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Mutterschaft und Heiligkeit

Gedanken zur Anna-Verehrung

Von P. Engelbert Recktenwald

Wie kam es dazu, dass das christliche Volk begann, Anna als Heilige zu verehren? Da über ihr Leben nichts bekannt ist außer der Tatsache, dass sie die Mutter Mariens war, muss es an dieser einzigen Tatsache liegen. Natürlich macht der Umstand der physischen Mutterschaft allein noch keinen Menschen heilig. Wenn wir aber den Grundsatz des Herrn “An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen” und “Ein schlechter Baum kann keine guten Früchte tragen” auf das Gebiet der Erziehung anwenden, dann müssen wir aus der Heiligkeit Mariens folgern, dass Anna eine gute Mutter war. Und das genügt zur Heiligkeit. Warum?

Ein guter Fußballspieler ist ein guter Fußballspieler, aber deshalb noch kein guter Mensch. Er kann gleichzeitig ein liederlicher Mensch sein. Ein guter Finanzmakler ist ein guter Finanzmakler, aber deshalb noch kein guter Mensch. Er kann gleichzeitig ein skrupelloser Betrüger sein. Ein guter Musiker ist ein guter Musiker, aber deshalb noch kein guter Mensch. Er kann gleichzeitig ein stolzer Egoist sein. Eine gute Mutter aber ist eben dadurch, dass sie eine gute Mutter ist, auch ein guter Mensch. Und das liegt daran, dass zur guten Mutterschaft die Liebe gehört. Sportlichkeit, Intelligenz und musikalisches Talent sind zwar nützliche Eigenschaften, machen aber noch nicht einen wertvollen Charakter aus. Die Liebe dagegen ist ein moralischer Wert. Sie ist das Kennzeichen einer moralisch hochstehenden Persönlichkeit. Und ist die Liebe vollkommen, haben wir es mit einem Heiligen zu tun.

Dabei ist die Mutterliebe jene Form der Liebe, die am besten gegen ihre Verzerrungen gefeit ist. Sie ist als selbstlose Liebe das Gegenteil der fleischlichen, auf sich selbst zentrierten Begierde, die allzuoft ironischerweise mit demselben Wort “Liebe” bezeichnet wird. Eine Legende erzählt von einer Mutter, die von ihrem Sohn ermordet wurde, weil sich dieser dem Teufel verschrieben hatte. Er sollte ihm das Herz der Mutter bringen als Bedingung, vom Teufel Glück und Reichtum zu empfangen. Tatsächlich erschlug der Sohn seine Mutter und schnitt das Herz aus der Brust, um es dem Teufel zu überbingen. Beim Laufen stürzte er. Da vernahm er aus dem Herzen die Stimme seiner Mutter: “Hast du dir weh getan, mein Kind?”

Hier sehen wir, was alles in der Liebe steckt: Vergebung, Mitleid, Feinfühligkeit, Selbstlosigkeit. Es ist genau jene Liebe, die Gott auch zu uns trägt und die ihn bewogen hat, für uns in den Tod zu gehen.

Dass die Liebe Gottes zu uns die eines Vaters ist und gleichzeitig eine solche, die auch die erwähnten mütterlichen Züge trägt, genügt zwar für manche Feministinnen, Gott zur Mutter umzudichten. Aber das wars dann schon. Dafür war die Mutterliebe gerade noch gut genug. Ansonsten steht die Mutterschaft in unserer Gesellschaft nicht hoch im Kurs, am wenigsten bei den Feministinnen. Sich aufopfernde Liebe gilt als verpöntes Klischee, als Stigma der unemanzipierten Frau. Der sensus fidei des gläubigen Volkes dagegen hat von jeher in ihr das untrüglichste Kennzeichen der Heiligkeit erkannt. Das Bild vollendeter Mutterschaft polarisiert. Es polarisiert ähnlich, wie Christus einst polarisiert hat.

Anna als vollendete Mutter, wie sie uns in manchen Gemälden entgegentritt, die kindliche Maria erziehend und bildend in wahrer Frömmigkeit: das genügt zur Heiligkeit. Das genügt in gesunden Zeiten, um den Annakult zu begründen, und in dekadenten Zeiten, den Zorn der Feministen zu provozieren.


Wenn der Schwerpunkt der Welt sich verändert…

Ich denke oft an das unvergleichliche Gefühl zurück, als ich meinen ersten Sohn zum ersten Mal im Arm halten durfte. Nach einer alles andere als perfekten und einfachen Geburt trat in diesem Moment all die Anstrengung und alles Äußere in den Hintergrund. Es schien, als würde sich in diesem Moment der Schwerpunkt der Welt verändern. Auf einmal war nicht mehr ich selbst der Mittelpunkt meiner kleinen Welt – sondern mein Kind nahm diesen Platz ein. Einfach so.
Es ist genau diese Erfahrung, die eine Frau nicht zum Verlierer und zum Opfer macht, wie wir es so oft hören. Nein, es macht sie zum Sieger: über sich selbst, über die eigene Engstirnigkeit und das Gefühl, der Nabel der Welt zu sein.
Denn es ist eine paradoxe Wahrheit des menschlichen Lebens, dass wir nicht dann Glück und Erfüllung finden, wenn wir unserem eigenen Glück nachjagen – sondern wenn wir uns selbst vergessen und das Glück des anderen ins Zentrum stellen.

Aus: Maria Nagele, Solange noch ein einziges Mutterherz schlägt, auf Corrigenda am 12. Mai 2024


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