung.

Papst Benedikt hat niemals das Versagen in der Kirche kleingeredet. Aber wenn er den Versuchen, die Kirche neu zu erfinden, eine radikale Absage erteilt, dann verfolgt er nicht die Interessen einer Institution - das tun eher jene, denen das Festhalten am Kirchensteuersystem wichtiger ist als das Festhalten am Glauben -, sondern verteidigt die Ehre Jesu Christi, der die Kirche gestiftet hat. Das können vom katholischen Glauben Abgefallene natürlich nicht verstehen. Die Kirche muss nicht eine andere werden, sondern wieder mehr sie selbst, nämlich eine solche, die ihrem Stifter verpflichtet bleibt und aus der DNA lebt, die er ihr mitgegeben hat, dem Evangelium. Das geht nur, wenn die Hirten von ihrer Autorität zum Heil der Menschen kraftvoll Gebrauch machen, damit dieses Evangelium weder in der Lehre noch in der Praxis verraten wird. Das kann durch keine Strukturreform erzwungen werden. Es geht nur durch die von Benedikt angemahnte Rückkehr zu Gott. Selbstverständlich gilt das auch für die Missbrauchstäter vor oder unabhängig von 1968. Auch sie haben das Evangelium verraten. Sie konnten ihre Opfer nur missbrauchen, weil sie die Lehre der Kirche über die Würde des Leibes und die Rechte ihrer Opfer mit Füßen getreten haben. Die Täter sind nicht unschuldige Opfer einer veralteten Kirchendoktrin, sondern Verräter an einer Lehre, die Heilige hervorgebracht hat. Auf der Täterverantwortung zu bestehen, nennt Mertes merkwürdigerweise Täterfixierung. Mit größerem Recht, so scheint mir, nennt Lütz die Schuldzuweisung an kirchliche Lehre und Strukturen eine “gefährliche Desinformation, die Täter schützt.” Auch die Vertuscher sind Täter. Sie sind nicht unschuldige Opfer sündhafter Strukturen, sondern haben Strukturen wie die Schweigekartelle überhaupt erst aufgebaut.

Moderne Bischöfe und Theologen suchen das Heil in einer Anpassung an die Lebenswirklichkeit von heute, Papst Benedikt in der Rückkehr zu Gott. Bischof Lehmann hatte damals den Papst noch verstanden und ihm zugestimmt: “Umkehr tut not.” Dass heutige Theologen es nicht mehr verstehen, ist ein alarmierendes Zeichen dafür, wie rasant der Niedergang der Theologie in Deutschland voranschreitet.


Weitere Stimmen zu Benedikts Analyse

Ein Podcast zur Kritik von Christof Breitsameter und Stephan Goertz am emeritierten Papst Benedikt


Absichtlich selektiv?

Allerdings ist die Darstellung selektiv – zuungunsten Benedikts XVI. So zitieren die Autoren zwar ausführlich aus dem „Hirtenbrief“, den der deutsche Papst 2010 wegen des Missbrauchsskandals an die irischen Katholiken schrieb. Unerwähnt lassen sie allerdings zwei Aussagen, die zur Hauptthese ihres Buches nicht ohne Weiteres passen wollen: Benedikt XVI. nennt ausdrücklich „eine unangebrachte Sorge um den Ruf der Kirche und die Vermeidung von Skandalen“ als einen Grund für das Versagen angesichts des Missbrauchsskandals. (...) So wird man den Eindruck nicht los, dass es den Autoren letztlich mehr um eine Demontage Ratzingers als um eine Analyse des Missbrauchsskandals geht.

Die FAZ (online am 17. August 2021) über das Buch Doris Reisinger/ Christoph Röhl: Nur die Wahrheit rettet. Der Missbrauch in der katholischen Kirche und das System Ratzinger.

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