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Das Evangelium im Widerstreit der Theologen

Von Erwin Hesse

Zweiter Teil [Zum ersten Teil]

10. Kapitel: Rudolf Bultmann – das Erdbeben

Im Schatten der überragenden Wirkung Karl Barths blieb ein anderes theologisches Werk, das nach dem Ersten Weltkrieg erschienen war, fast unbeachtet. Sein Verfasser hieß Rudolf Bultmann. Er kam aus der Schule des in Marburg / Lahn wirkenden Neutestamentlers Johannes Weiß, dessen Schwiegervater, wie wir schon erfuhren, niemand Geringerer als Ritschl war. Auf dem Umweg über eine a. o. Professur in Breslau wurde er von 1920 an der Nachfolger seines Lehrers. Der Titel des erwähnten Buches Geschichte der synoptischen Tradition (Göttingen 19799) kam dem ersten Anschein nach der katholischen Auffassung entgegen, daß die schriftliche Fixierung der Evangelien erst nach einer gewissen Zeit der Tradition, will sagen mündlicher Überlieferung, erfolgt ist. Offenkundig wollte Bultmann in diesen Sachverhalt hineinleuchten. Wodurch fühlte er sich dazu imstande? Zu welchen Ergebnissen gelangte er dabei?

Der 1884 im Oldenburgischen Geborene begann sein Studium wenige Jahre nach 1900. Durch Professor Weiß erfuhr er unmittelbar von dessen aufregend neuer eschatologisch-endzeitlichen Deutung Jesu. Zugleich gewann er durch ihn als einen Mitarbeiter Eichhorns Zugang zur religionsgeschichtlichen Schule. Überdies wandte er bald sein Interesse einer weiteren jungen Methode der Bibelwissenschaft zu, der Formgeschichte. Diese geht auf den ersten Gefährten Eichhorns, auf Hermann Gunkel zurück. Sein Fach wurde das Alte Testament. Nun gibt es darin Texte, über deren Entstehungszeit keine sicheren Angaben zu finden sind. Gunkel erhoffte sich die Möglichkeit zu Lösungen durch die sorgfältige Überprüfung aller Umstände, die sich irgendwie in den fraglichen Stellen kundgaben, kurz gesagt dessen, was er später als “Sitz im Leben” bezeichnete.

Bultmann nützte dann den während des Krieges erlahmten Lehrbetrieb, um sich mit Hilfe der genannten Arbeitsweisen, also durch Beachtung der eschatologischen, religions- und formgeschichtlichen Aspekte, den Synoptikern, mithin den Evangelien von Matthäus, Markus und Lukas zuzuwenden. Das Ergebnis seiner Arbeit legte er 1921 der Öffentlichkeit vor. Es fand zunächst, wie gesagt, keine große Beachtung. Gewiß ist nur, daß sich engste Fachleute, darin die Zuständigen aus dem päpstlichen Bibelinstitut in Rom, damit beschäftigen mußten. Bis zu einer zweiten Auflage vergingen lange zehn, zur dritten gar weitere 26 Jahre. Doch dann schlug die große Stunde. Bereits im Jahr danach, 1958, erschien die vierte, hierauf jagten sich bis 1970 alle drei Jahre Neuauflagen! Es fällt auf, wie sehr das in der Zeit um das II. Vatikanische Konzil geschah. Schon darum kann kein Zweifel bestehen, daß zu den eifrigsten Lesern dieses Buches katholische Theologen zählten. Dafür sprechen auch die Folgen dieser Lektüre, die sich schon während des Konzils und erst recht nachher zeigten. (...)

Die Auswirkung Bultmanns haben zunächst Protestanten mit Recht als weltanschauliches “Erdbeben” bezeichnet. So vieles kam durch seine Ausführungen in fast allen Konfessionen, die römische Kirche leider nicht ausgenommen, ins Wanken, ja in zahllosen Fällen zum völligen Einsturz, schien er doch der gesamten Theologie jedes sichere Fundament zu nehmen.

Das geschah folgendermaßen: Mit Hilfe der trotz treffender Kritik Schweitzers und Wernles Zweifeln zäh angewandten Methode der religionsgeschichtlichen Schule führte Bultmann ein gutes Drittel der synoptischen Evangelien, darunter die Berichte über viele Wunder, über das letzte Abendmahl und fast alles, was irgendwie auf eine Übermenschlichkeit Jesu hinweist, auf die Übernahme hellenistisch-heidnischer Auffassungen zurück. Durch diesen Nachweis galt ihm dies alles als Produkt – wie er später noch klarer betonen wird – mythologischer Phantasie, das deshalb als ungeschichtlich, als nie wirklich geschehen anzusehen sei.

Nicht besser erging es einem zweiten Drittel in den Evangelien. Dank der Formgeschichte meinte Bultmann aufzeigen zu können, daß ein Großteil der Aussprüche, die Jesus in den Mund gelegt werden, gar nicht von ihm stammen könne. Zu deutlich sei dies nur das Ergebnis von Zwängen der Situation, in welcher sich jene ersten Anhänger befanden, die sich vornehmlich in Jerusalem im Namen eines gewissen Jesus sammelten. Daß mit einem solchen Geschehen Gesetzmäßigkeiten zum Zug kommen, zeigte die damals noch verhältnismäßig junge Wissenschaft der Soziologie. Auf deren Bedeutung weist ja auch in der Vorrede zu seinem Werk Bultmann eigens hin. Im Falle der jungen Christenheit verhalte sich das im Grunde genommen sehr einfach: Jede Vereinigung von Menschen braucht, um leben und überleben zu können, etwas wie einen Obmann, einen Vorstand, Klarheit über Sinn und Zweck dieses Unternehmens sowie schließlich eine Handvoll von Disziplinarvorschriften. Genau dem entsprechend berichten auch die Evangelien, wie ein gewisser Simon unter dem Namen Petrus (Kephas) zum Oberhaupt erhoben wird, dem elf weitere Männer, Apostel genannt, beigegeben sind. Dramatisch gestaltete Streitgespräche mit andersgesinnten Juden erläutern die Berechtigung eines Sonderweges in Jerusalem. Es fehlt weiter nicht an Regeln, die der Ordnung dienen. Dies alles wird dem geheimnisvollen Jesus in den Mund gelegt, um so ihm dafür das dringend benötigte Ansehen und Gewicht zu verleihen. Selbstverständlich muß auch der für die Berufung auf Jesus belastende Prozeß und die ihm folgende Kreuzigung in möglichst helles Licht gestellt werden. Bultmann schließt aus solchen Überlegungen: Weil sich das Erwähnte ausnahmslos als soziologisch-gesellschaftlich begründet und notwendig erweist, fehlt ihm jeglicher historische Wert. Es hat sich, wie das den heidnischen Hörern zuliebe Berichtete, nie ereignet.

Nach dieser kritischen Sichtung bleibt lediglich ein karger Rest, der weder aus dem Heidentum noch aus den Notwendigkeiten einer werdenden Gemeinschaft abzuleiten ist. Bei diesem kommt, wie Bultmann erkennt, tatsächlich die durch Weiß und Schweitzer gewonnene eschatologische Schau zu ihrem Recht. Doch ist nach dem gleichen Bultmann dieser Teil dem Umfang nach geringer, als die beiden anderen Gelehrten annahmen. Zugleich meint er feststellen zu müssen, daß wir daraus nichts über Jesus erfahren können. Denn das letzte Drittel der Synoptiker zielt wegen seines eschatologischen Charakters ganz auf Zukunft, darum schwieg es über alles, was einmal Gegenwart war. Somit können wir hier nichts auch nur einigermaßen Sicheres über den Urheber der neutestamentlichen eschatologischen Gedankenwelt erheben.

Im Hinblick auf das faktisch zur Gänze negative Ergebnis seiner Erforschung der Synoptiker erklärt deshalb ganz offen der Marburger Bibelgelehrte wortwörtlich: “Natürlich hat man erst recht keine Sicherheit, daß die Worte dieser ältesten Schicht wirklich von Jesus gesprochen sind.”

Dieser Satz stammt aus einem kleinen Buch, das Bultmann 1926 auf Wunsch eines Verlegers in einer Reihe von Biographien großer Menschen über Jesus zu veröffentlichen hatte. Darin schreibt er auch: “Denn freilich bin ich der Meinung, daß wir vom Leben und von der Persönlichkeit Jesu so gut wie nichts mehr wissen können.”

Der das schrieb, sah genau, was das für viele Christen bedeuten mußte. Deshalb gesteht er: “Für denjenigen, dessen Interesse die Persönlichkeit Jesu ist, ist diese Sachlage bedrückend oder vernichtend.”

Kann das christliche Erbe im Protestantismus tiefer sinken, als es hier durch die entsetzliche Feststellung “vernichtend” ausgesagt wird? Das gleiche gilt, wenn wir feststellen müssen: Der von den Büchern des Neuen Bundes geforderte lebendige, allein heilbringende Glaube an Jesus, gegen dessen vermeintliche Verdrängung in der katholischen Kirche durch Heiligenverehrung, Hochschätzung der Bedeutung der Sakramente, aber auch verdienstlicher Werke, die Anhänger der Reformation stürmisch zu Felde zogen, ist jetzt bei Bultmann zu einem bloßen “Interesse” an der “Persönlichkeit” Jesu degeneriert!

Aber gerade das starre Festhalten an den negativen Ergebnissen des Erstlingswerkes trug stark dazu bei, daß sich Bultmann trotz alles anfänglichen Zögerns immer erfolgreicher durchsetzen konnte, wiederholte und bekräftigte er sie doch durch zahlreiche weitere Schriften, namentlich 1941 durch einen großen Kommentar zum Johannesevangelium (Das Evangelium des Johannes, Göttingen: Auflagen: 1941, 1950, 1952, 1953, 1956, 1957, 1962, 1964 usf.), das er gleichfalls für gänzlich belanglos in historischer Hinsicht und weitgehend von vorchristlicher heidnischer Gnosis und Mythologie beeinflußt ansah. 1953 brachte er als Krönung seines Forschens eine “Theologie des Neuen Testamentes” heraus, in welcher er das gesamte Schrifttum des Neuen Bundes in seinem Sinn kritisch durchforstete. Besonderes Aufsehen erregte er durch Vorträge, die er in den Vereinigten Staaten gehalten hatte und 1958 auf deutsch in dem bereits erwähnten kleineren Werk “Jesus Christus und die Mythologie” herausbrachte (Hamburg 1964). Sein Ruf nach der aufgrund seiner Erkenntnisse dringend nötigen “Entmythologisierung” wurde bald zu einem vielbeachteten und bis in neue Lehrbücher für den Religionsunterricht (auch den katholischen!) eilfertig praktizierten Schlagwort.

Um jedoch den Bekanntheitsgrad und das Ansehen zu erreichen, die solches ermöglichten, mußte zuvor noch einiges geschehen sein. Zunächst hatte Bultmann insofern Glück, als, wie wir schon sahen, Barths Ansehen, in dessen Schatten er lange stand, immer mehr sank. Anderseits hatte er sich nicht gescheut, von Barth zu lernen. Dessen Römerbrief hatte ihn sehr beeindruckt. Darum widmete er ihm eine ausführliche und erstaunlich positive Besprechung. Diese wirkte sich bei Bultmann folgenschwer aus. Denn als er sein Buch über die Synoptiker herausbrachte, war er noch durch und durch ein Liberaler, der wie selbstverständlich praktizierte, was Albert Schweitzer 1950 so formulierte: “Zum Wesen des Protestantismus gehört ... unerschrockenes Wahrhaftigkeitsbedürfnis” (Leben-Jesu-Forschung, Bd. I, 42). Das war Aufforderung zu einem hemmungslosen wissenschaftlichen Arbeiten, gleichgültig, was dabei herauskam. Doch Bultmann war zuvor schon durch Barth die theologische Verantwortung gegenüber dem Gotteswort aufgegangen. Auch hatte er wie dieser inzwischen Kierkegaard und Kähler studiert. Dazu fügte es sich, daß er in einer Periode des Reifens Martin Heidegger kennenlernte, der, von Haus aus Katholik, sich nach dem Versuch, Priester im Jesuitenorden zu werden, der Philosophie zugewandt hatte. Nachdem er ihr Studium mit Hilfe der Görresgesellschaft beendet hatte, zog es ihn nach Freiburg, um den angesehenen Edmund Husserl zu hören. Dieser hatte lange als Gegner Kants in der Nachfolge von Bolzano, Brentano und Meinong die Fähigkeit des Menschen zur Erkenntnis der Außenwelt gelehrt. Das wirkte so neu, daß Schüler wie Dietrich von Hildebrand und Edith Stein in die katholische Kirche und zur Philosophie des hl. Thomas heimkehrten. Doch dann kam die Wende bei Husserl. An sich selbst irre geworden, wandte er sich wieder Kant zu. In dieser Periode begegnete ihm Heidegger. Nicht zuletzt davon betroffen, gab dieser seinen ererbten Glauben preis und versuchte nunmehr eine Komposition aus Ideen seines Meisters Husserl mit solchen von Kant, doch auch von Kierkegaard und sogar noch unvergessener ignatianischer Exerzitien. Bald sollte Bultmann mit ihm tiefe Freundschaft verbinden. Er sorgte für dessen Berufung an seine Universität in Marburg. Dort kam es so weit, daß beide gemeinsame Seminare abhielten. In Heidegger fand Bultmann die Hilfe, Barth geistig zu begegnen und den eigenen für viele erschreckenden bibelwissenschaftlichen Verneinungen einen positiven, ja fromm erscheinenden Sinn abzugewinnen.

Um dieses auch auf unsere Theologie einflußreich wirkende Geschehen einigermaßen begreifen zu können, bedarf es einiger Informationen über den Denkweg Heideggers.

Das Folgende ist nur ein Versuch, dessen Schwierigkeit mir voll bewußt ist. Vielleicht trifft es am ehesten das Richtige, wenn wir erklären: Wie Karl Barth jedwede Ähnlichkeit zwischen Gott und seiner Schöpfung leugnet, zeigt sich auch zunächst nach Heidegger zwischen dem Menschen dort, wo er im eigentlichen Sinn Mensch ist, und seiner Umwelt keine Gemeinsamkeit. Denn das gehöre zur unvergleichlichen Eigenart des Menschen, daß er immer nur dann wirklich “da-ist” oder, wie Heidegger auch statt dessen sagt, “existiert”(Martin Heidegger, Sein und Zeit, Halle a.d.S. 19292, 11 ff), wenn etwas geschieht und zwar als urpersönliche Äußerung jeweils seines “Ich”, seines “Selbst”. “Je-meinigkeit” und “Je-weiligkeit” sind daher die charakteristischen Kennzeichen der so nur dem Menschen gegebenen “Existenz”, seines “Da-seins” und all dessen, was darauf bezogen ist. Das gilt, um ein wichtiges Beispiel zu bieten, nach Heidegger besonders für jede Wahrheit. Daher sein Satz: “Das Sein der Wahrheit steht in ursprünglichem Zusammenhang mit dem Dasein” (S. 230). Anders gesagt: “Wahrheit gibt es nur, sofern und solange Dasein ist” (S. 226) Daraus folgert Heidegger: Wenn jemand meint, daß es Wahrheit immer gäbe, daß sie immer bleibe, dann betrachte er sie wie ein untermenschliches Ding, das als toter Gegenstand fortzudauern vermag. Deshalb sein harter Schluß: “Die Behauptung ewiger Wahrheiten” gehöre “zu den längst noch nicht radikal ausgetriebenen Resten von christlicher Theologie innerhalb der philosophischen Problematik”! (S. 229 f).

Da der Mensch wegen seiner “Jeweiligkeit” in steter Bewegung und Veränderlichkeit existiert, zu welcher schließlich auch jene radikale Veränderlichkeit gehört, die Heidegger als “Dasein zum Tode” (S. 235-276) bezeichnet, muß das Gleiche auch von der Wahrheit ausgesagt werden. Damit ist einem radikalen weltanschaulichen Progressismus und Relativismus das Wort geredet, für den es weder für alle Zeiten oder alle Menschen geltende kirchliche Dogmen noch für immer gültige göttliche Offenbarungen geben kann. Jesu Wort: “Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen” (Mt 24, 35) ist in dieser Philosophie zuschanden geworden. Gleich ergeht es in diesem Denken dem für unsere Theologie so wichtigen Begriff “Substanz”. Daß es etwas wie ein Eigenschaften und Tätigkeiten tragendes, fundierendes und darum in sich selbst ruhendes Sein gibt, wird geleugnet (S. 76 ff. und 81-88). Auch außerhalb des Menschen ist alles in Fluß. Als zusammenhaltend und miteinander verbindend zeigen sich nur Beziehungen. In diesen allein besteht in Wirklichkeit, was ein für überholt angesehenes Denken als “Substanz” bezeichnet hat. Auf diese Weise ist der Glaube an einen in der Hostie gegenwärtigen Christus unmöglich geworden. Auch kann nach dieser Philosophie nicht länger eine in ihm stets anwesende Gottheit bejaht werden. Nach Heidegger zeigt sich auch nirgends Ewigkeit, weder Gottes, noch von Engeln und Heiligen, von Himmel oder Hölle, als zugleich immerwährendes und stets gegenwärtiges Sein. “Sein und Zeit”, wie der Titel des fundamentalen Hauptwerkes Heideggers lautet, gehören derart zusammen, daß sich kein Sein außerhalb der bewegten Zeit findet. Die Zeit hat alles in ihre eigene Unruhe verschlungen. Beim Menschen begründet das dessen “Geschichtlichkeit” (S. 372-397), aus welcher folgt, daß alles nur einmal geschieht und darum nie in gleicher Art wiederkehrt.

Die Folgen dieser Philosophie haben sich verheerend bei zahllosen katholischen Priestern und Theologen ausgewirkt. Ihr besonderes Opfer wurde die früher blühende Kirche Hollands (M. Schmaus, L. Scheffczyk, J. Giers, Exempel Holland, Berlin 1972, 40).

Doch ausgerechnet mit Hilfe Heideggers versuchte Bultmann seiner Destruktion des biblischen Fundamentes für das Christentum einen positiven Sinn abzugewinnen.Dies sah so aus:

Bultmann behauptete: Weil viele Aussagen des Neuen Testamentes, zumal über die Gottheit Jesu und des Heiligen Geistes, aber auch über Christi Auferstehung, über Erlösung, Gnade, Wesen und Wirken der Sakramente (also im Wesentlichen alles, was im Credo bekannt wird) Mythologisierung infolge heidnischer Vorstellungen seien, müßten sie “ent-mythologisiert” werden! Dank der Philosophie Heideggers tröstete jedoch Bultmann: Entmythologisierung bestehe glücklicherweise nicht in bloßer Absage und glatter Verneinung. Sie geschehe nur durch eine neue, zeitgemäße und also bessere Deutung. Durch rechte Erklärung, lateinisch gesprochen durch Interpretation, griechisch ausgedrückt durch Anwendung einer sinnvollen Hermeneutik (Jesus Christus und die Mythologie, 50).

Diese angeblich so dringend nötige und gut mögliche Neudeutung besteht nun leider darin, daß die Aussagen des Credo wie seiner Quellen nicht mehr auf Gott, auf sein Wesen und Wirken als Vater, Sohn und Heiliger Geist, sondern ausschließlich auf den Menschen bezogen werden. Sie sollen ihm in seiner “Existenz”, im Finden seiner Persönlichkeit zu Hilfe kommen, um aus der Geworfenheit in das Dunkel und Rätselhafte des Seins und damit aus der Gefahr des Absinkens in das “Gerede” und Getue eines Massenmenschentums des bloßen man, dennoch “Eigentlichkeit” und das echte “Selbst” zu gewinnen. Anders gesprochen: Was in Glaubensbekenntnis und Bibel, so lange es bloß geschrieben und gesprochen ist, rein theoretisch – Heidegger und Bultmann nennen das “existential” – auf die “Existenz” des Menschen hingeordnet ist, soll praktisch – wieder in der Sprache der beiden Genannten – “existentiell” vollzogen und verwirklicht werden. (Das Vermögen, “existential” und “existentiell” unterscheiden zu können, galt oft als Kennzeichen derer, die begriffen hatten, worum es Heidegger und Bultmann letztlich ging.)

In diesem Sinn des existentialen Aufrufens und Hinführen zu einem wahrhaft existentiellen Dasein, in dem sich der Mensch selbst ernst- und annimmt, wurden auch biblische Kernworte wie glauben, hoffen, lieben, Jesus nachfolgen verstanden.

Es ist wohl leicht begreiflich, daß nach einer gewissen Zeit der Faszination diese Ansichten keinen besonderen Beifall mehr finden konnten. Vielen blieben sie letztlich unverstanden. Auch klangen sie den meisten zu abstrakt und individualistisch. Sie verwiesen den Menschen nur auf sich selbst, damit in seine Einsamkeit und Armseligkeit. Auch gingen sie an den Nöten der Zeit zu achtlos vorbei, die sich nach der Begeisterung über den Wiederaufbau der ersten Friedensjahre bitter meldeten. Andere wieder verlangten ob der dank einer gewissen Wohlfahrt ermöglichten Lebensfreude nach massiverer Befriedigung, als sie eine dürr erscheinende Existenzphilosophie und -theologie zu bieten hatten.

So hinterließ schließlich Bultmann durch das Zusammenschlagen von so vielem, das bisher bei Katholiken oder Protestanten als fraglos gültig galt, einen riesigen geistigen Hohlraum. Ein solcher verlangt nach dem auch in diesem Bereich wirksamen Gesetz des horror vacui (des Grauens vor der Leere) gebieterisch und schleunigst nach einem rettenden Ersatz. Ihn boten, wie gerufen, nach 1960 die “Neomarxisten” oder – wegen ihres Ausgangsortes – “Frankfurter Schule” genannten Soziologen Max Horkheimer, Theodor W. (Wiesengrün) Adorno, Herbert Marcuse und Jürgen Habermas (dazu sehr gut: Hugo Staudinger, Die Frankfurter Schule, Würzburg 1982).Sie fanden sofort auch bei Theologen beider Konfessionen einen bereiten Boden. Ihre Lehre: Der Bestand zweier Klassen, von denen die eine die andere unterdrückt, reiche gefährlich weiter, als die frühere Arbeiterschaft angenommen hatte. Überall, in Technik, Wirtschaft, Konsum, Familie, Ehe, Schule, Gerichtswesen, Militär, bis hinab zum Kindergarten witterten sie Unterdrükkung und Vergewaltigung. Das galt auch von herrschender Moral und zahlreichen christlichen Anschauungen. Jeder Sinn für Autorität und Ordnung kam in den Verdacht, “Repression” (Unterdrückung) zu sein. Auch in der bisher so disziplinierten katholischen Kirche fanden derartige Lehren Anklang. Kein Wunder, weil auch hier die Ergebnisse, wie sie aufgrund der Formgeschichte durch Bultmann geboten wurden, immer noch nachwirkten: Petrus- und Apostelamt (also Papsttum und Bischofswürde) seien nicht von Jesus gestiftet, sondern durch den Selbsterhaltungstrieb der ersten Christen verursachte Erfindungen. In gleicher Weise waren auch alle Weisungen der Evangelien zu priesterlichen Amtshandlungen (Wiederholung des letzten Abendmahles, Vollmacht der Sündenvergebung, Erhebung der Apostel zu bevollmächtigten Gesandten Jesu) für unecht erklärt worden. Wenn wir uns das bislang Gesagte vergegenwärtigen, begreifen wir Ernst und Ausmaß der Gehorsamskrise selbst und gerade in der Kirche Roms! In diesen Verunsicherungen liegt der Hauptgrund, daß nach dem Konzil um die 100.000 Priester ihr Amt aufgaben und über 50.000 Nonnen ihre Klöster und Arbeitsplätze verließen, aber auch der Nachwuchs in erschreckender Weise zurückgegangen ist.

So viel über Bultmann und die weitreichenden Auswirkungen seiner Ansichten. Wie aber stand es mit der wissenschaftlichen Anerkennung dafür? Konnte diese aufrecht erhalten bleiben oder meldete sich auch in seinem Fall, wie wir es seit Semler gewohnt sind, bald der Widerspruch?

11. Kapitel: Was blieb von Bultmann? Nichts!

Bultmann erging es nicht besser als vormals Baur, von dem sein Lieblingsschüler Ritschl abfiel, und diesem selbst, gegen welchen sich der eigene Schwiegersohn Weiß erhob. Abermals war es ein besonders Bevorzugter und Begabter aus der Schar der Hörer, nämlich Ernst Käsemann, der ernstzunehmende Kritik gegen den Meister anmeldete. Als Bultmann wieder einmal, einem guten Brauch folgend, seine Getreuen um sich versammelte, hielt jener, damals bereits o. Professor für Neues Testament in Tübingen, einen ausführlichen Vortrag über das schon dem Titel nach brisante Thema “Das Problem des historischen Jesus”. Das geschah am 23. Oktober 1953.[22] Gegen die Leugnung jedweden sicheren Wissens über Jesus durch Bultmann sprach er damals u. a. die beachtenswerten Worte: “Einig ist sich wohl die gesamte Exegese (Schrifterklärung) darin, daß an der Authentie (Echtheit) der ersten, zweiten und vierten Antithese der Bergpredigt nicht gezweifelt werden kann.” (S. 285 f) Der Ausdruck “Antithese” besagt, daß es sich in den erwähnten Sätzen um Widerspruch handelt, der gegen herrschende Anschauungen geäußert wird. Auch Bultmann gibt in seinem grundlegenden Werk über die synoptische Tradition zu, daß die genannten Beispiele zu den nach seiner Ansicht “wenigen Fällen” zählen, bei denen man irgendwie die “Zuversicht ... aufbringen” kann, sie “Jesus zuzuschreiben”! Denn, “wenn irgendwo, so muß hier das Charakteristische der Verkündigung Jesu zu finden sein” (Geschichte der synoptischen Tradition, 110).

Ehe wir Käsemann weiter sprechen lassen, wollen wir uns die fraglichen Texte vor Augen führen: “Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten. Wer aber tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder zürnt, soll dem Gericht verfallen sein ... Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht ehebrechen! Ich aber sage euch: Jeder, der ein Weib lüstern anblickt, hat schon in seinem Herzen mit ihr Ehebruch getrieben... Wieder habt ihr gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht falsch schwören! Du sollst halten, was du dem Herrn geschworen hast! Ich aber sage euch: Ihr sollt überhaupt nicht schwören...” (Aus Mt 5, 21-34 a).

Nunmehr beachten wir, was Käsemann fortfahrend dazu erklärt: “Tatsächlich gehören diese Worte zum Erstaunlichsten in den Evangelien überhaupt... Entscheidend ist jedoch, daß mit dem Ich aber sage eine Autorität beansprucht wird, welche neben und gegen diejenige des Moses tritt. Wer aber Autorität neben und gegen Moses beansprucht, hat sich faktisch über Moses gestellt und aufgehört, ein Rabbi zu sein, dem ja immer nur von Moses abgeleitete Autorität zukommt. Daß sich Rabbinen gegeneinander mit solchem Ich aber sage abgrenzen, ist nur eine formale Parallele, weil hier eben nicht ein anderer Rabbi, sondern die Schrift und Moses selber das Gegenüber bilden. Dazu gibt es keine Parallelen auf jüdischem Boden und kann es nicht geben. Denn der Jude, der tut, was hier geschieht, hat sich aus dem Verband des Judentums gelöst oder... ist der Messias. Denn auch der Prophet steht nicht neben, sondern unter Moses. Die Unerhörtheit des Wortes bezeugt seine Echtheit... Die einzige Kategorie, die seinem Anspruch gerecht wird, ist... die des Messias.”

Wegen ihrer hohen, unerbittlichen Strenge können die Sätze weder religionsgeschichtlich vom Heidentum abgeleitet, noch formgeschichtlich für Produkte der Urgemeinde gehalten werden. Sie spiegeln eindeutig den Ernst des erwarteten Gerichtes wider. Deshalb gehören sie zum eschatologisch-endzeitlichen Drittel der Evangelien. Doch gerade angesichts ihrer kann Käsemann mit Recht zeigen, wie sehr Bultmann im Unrecht ist, wenn er behauptet, diese Schicht sei so sehr auf Zukunft bedacht, daß sie uns nichts über die Gegenwart Jesu berichten könne. Das Gegenteil ist der Fall: In messianischer Hoheit tritt er uns hier entgegen.

Eben durch das wiederholte “Ich aber sage euch...” meldet sich Jesus eindrucksvoll als der in einer ganz bestimmten Zeit Anwesende. Zugleich damit gewährt er uns auch einen tiefen Einblick in seine von Bultmann als unerkennbar bezeichnete “Persönlichkeit”, nämlich in nichts geringeres als seinen Anspruch, der Messias, Christus zu sein!

Die angeführten Stellen widerlegen also Bultmann. Sie demonstrieren jedoch zugleich, wie unrecht viele Prediger handeln, die sogar in der Öffentlichkeit von Rundfunk und Fernsehen immer nur von “Jesus” sprechen, ohne ihn jemals als Christus zu bekennen. Als echte Jünger müßten sie anders reden.

Aber auch Käsemann erfaßte nicht den tiefsten Sinn der von ihm benützten Aussprüche. Durch sie stellt sich ja Jesus Christus nicht nur “neben und gegen Moses”, sondern – wenn es richtig verstanden wird – neben und gegen Gott! D. h.: Jesus überbietet nicht nur Gesetze des Moses, sondern einige der 10 Gebote Gottes. Dieser Vorgang bekundet, daß er als wahrer Gottessohn vollenden darf und kann, was sein himmlischer Vater auf dem Sinai grundgelegt hat.

12. Kapitel: Joachim Jeremias – der Entdecker

Leider vermochte Käsemanns Vortrag nicht, Bultmann umzustimmen. Zu sehr war dieser bereits in seinen Ideen festgefahren. Dafür wurde ein anderer ermutigt, den Weg der eigenen Forschung fortzusetzen. Das war der seit 1935 in Göttingen wirkende, 1977 verstorbene Neutestamentler Joachim Jeremias. Wie selten einer beherrschte er neben dem Bibelgriechisch auch Jesu Heimatsprache. Außerdem war er umfassend nicht nur mit der hl. Schrift vertraut, sondern ebenso mit dem außerbiblischen jüdischen Schrifttum des Jahrhunderts Christi. Dadurch konnte er bestens einer zaghaft ausgesprochenen, im Kern richtigen Annahme Käsemanns in der oben angeführten Rede entsprechen, die also lautet: “... einigermaßen sicheren Boden haben wir... unter den Füßen, wenn nämlich Tradition aus irgendwelchen Gründen weder aus dem Judentum abgeleitet, noch dem Urchristentum zugeschrieben werden kann...” (Käsemann, 285)

Das besagt: Wenn in den Evangelien etwas so einmalig und einzigartig ist, daß sich in der gesamten Um- und Nachwelt nichts dergleichen findet, kann es nur von Jesus stammen, weil er allein wegen seiner Begabung und des messianischen Bewußtseins die Voraussetzungen dafür mitbringt.

Zur Verdeutlichung dafür, wie erfolgreich sich die Forschungen des Joachim Jeremias (ganz im Sinne Ernst Käsemanns) erwiesen, mögen die folgenden Beispiele dienen (vgl. Neutestamentliche Theologie, Gütersloh 1971):

Nach Überprüfung des gesamten sprachlichen Materials ergibt sich, daß Jesus allein es jemals wagte, das “Amen” (oft sogar mit Nachdruck verdoppelt!) nicht erst am Ende, wie sonst Juden und Christen, sondern bereits am Beginn seiner Worte zu sprechen. Jeremias erklärt dazu mit Recht, in der dadurch bekundeten Selbstsicherheit offenbare sich “Vollmacht”.

Des weiteren erkannte der Gelehrte, daß in der gesamten Religionsgeschichte Jesus der einzige ist, der, wie Mk 14, 36 verkündet, Gott nicht nur als Vater, sondern als “abba”, demnach in einer absolut singulären unmittelbaren, personalen Vertrautheit und Verbundenheit ansprach.

Nicht minder auffallend ist, daß der gleiche Jesus, wie nie ein Mensch, das “ich” oder “ich bin” bei Behauptungen und Heilungen in unnachahmlicher Weise betonte.

Auch die 41 Gleichnisse der Evangelien ragen einsam durch Inhalt wie Form aus der gesamten Weltliteratur hervor. Deshalb vernehmen wir bei ihnen neuerdings, wie das Jeremias treffend ausdrückte, die ipsissima vox, die ureigenste, die ursprüngliche und urtümliche Stimme Jesu (Neutestamentliche Theologie, 38, und ders. Die Gleichnisse Jesu, Kurzfassung Gütersloh 19808).

Jesus ist auch dort im vollen Sinn des Wortes originell, wo er den vor ihm bloß selten und stets beiläufig gebrauchten Ausdruck “Reich Gottes” häufig wiederholte, in die Mitte seiner Predigt stellte und zur charakteristischen Losung für sein höchstes Anliegen machte.

Gegen Bultmann erwiesen zudem eindringliche Untersuchungen von Jeremias, daß der Titel “Menschensohn”, obschon von Jesus immer in dritter Person gebraucht, sich trotzdem eindeutig nicht auf einen anderen, sondern auf ihn selbst beziehe. Daraus erhellt zugleich, wie gewaltig er den messianischen Anspruch, den er erhob, und sein Wesen sah. (Der gleichen Meinung ist gegen seinen Lehrer Bultmann Käsemann, 292!).

Zwingend konnte der Göttinger Gelehrte auch gegen das Erbe der religionsgeschichtlichen Schule bei Bultmann nachweisen, daß sämtliche gebrauchten Begriffe wie Handlungen ergeben, das letzte Abendmahl habe nichts mit einem hellenistisch-heidnisch magischen Ritual zu tun. Es komme zur Gänze aus der Gedankenwelt des Alten Bundes (274-276. Vgl. auch Jeremias, Die Abendmahlsworte Jesu, Göttingen 19674).

Abschließend sei noch erwähnt, daß Joachim Jeremias ungleich positiver über Christi Auferstehung urteilt als Bultmann. Während dieser in seiner Theologie des Neuen Testamentes jenem Ereignis, das den Höhepunkt des Lebens Jesu bildet, nur anderthalb Seiten widmet, nimmt sich Jeremias die Mühe, darüber auf zehn Seiten zu handeln, deren Ergebnis lautet: “Sie sahen Jesus im Lichtglanz. Sie waren Zeugen seines Herrschaftsantritts.”

Ebenso schlecht erging es den form- und religionsgeschichtlichen Ergebnissen Bultmanns.

Gegen seine Meinung, zahlreiche Aussprüche Jesu seien in Wirklichkeit Erfindungen seiner Anhänger, wandte bei einem großen Vortrag in Oxford 1958 das Haupt der schwedischen Schule für die Bibelwissenschaft, der in Uppsala lehrende Harald Riesenfeld, ein (nach Gerhard Delling, Studien zum Neuen Testament und zum hellenistischen Judentum, Göttingen 1970, 160-175): Im Judentum, auch zur Zeit Jesu, wurden Aussagen führender Schriftgelehrter so sehr als “heilige Worte” angesehen, daß sie unverändert bleiben mußten und nur in diesem Zustand weiter überliefert werden durften. Hätte daher die christliche Gemeinde Aussprüche geschaffen und erst dann in Jesu Mund gelegt, wäre sie durch ein solches Handeln beim leisesten Verdacht auf seiten ihrer hochintelligenten und genau prüfenden Gegner unglaubwürdig und damit unmöglich geworden. Die streng gebotene Gewissenhaftigkeit bei überkommenen Aussagen war im Falle Jesu umso strenger geboten, als allem, was er äußerte, wegen seines Anspruches messianischer Charakter zugesprochen werden mußte. (Riesenfeld zog daraus die Konsequenzen, er wurde katholisch).

Um gegen die von Bultmann vorgebrachten Zweifel Jesus als Urheber vieler ihm durch die Evangelisten zugesprochener Aussagen und Taten zu erweisen, wählte Jürgen Roloff, damals noch als Assistent in Hamburg tätig, einen anderen Weg. In seinem 1970 in Göttingen erschienenen Buch Das Kerygma und der irdische Jesus zeigte er u. a. auf, daß die Probleme, um welche es in den von den Evangelisten berichteten Auseinandersetzungen mit Schriftgelehrten und Pharisäern ging, gar nicht, wie die formgeschichtlichen Untersuchungen Bullmanns voraussetzten, in die Zeit der werdenden Kirche, sondern einzig in die Jahre des Wirkens Jesu passen (S. 52-88). Zugleich konnte er den Nachweis erbringen, daß Christus den durch ihn verlangten Glauben in einer ganz anderen Art verstand, als dies naturgemäß von der jungen Kirche nach Kreuzigung und Auferstehung geschehen mußte (S. 152-173).

Ebenso wie der formgeschichtlichen Zerstörung geschichtlicher Verläßlichkeit in den Evangelien erging es ihrer von Bultmann vermuteten Mythologisierung durch heidnisch-hellenistische Anschauungen. In umfassender Weise wandte sich der als Ordinarius für Religionswissenschaft in Göttingen wirkende Carsten Colpe 1961 gegen Bultmann und die von ihm bejahte religionsgeschichtliche Schule durch seine Darstellung und Kritik ihres Bildes vom gnostischen Erlösermythos (in: Die religionsgeschichtliche Schule, Göttingen 1961). Aufgrund dieser Arbeit und weiterer Forschungen, die in die gleiche Richtung wiesen, konnte Martin Hengel, der Nachfolger Käsemanns auf dem Lehrstuhl in Tübingen, bei seiner Antrittsvorlesung am 16. Mai 1973 die folgenden für das lautstarke Mythologisierungs- und Entmythologisierungsgerede peinlichen Feststellungen treffen (veröffentlicht mit “wesentlicher Erweiterung”, Tübingen 1975):

1. “Die ständig wiederholte Meinung, die Entwicklung der Sohn-Gottes-Christologie sei ein typisch hellenistisches Phänomen und bedeute einen Bruch im Urchristentum, hält näherer Nachprüfung kaum stand (S. 41).

2. “Der Begriff der sterbenden und auferstehenden Götter wird heute zusehends mehr in Frage gestellt” (S. 42, A. 54).

3. “Wenn z. B. R. Bultmann in seiner Theologie des Neuen Testamentes die Abhängigkeit des Paulus von gnostischen Gemeinden postuliert, die als Mysteriengemeinden organisiert waren und in denen etwa die Gestalt des gnostischen Erlösers mit dem Mysteriengott Attis zusammengeflossen war, so handelt es sich hier um eine phantastische Konstruktion” (S. 46).

4. “Man möchte wünschen, daß es auch in der neutestamentlichen Exegese endlich zur Kenntnis genommen wird, damit die abgegriffenen Klischees von der angeblich massiven Abhängigkeit des frühesten Christentums zwischen 30 und 50 n. Chr. von den Mysterien einer sachgemäßeren Beurteilung Platz machen: Die große Woge der orientalischen Mysterienreligionen beginnt aber erst in der Kaiserzeit, vor allem im II. Jahrhundert ... In diesem Jahrhundert beginnen auch der Kampf und zugleich die ersten Anläufe zu einem Synkretismus der mächtigsten orientalischen Kulte (Vidman 138). Das im 2. Jh. n. Chr. schon recht verbreitete und gefestigte Christentum war zwar schärfster Konkurrent, aber kaum mehr Objekt synkretistischer Überfremdung” (S. 45).

5. “Möchte man hoffen, daß das inzwischen schon abgeklungene gnostische Fieber ... vollends verschwindet und einer sachgemäßeren Beurteilung... Platz macht. Eigenartig ist, wie sehr es noch in der populärtheologischen Literatur, in Pfarrkonventen und Examensarbeiten nachwirkt” (S. 55).

6. “Der Aufweis religionsgeschichtlicher Parallelen schärft immer zugleich auch das Bewußtsein für die Distanz und das Neue, das im Urchristentum aufbrach” (S. 137).

Wenn wir die erwähnten Forschungsergebnisse von Käsemann, Jeremias, Riesenfeld, Roloff und Hengel überschauen, können, ja müssen wir als deren Ertrag buchen: Von den weite Teile der Christenheit erschütternden Ansichten Bultmann ist im wesentlichen so viel wie nichts geblieben!

Leider müssen wir aber auch in dieses erfreulich helle Bild düstere Schatten einzeichnen!

13. Kapitel: Hier irrt Joachim Jeremias!

Trotz aller Anerkennung und Dankbarkeit für seine erfolgreichen Leistungen um das Gewinnen einer wissenschaftlich wohlbegründeten Kenntnis über Persönlichkeit und Wirksamkeit Jesu durch Jeremias dürfen wir nicht verkennen, daß auch ihm schwere Fehler unterlaufen sind. Neuerdings zeigt sich, wie bei allen Leben-Jesu-Forschern, die anscheinend unvermeidliche Abhängigkeit von eben gängigen Meinungen.

Nachdem wir bereits früher bemerken mußten, daß Jeremias, hirin völlig ahnungslos gegenüber der modernen Naturwissenschaft, richtige Wunder nicht anzunehmen vermag, sehen wir bei ihm mit Erstaunen, wie sehr er aus Jesus einen Vorkämpfer für unbedingte religiös-soziale Gleichstellung macht. Hierin folgt er den eben modisch gewordenen gleichlaufenden neomarxistischen Forderungen. So gelangt denn der Gelehrte zur Auffassung, Jesus hätte die Sünder mehr geliebt als die Gerechten (Jeremias a.a.O., S. 118, 121 ff.). Er hätte seine Jünger durchweg aus sittlich fragwürdigen Kreisen erwählt, in deren Gesellschaft er sich am wohlsten fühlte. Indem er noch dazu mit ihnen aß und trank, hätte er sich auf die gleiche Stufe mit ihnen gestellt.

Jeremias geht so weit, daß er äußert, Jesus habe durch diesen aufsehenerregenden freien und liebevollen Umgang mit Verworfenen den Frommen seiner Zeit mit einem gewissen Recht Ärgernis gegeben, indem er schreibt: “Das war scheinbar die Auflösung aller Ethik ... rüttelt es (doch) an den Fundamenten der Religion.”

Ausgerechnet von dieser Sicht her sucht Jeremias das durch ihn Jesus sicher zugeschriebene letzte Abendmahl als bloß sinnbildlich zu verstehende Gleichnishandlung zu deuten.

Wie begründet er dies? Er wirft der bisherigen Theologie vor: “Man verbaut sich das Verständnis des letzten Mahles Jesu, wenn man sofort von den Deuteworten ausgeht”, weil man sie “auf diese Weise ... isoliert.” Dagegen wendet er ein: Das letzte Abendmahl sei “nichts anderes als ein Glied in einer langen Kette von Mahlzeiten”, eben jener “Tischgemeinschaften ..., die so schweren Anstoß erregten, weil Jesus niemanden, auch nicht die offenkundigen Sünder, von ihnen ausschloß, und die gerade damit das Herzstück seiner Botschaft zum Ausdruck brachten” (S. 276) Der Höhepunkt dieser Liebe Jesu zu den Sündern als Sünder sei sein Tod als “stellvertretendes Sterben” für sie alle gewesen. Darin sieht nun Jeremias den Sinn der Deuteworte beim letzten Abendmahl, “daß Jesus ihnen mit Brot und Wein Anteil an der Sühnekraft seines Todes zusprach”.

Anderes und mehr sollten sie nicht zum Ausdruck bringen!

Aus diesem Verständnis des letzten Abendmahles durch Jeremias folgt:
1. Jesus will demnach nicht unter “Brot” und “Wein” gegenwärtig sein.
2. Jesus will durch seine Worte über Brot und Wein lediglich die Sühnekraft seines Kreuzestodes den Anwesenden mitteilen.

Es ist erschreckend zu sehen, wie sehr katholische Priester, dankbar für seine Rettung der Erlösergestalt Jesu, Jeremias in den eben genannten Anschauungen Gefolgschaft leisten. In der Praxis sieht das so aus:

Bei der Eucharistiefeier entfallen dann die Zeichen der Anbetung des sakramental gegenwärtigen Christus, vor allem das Beugen der Knie und die früher selbstverständliche Sorgfalt im Umgang mit den eucharistischen Gaben. Außerdem wird der Tabernakel immer mehr entehrt (bis hin zur Aufstellung ganzer Chöre vor ihm!).

Dazu wird oftmals selbst notorischen Sündern die Kommunion gewährt und die Beichte nicht mehr als deren u. U. notwendige Voraussetzung ernst genommen.

Noch etwas ist zu beachten: Wenn das letzte Abendmahl lediglich auf den Kreuzestod Jesu hinweist, hat Jeremias durchaus recht, wenn er die über den Wein gesprochenen Worte “für viele” mit “für alle” wiedergibt. Denn Christus ist tatsächlich für jeden Menschen gestorben.

Wie sich jedoch zeigen läßt, ist die eben genannte Voraussetzung für die von der gesamten bisherigen Sprechweise abweichende Auffassung des Jeremias unhaltbar. Deshalb leistet jede Anerkennung, welche die Wortwahl “für alle” findet, seinen eucharistischen Irrtümern in verhängnisvoller Weise Vorschub!

Leider sind wir mit dem Vorausgehenden noch nicht mit der Wirkung des Joachim Jeremias auf die nachkonziliare Liturgie am Ende.

Nach der Meinung dieses Gelehrten bilden die Worte des Vaterunser “erlöse uns von dem Bösen” keinen richtigen Abschluß. Daher dürfte nach dieser Bitte kein abschließendes “Amen” kommen, es sollte vielmehr ein jeweils verschieden geformtes Gebet folgen.

Gehorsamst geschieht dies tatsächlich bei den Laudes und zur Vesper des neuen Stundengebetes!

Auch die oben zitierte drastische Schilderung der Osterereignisse darf uns nicht über das Mangelhafte seiner Vorstellungen hinwegtäuschen. Er schreibt: Die “Tendenz ..., die Leiblichkeit des Auferstandenen zu materialisieren”, sei erst spät aus Gründen “der Apologetik” erfolgt (S. 196). Entgegen dem Zeugnis der Evangelien nimmt er an, die vermeintlichen Begegnungen mit dem Auferstandenen hätten “pneumatischen Charakter” gehabt, der nur “in der Schau des Lichtglanzes” (S. 291) bestanden hätte. Deshalb hätten die Jünger pfingstlich-geistgewirkte Visionen gehabt, bei welchen ihnen Christus nicht in Person erschienen sei, sondern: “sie erlebten die Parusie ... die reale Erfahrung des Anbruchs der neuen Welt Gottes”. Darum erklärt Jeremias ausdrücklich, die Erscheinung vor den “Fünfhundert” (1 Kor 15, 6) und die “Pfingstgeschichte” (Apg 2, 1-4) seien wohl identisch” (S. 295). Wenn man dies einmal weiß, dann drängt sich einem unwillkürlich die Frage auf: Geht nicht die Ineinssetzung des Oster- und Pfingstfestes (nunmehr ohne Oktav!) gleichfalls auf die Meinung des Jeremias zurück?

Als letztes muß noch erwähnt werden, daß Jeremias Jesus wegen seiner liebenden Hingabe an die Sünder als “Stellvertreter” Gottes ansieht und meint, damit den Auffassungen von der Gottessohnschaft Jesu im Neuen Testament vollauf zu genügen. Selbstverständlich findet er auch dafür bei uns Gefolgschaft!

14. Kapitel: Leonhard Goppelt – Rufer zur Ordnung

Aber auch Joachim Jeremias hat bereits in entscheidenden Punkten seinen Kritiker gefunden, nämlich im Lehrer der von uns bereits angeführten Hengel und Roloff, im leider zu früh (1973) verstorbenen Leonhard Goppelt.

In seiner postum erschienenen Theologie des Neuen Testaments, herausgegeben von Jürgen Roloff 1975 und 1976 in zwei Bänden (Göttingen), wendet er sich korrigierend gegen folgende Auffassungen von Jeremias:

1. Betreffs der Wunder Jesu vernehmen wir bei Goppelt eine erfreulich neue Sprechweise. Etwa in seiner Erklärung: “Der Grundsatz: Was naturwissenschaftlich nicht möglich ist, das kann auch historisch nicht möglich sein, ist nur bedingt anwendbar, denn ...: Was ist eigentlich naturwissenschaftlich möglich?” (S. 194) Diese gesunde Skepsis gegen die übliche Wunderleugnung wird noch überboten durch die Ablehnung des kümmerlichen deistischen Gottesbildes: “... wir müssen unterscheiden zwischen einem Denken, das die Errechenbarkeit der Welt postuliert, und einem Denken aus Glauben, das offen ist für die begegnende Wirklichkeit Gottes, die die Welt verändert.” Hier wird endlich wieder Gott gegeben, was Gottes ist – die Herrschaft über seine Schöpfung.

Damit hat sich Goppelt den Weg freigekämpft, unbefangener als fast alle anderen die Berichte über das letzte Abendmahl und die Auferstehungsereignisse zu untersuchen.

2. Zum Teil unter Verwendung der wertvollen Studie seines Schülers Hermann Patsch über Abendmahl und historischer Jesus (Stuttgart 1972) widerlegt der Hamburger Gelehrte sowohl die Irrtümer Bultmanns wie Jeremias' auf diesem Gebiet.

Für den Erstgenannten will der Jesus des letzten Abendmahles tatsächlich sakramentale Gemeinschaft mit sich vermitteln, doch nur, weil er im Bann des hellenistischen Heidentums als wirklich gegenwärtiger Kultgott angesehen werde. Dagegen führt Goppelt ins Treffen:
a) Patsch konnte zeigen, daß die in dieser Ansicht vorausgesetzten “Mysterienmahle” sich “religionsgeschichtlich nicht nachweisen” lassen (S. 262).
b) Wie, hierin mit Recht, Jeremias zeigen konnte, sind die Einsetzungsberichte derart von “Semitismen durchsetzt”, daß sie nur “aus dem Raum des palästinensischen Judentums” stammen können.

Doch gerade mit Berufung darauf behauptete Jeremias, in einer vom Geist des Alten Testamentes bestimmten Umgebung käme die Annahme einer wirklichen Vergegenwärtigung nicht in Frage. Deshalb sei in den sicher Jesus zuzuschreibenden Brot- und Kelchworten etwa das est der lateinischen Übersetzung einzig als significat (= bedeutet) zu verstehen. Darauf entgegnet Goppelt: Zunächst widerspricht diese “symbolische Deutung” dem klaren “Wortsinn” der Aussprüche Jesu über Brot und Wein (auch wenn in seiner aramäischen Heimatsprache das est fehlt!). Ferner muß bedacht werden: Diese Erklärung verkennt die neue Situation, die Jesus beim Abschiedsmahl “eschatologisch ansagt” und die angesichts des unmittelbar bevorstehenden Wegganges aus dieser Welt deutlich erkennbar verkündet: “Nicht mehr die Tischgemeinschaft, sondern Essen und Trinken als solche werden Mittel der communio. Essen und Trinken ... vermitteln geistliche Gaben. Sie nehmen ... sakramentalen Charakter an.” Kurz gesagt: “Die Gabe ist Jesus in Person.” (S. 265 - 268).

3. Für Jeremias sind, wie wir schon sahen, die Auferstehungsereignisse keine objektiven Vorgänge, sondern pneumatisch-pfingstlich verursachte Visionen der Jünger.

Dagegen wendet Goppelt ein, daß Paulus, dem wir die Erstnachrichten über die Auferstehung verdanken, sehr wohl zwischen dieser und seinen sonstigen “Christophanien” pneumatischer Natur unterscheidet (S. 289). Zudem ist auch die Auswirkung des Pfingstgeschehens eine ganz andere als die der Begegnung mit dem Auferstandenen: “Sie begründet das Apostolat, nicht die Kirche” (S. 294). Kennzeichnend ist ferner für sämtliche Berichte von Erscheinungen des Auferstandenen: Sie lassen als “historischen Grundzug erkennen: Jesus stellt, das Versagen der Jünger vergebend, die Gemeinschaft wieder her und erweist sich so als auferstanden.” Anders ausgedrückt: “Jesus redet sie erneut an Gottes Statt an und gewährt ihnen seine und damit Gottes Gemeinschaft.” Daraus ergibt sich: “Begegnet ein Verstorbener aber personhaft, als ein Du, damit leibhaft, dann muß von ihm... bekannt werden: Gott hat ihn auferweckt.”

Aufgrund dieser Überlegungen und Tatsachen spricht es nicht nur gegen Erklärungsversuche des Katholiken Seidensticker (eines Franziskaners), sondern auch gegen Jeremias, wenn Goppelt äußert: Wer behauptet, “die Ostererscheinungen seien ursprünglich apokalyptische Lichtglanz-Erscheinungen gewesen oder als solche dargestellt worden, stellt die Entwicklung der Überlieferung auf den Kopf.”

Abschließend sei noch auf folgendes hingewiesen: Gegen das pfingstlich-visionäre Ineinanderfließen der Ostererscheinungen spricht noch eine Tatsache, auf die Goppelt betont hinweist: Die “Erscheinungen ... bleiben auf Menschen beschränkt, die Jesus in den Erdentagen nahestanden ... Paulus bezeichnet sich selbst als Ausnahme ... die Erscheinungen sind für ihn also faktisch abgeschlossen” (S. 284 - 293).

4. Auch die Ansätze und Anregungen zu einer Art “Befreiungstheologie”, die Jeremias im Wirken Jesu zu finden meint, können vor dem sorgsam prüfenden Blick Goppelts nicht bestehen.
Er weist vor allem nach, daß Jeremias mit seiner Ansicht im Unrecht ist, Jesus stelle Arme und Sünder gleich.
Ebensowenig stimmt es, wenn Jeremias annimmt, für Jesus seien Sünder solche, “die ein unehrliches Gewerbe ausüben und einen unmoralischen Lebenswandel führen”. Der Begriff des Sünders reicht für diesen viel weiter. Auch die zu seiner Zeit als “Gerechte” galten, zählen für ihn zu diesen.

Niemals wendet sich Jesus den Sündern zu, um mit ihnen – wieder laut Jeremias – “ihresgleichen zu werden”. Er weiß sich unter ihnen vielmehr wie ein Arzt unter den Kranken! (Mt 9, 13 u. par.)

So wenig Jesus die Sünder auch nur irgendwie als soziale Gruppe sieht, so wenig kennt und übt er eine “allgemeine Absolution”. Sündenvergebung wird immer nur einem bestimmten Einzelnen gewährt. Und diese niemals ohne innere Bereitschaft: “Der Sünder hat ... Aufnahme nur so weit, als er heimkehrt.” Die Evangelien unterscheiden hier genau: “Außenstehenden gegenüber wird von Umkehr gesprochen, den Betroffenen gegenüber von Glaube.” Glaube aber heißt in diesem Fall soviel wie bekennen, daß sich Gott selbst in und durch Jesus dem Sünder zuwendet. Denn: “In der Sündenvergebung vollzieht Jesus, was nur Gott zusteht ... In Jesu Person wendet sich Gott... dem Menschen zu.” Goppelt unterstreicht die hohe Bedeutung dieses Geschehens zu Recht durch die Folgerung: “Das ist die Basis der neutestamentlichen Christologie!”

Er widerspricht sogar reformatorischen Anschauungen, wenn ihm aufgeht: “Jesu Vergebung ist viel mehr, als der traditionelle Begriff von Hause aus sagt. Vergebung bedeutet nicht nur Tilgung von Schuld, sondern... die Wiederaufnahme des Geschöpfes durch seinen Schöpfer durch Aufnahme in das Leben der endzeitlichen Herrschaft Gottes” (S. 158 - 188).

Die bislang von keinem der erwähnten protestantischen Neutestamentler so erreichte Nähe zum Vollsinn der biblischen Aussagen und damit zu katholischen Auffassungen ist beachtenswert und erfreulich. Durch Goppelt ist in die Bibelwissenschaft eine Klärung und Ordnung gekommen, hinter welche es kein Zurück mehr gibt!

15. Kapitel: Hier irrt auch Goppelt

Dennoch darf nicht verschwiegen werden, was selbst einen Goppelt immer noch von uns trennt!

In bezug auf das letzte Abendmahl ist bei aller Betonung einer personalen Gegenwart in den Gaben eine abschwächende Spiritualisierung nicht zu übersehen. Das zeigt fürs erste die Verneinung: "Ein verklärtes himmlisches Blut gibt es nicht ... Nicht ein himmlischer Leib, nicht pneumatische Substanz ... sondern Jesus als der für alle Gestorbene wird gegeben" (S. 267. Überdies wird hier der katholische Sinn von “Substanz” verkannt!). Positiv ausgedrückt: "Nicht nur nach paulinischer, sondern auch nach palästinensischer Tradition wird der Auferstandene in der Weise Gottes gegenwärtig, nämlich durch den Geist bzw. wie die schekhina (Mt 18, 20), nicht als verklärter Mensch" (S. 269). Mit dieser Äußerung widerspricht sich jedoch Goppelt in zweifacher Hinsicht. Wie kann Jesus "in der Weise Gottes", wie die "schekhina" gegenwärtig werden, wenn er, wie wir noch sehen werden, für Goppelt gar nicht Gott ist? Zum anderen fällt Goppelt mit seiner Behauptung einer Anwesenheit "durch den Geist" in den gleichen Irrtum, den er zuvor mit Recht abgelehnt hatte, als er sich gegen die – auch auf unserer Seite gängige – Anschauung wandte, "die Jünger hätten unter dem Eindruck der Ostererscheinungen die Tischgemeinschaft der Erdentage erneuert und den Auferstandenen unsichtbar unter sich gegenwärtig gewußt".

Gleiches gilt auch betreffs der Auferstehung. Obschon Goppelt gut feststellt, daß "die Erscheinungen Demonstrationen einer neuen Leiblichkeit... sind" (S. 286), lehnt er als "schon von vornherein" unglaubwürdig die Berichte über das "Vorzeigen der Wundmale ... und vollends" das "Betasten" des Auferstandenen ab (S. 292). Zudem ist nach seiner Ansicht der "Auferstehungsleib ... nicht der wiederbelebte irdische Leib, sondern auf alle Fälle eine völlig neue Leiblichkeit" (S. 296).

Für die letztgenannte Anschauung beruft sich Goppelt auf Mk 12, 24 f und 1 Kor 15, 35-44. Aber zu Unrecht!
In der Markusstelle vergleicht zwar Jesus die vom Tod erstandenen Menschen mit den "Engeln", doch gilt das nur insofern, als jene wie diese in der Ewigkeit kein Eheleben mehr führen, ist doch im Himmel jedwede Sorge um Nachwuchs sinnlos geworden. Was aber das Zitat aus dem ersten Korintherbrief anlangt, weist bereits die Rede von einem "säen" trotz aller Unterschiede in der Art der Leiblichkeit hier und drüben auf einen inneren organischen Zusammenhang hin. Noch deutlicher wird der Apostel, wenn er einige Verse später, in V. 51 und 52 von einem "Verwandelt-werden" der Sterblichen in Unsterbliche, und in V. 53 und 54 von einem "Anziehen" der Unsterblichkeit durch das Sterbliche spricht!

Am schmerzlichsten berührt jedoch Goppelts Leugnung der wahren Gottheit Jesu.
Wohl stellt er mit Staunen fest, "knapp 15 Jahre nach seinem Ende" sei erklärt worden: "Jesus ist die Inkarnation des präexistenten Sohnes!"

Die religionsgeschichtliche Auffassung, hier handle es sich um eine "Übertragung mythischer Schemata", lehnt er als überholt ab. Statt dessen hält er dafür, die "Präexistenzchristologie" habe sich "erst ... entwickelt, ...als das Evangelium hellenistischen Menschen begegnete" (2, S. 393). Das aber sei geschehen aus sehr guten und ernsten Gründen. Dadurch sollte "zum Ausdruck" gebracht werden: "Was in Jesus begegnet, kommt aus dem schlechthinnigen Gegenüber zu allem Welthaften." Es handle sich hier also nicht um eine hellenistisch-heidnische Mythologisierung, wie noch Bultmann meinte, sondern im Gegenteil darum, eine Mythologisierung Jesu zu verhindern. Darum und nur in diesem Sinn würde Jesus als der "Sohn Gottes" verkündet. Das sollte bloß zum Ausdruck bringen, daß er „in einem einzigartigen Bund stand ... weil sein Wirken wesenhaft mit dem Gottes geeint ist und deshalb die Wesenheit Gottes abbildet" (2, 404)

Für diese Erklärung beruft sich Goppelt auf die allgemeine Überlegung: "Schon für die neutestamentlichen Aussagen, erst recht für uns sind das zeitliche Vorher und das räumliche Oben sekundäre Ausdrucksmittel. Sie sind schon bei Paulus mehr oder minder bildlich gemeint; denn Gott ist für ihn über Raum und Zeit erhaben ..." (2, 405).

Auch zu diesen Aussagen Goppelts seien kurze Anmerkungen gestattet. Die Ausdrücke "oben" und „vorher" kann man nicht in gleicher Weise als bloße "Ausdrucksmittel" nehmen. Denn wohl ist das räumliche "oben" tatsächlich nur auf unsere Erde bezogen und gilt daher nur bedingt (relativ). Das "vorher" ist hingegen eindeutig verständlich, weil die Zeit unwiederholbar immer nur in eine Richtung verläuft. Darum kann jeweils das „vorher" eines Geschehens exakt bestimmt werden. Im Falle Jesu meint es sein Leben bereits vor der irdischen Geburt. Es stimmt ferner nicht, wenn Goppelt sagt, Paulus sehe Gott als erhaben über Raum und Zeit an. Von klein auf mit den Psalmen vertraut, weiß er genau, wie sehr in diesen Gott als der kraft seiner Allgegenwart in der Schöpfung Wirkende angesehen wird.

Vor allem aber: Daß erst die Begegnung mit den "hellenistischen Menschen" zur Ausbildung einer Präexistenzchristologie geführt habe, diese also nur zum Zweck eines besseren Verständnisses gebildet worden sei, wird durch einen Schüler dieses Gelehrten, durch Martin Hengel widerlegt.

Dieser weist in seiner bahnbrechenden Arbeit Christologie und neutestamentliche Chronologie (in der Festgabe für O. Cullmann Neues Testament und Geschichte, Hg. H. Baltenweiler und B. Reicke, Zürich / Tübingen 1972, 67 - 73) auf folgendes hin: "Phil 2, 6 ff; 1 Kor 8, 6; Gal 4, 4; Rö 8, 3 und 1 Kor 2, 7 bezeugen bereits die Präexistenz, das göttliche Wesen Jesu und seine Schöpfungsmittlerschaft." Er folgert daraus: "Da die Paulus-Briefe ... eine festgeprägte Christologie aufweisen, innerhalb deren keine wirkliche Entwicklung festzustellen ist, muß man annehmen, daß die paulinische Christologie bereits vor dem Aufbruch des Paulus zu seinen großen Missionsreisen ... d. h. spätestens ... etwa 48 n.Chr.,... fertig vorlag" (S. 58). Das legt den Schluß nahe: "Die christologische Entwicklung von Jesus bis hin zu Paulus vollzog sich so in dem für einen geistigen Prozeß von diesem Ausmaß kurzen Zeitraum von rund 18 Jahren. Im Grunde hat sich christologisch innerhalb dieser wenigen Jahre mehr ereignet als in den nachfolgenden 700 Jahren Kirchengeschichte."

Doch Hengel stößt noch weiter vor, nämlich auf die Zeit vor der Bekehrung des heiligen Paulus, also „etwa 32/34" (S. 61). Er bemerkt dazu: Die davor liegenden "vier bis fünf Jahre sind so durch eine ungeheuer rasche Folge der Ereignisse bestimmt ... Die Frage wäre: Gilt diese fast ‘explosionsartige’ missionarische Expansion am Anfang der urchristlichen Geschichte nicht auch für die Entwicklung der Christologie"? (S. 61 f). Seine Antwort: "Es spricht vieles dafür, daß diesen ... Jahren ... eine ganz besondere Bedeutung zukommt." Daher kann er erklären: "Das eigentliche Problem der Entstehung der urchristlichen Christologie sind vor allem diese Jahre" (S. 62). Er charakterisiert sie kurz so: Man muß bei ihnen "in Rechnung" stellen: "Die Wirksamkeit Jesu, deren ungeheure Wirkung auf die Jünger und ...auf breitere Kreise ... wir uns heute kaum mehr vorstellen können. Sie kann nur mit dem Begriff messianisch zureichend umschrieben werden" (S. 64) Dann: „Die unmittelbare Aufeinanderfolge der Katastrophe der Kreuzigung Jesu ... und der radikalen Wende durch die Auferstehungserscheinungen. Dieses komplexe Geschehen löste einen einzigartigen ‘dynamisch-schöpferischen Impuls’ aus, der sich ... nicht zuletzt in der christologischen Reflexion äußerte. "

Worin sieht nun aber Hengel den konkreten christologischen Ertrag dieser ersten Jahre, in denen die um Kephas gescharte Urchristenheit noch ganz unter dem unmittelbaren Eindruck der Worte und Taten Christi stand?

Von diesem hören wir leider nicht, dafür erfahren wir: "Wenn Paulus seine Berufung vor Damaskus als eine Offenbarung des Gottessohnes durch Gott selbst beschreibt, so setzt das m. E. die zentrale Bedeutung dieses Wortes für die damalige Zeit voraus" (Der Sohn Gottes, a.a.O., S. 102). Dies ist gewiß richtig! Fügen wir dem noch eine zweite ebenso wichtige Bemerkung hinzu: "Eine ganz entscheidende Rolle kam hier Ps 110... zu, der wichtigsten alttestamentlichen Belegstelle für die Entfaltung der Christologie überhaupt" (S. 125). Abermals richtig, wird doch in diesem bedeutsamen Text der Würdename "Herr" wie Jahwe dem Messias zugesprochen. Zugleich wird dessen Erhöhung "zur Rechten" Gottes ausgesagt und auf seine Präexistenz unüberhörbar hingewiesen: "Noch vor dem Morgenstern habe ich dich gezeugt" – was Hengel durchaus weiß! (S. 108)

So weit, so gut. Doch wie versteht Hengel die genannten Ergebnisse? Nach seiner Ansicht ist nämlich "Interpretation ... die spezifische, unabdingbare Aufgabe der systematischen Theologie"! (S. 143) Als betont bescheidene "Anregungen" dazu bietet er folgendes an: Es komme in den "neutestamentlichen Aussagen vom Sohne Gottes ... zum Ausdruck, daß Gottes Liebe gegenüber allen Menschen in dem einen Menschen, Jesus von Nazareth ... ein für allemal und unüberbietbar Gestalt gewonnen hat, daß das Ereignis dieser Liebe ... die Sendung Jesu durch den ewigen Gott voraussetzt, wobei dieser Jesus Gottes Wesen und Willen ganz ‘entspricht’." Wir sind enttäuscht. Denn mit diesen Sätzen bekundet Hengel, daß auch er, ebenso wie sein Lehrer Goppelt, im Grunde über die liberalen Anschauungen von Ritschl und Harnack nicht hinauskommt: Jesus ist auch für ihn nicht Gott, sondern nur dessen einmaliger und unvergleichlicher Bote!

Wie steht es nun mit dem anderen bedeutenden Schüler Goppelts, mit Jürgen Roloff?
Vor allem führt dieser leider wieder in die von der modernen Physik überholte Wunderleugnung des Deismus zurück, wenn er äußert: "Unser Begriff des Wunders ist nämlich an unsere Einsicht in die Gesetzmäßigkeit allen Geschehens gebunden. Wunder sind für uns Vorgänge, durch die die Naturgesetze durchbrochen werden - und sie sind darum für uns letztlich undenkbar" (Neues Testament, Neukirchen 1977, S. 77).

Damit hat sich Roloff von vornherein die Möglichkeit verbaut, die Wirklichkeit des letzten Abendmahles und der Auferstehung zu bejahen.
So erfahren wir über "die Deuteworte der Darreichung von Brot und Wein", diese dienten nur "zur zeichenhaften Darstellung seines (Jesu) Sterbens für andere" (S. 219). Zum zweiten sei, "was gedeutet wird ..., die Jüngergemeinschaft; sie ist die eigentliche Gabe des Sakraments". Hier ist also keine Rede davon, daß sich Jesus selbst wahrhaft unter den Gestalten von Brot und Wein schenkt.

Was die Auferstehung anlangt, gehört auch nach Roloffs Meinung "der Erweis der Identität des Auferstandenen durch das Vorzeigen der Wundmale ... und durch das Betasten nicht zum ursprünglichen Strukturschema" der biblischen Berichte (S. 199). "Das gleiche gilt erst recht vom demonstrativen Essen des Auferstandenen." Überhaupt gelte: "Ein historischer Beweis läßt sich auch mit exegetischen Mitteln nicht führen. Wohl aber konfrontiert uns die Exegese mit dem Anspruch der Auferstehungszeugen, mit einem alle Voraussetzungen bisheriger Geschichte umstoßenden neuen Handeln Gottes zu tun gehabt zu haben ... Daß Gott Jesus auferweckt hat, besagt ...: Gott selbst hat sich mit ihnen verbunden und sich dafür verbürgt, daß er selbst durch sie zur Herrschaft kommen werde ..." (S. 207 f).

Leider bleibt also Roloff mit diesen Äußerungen bei weitem hinter seinem Lehrer Goppelt zurück!

16. Kapitel: Zusammenfassung

Es war wohl an der Zeit, wenigstens in der möglichen Kürze die „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung" Albert Schweitzers über seine Zeit hinaus bis in unsere Tage fortzusetzen.

Was ist das Ergebnis davon? Kein anderes als bei Schweitzer: Auf der einen Seite muß der unleugbare Einsatz von Fleiß und Begabung im Dienste der hier gestellten großen Aufgaben anerkannt werden. Auf der anderen Seite kann jedoch das Gefühl der Enttäuschung über gerade in wichtigsten Bereichen unbefriedigende, ja negative Ergebnisse nicht verhehlt werden.

Die Hauptursache dafür haben wir wiederholt genannt: Aus einem Irrtum kann nur wieder Irrtum kommen. Die ganze Erforschung des Lebens Jesu im liberalen Neoprotestantismus seit Semler leidet an ihrer ererbten Kinderkrankheit, an der vom Deismus übernommenen Leugnung schon der bloßen Möglichkeit des Wunders. Das gilt auch von jenen Forschern, denen wir uns nach Schweitzer in erster Linie zugewandt haben, von Bultmann, Käsemann, Jeremias und neuerdings Roloff. Nur Karl Barth brach aus — doch leider in so vehementer, einseitiger Weise, daß er sich jeden Brückenschlag zwischen Glaube und Wissen verbat! Damit wurde er auf die Dauer unerträglich, ja uninteressant. Immerhin zeigte er: Wo das Ja zum Wunder gesprochen wird, da entsteht zugleich jene Unbefangenheit, welche den Realismus der Auferstehung und der Gottheit Jesu ernstnehmen läßt.

Wir kommen zum Ende: Es war ein mühevoller Weg, den wir zu gehen hatten. Aber er hat uns wach gemacht für die Herkunft zahlreicher Irrlehren der Gegenwart und deren Folgen bis in das innerste Heiligtum unserer Kirche, bis in ihre hl. Liturgie. Zugleich sind wir der Begründungen hierfür innegeworden und konnten erkennen, wie sehr fast alles davon, auch wenn es bei uns noch herumgeistert, schon wieder erledigt ist.

Vielleicht ist es von Nutzen, wenn wir uns einige der genannten folgenschweren Irrtümer noch einmal zum Bewußtsein bringen.

In der “religionsgeschichtlichen Schule” war durchaus positiv die Entdeckung, wie sehr Paulus, hierin richtig “katholisch”, anders als die liberale Theologie des Kulturprotestantismus die Gottheit Christi verkündete, ebenso die Heilsbedeutung des Kreuzestodes und der Auferstehung. Auch erfaßte sie gut, daß der Heidenapostel die Taufe und die Erinnerungsfeier des letzten Abendmahles als Sakramente ansah, in denen wirksam Gegenwart wird, was sie anzeigen. Schade nur, daß diese Ergebnisse teuer mit dem Irrtum bezahlt wurden, die paulinischen Anschauungen seien ausnahmslos dem heidnischen Hellenismus zu verdanken. Wie wir zeigen konnten, sind diese Auffassungen durch modernste Forschung (Carsten Colpe, Hermann Patsch, Martin Hengel) gründlich abgetan worden.

Ähnlich erging es Albert Schweitzer. Auch er entdeckte (als dritter nach Reimarus und Johannes Weiß), was uns Katholiken von Kindheit an vertraut ist: Die eschatologisch-endzeitliche Erwartung des Gottesreiches durch Jesus als gottgewirkte Schöpfung eines neuen Himmels und einer neuen Erde. Wieder war dieses richtige Ergebnis durch einen großen Irrtum schwer erkauft. Schweitzer mußte ja von vorhinein diese Auffassung Jesu ablehnen, weil er – immer noch Kind des Deismus – Wunder für unmöglich hielt. Darauf gestützt, meinte er Jesu Anschauung mit der billigen Bemerkung erledigen zu können, es sei doch, was dieser erwartete, bis heute nicht eingetroffen. Ein solcher Hinweis ist erstaunlich bei einem Denker von Rang, der doch mit den gewaltigen Zeiträumen der Schöpfungsgeschichte vertraut sein mußte. Nicht minder naiv mutet es an, wenn Schweitzer die Botschaft Christi dadurch für unsere Zeit zu retten versucht, daß er dazu auffordert, die durch die Reichsbotschaft anvisierte große Zukunft durch hochgemuten menschlichen Einsatz zu bewirken, anstatt sie vom Eingreifen Gottes zu erhoffen. Hat dieser Theologe so gänzlich vergessen, daß der Mensch ein gefallenes und sündhaftes Wesen ist, welchem zur “Vollendung und Seligkeit der Welt und einer erwählten Menschheit” (Leben-Jesu-Forschung 623) arge Grenzen gesetzt sind? Leider hat sich die Idee, Christentum und Kirche in den Dienst vorwiegend diesseitiger, horizontaler Bemühung rein aus menschlicher Kraft umzumodeln, in den Köpfen allzuvieler festgesetzt.

Nach der furchtbaren Enttäuschung über den Menschen in den Schrecken des ersten Weltkrieges kam es im Protestantismus zum üblichen theologischen Umschwung: Karl Barth predigte, Gott allein sei alles und der Mensch nichts. Er zog daraus Folgen, die sich gleichfalls immer noch bei uns auswirken: Der Mensch könne daher Gottes Dasein nicht erkennen, er sei bis in seine Seele hinein sterblich und unfähig, auch nur das Geringste für seine Seligkeit zu tun. Dem daraus möglichen erschreckenden Schluß, es seien also alle verdammt, entfloh Barth durch die gegenteilige Annahme: Unbekümmert um Gut- oder Schlechtsein würden alle um des Kreuzes Christi willen aus purer Gnade der ewigen Seligkeit gewürdigt.

Barth lehnte Beweise für seine Behauptungen ab. Ihm galt allein Gottes Wort, dem einfach unbedingt zu glauben war.

Dieser Einseitigkeit stellte Rudolf Bultmann, wie seit Semler gewohnt, eine andere extreme Auffassung entgegen. Durch kritische Überprüfung des Neuen Testamentes meinte er nachweisen zu können, Satz um Satz sei darin, da entweder religionsgeschichtlich durch das Heidentum oder formgeschichtlich durch Erfordernisse geschichtlicher Umstände bedingt, nicht als Gotteswort anzusehen. Selbst dem kargen, im Sinne Schweitzers eschatologischen Restbestand konnte von Bultmann nur diesseitig-menschliche Bedeutung zugesprochen werden. Auf diese Weise schien das Christentum jedwedes sichere Fundament zu verlieren. Auch über die Person Jesu war nach Bultmann nirgends Gewisses zu erfahren.

Die Folgen dieser totalen Destruktion wirkten sich panikartig besonders auch in der katholischen Kirche aus. Sie führten zur Flucht von Tausenden aus ihrem Priestertum, zur Entleerung der Seminare und Klöster, zum Zusammenbruch der Disziplin, zur Verunsicherung bis in den Lehrbetrieb der Schulen aller Ränge, zur Preisgabe der Katechismen und zu jenem Schwund in Glauben und Moral, der weithin bis heute währt.

Doch wie ausnahmslos alles seit Semler, konnte sich auch dieses gigantische System der Negation wissenschaftlich nicht halten!

Die Wiederentdeckung Jesu war nicht zu verhindern. Einen entscheidenden Anfang setzte einer der hervorragendsten Schüler Bultmanns, Ernst Käsemann. Aus unbezweifelbaren Sätzen der Bergpredigt entdeckte er den Stifter des Christentums wieder strahlend in der Hoheit seines Anspruches, nichts weniger als der Messias, der Christus zu sein.

Dieses sichere Wissen um Jesus weitete besonders Joachim Jeremias erstaunlich aus. Doch auch bei ihm zeigten sich abermals die tragischen Folgen des Deismus. Indem er ganz in seinem Banne Jesus echte Wunder absprach, mußte er nicht nur im Hinblick auf das rechte Verständnis der Reichgottesbotschaft und der Realität des Auferstehungsgeschehens versagen. Denn: Wer an Wunder nicht glaubt, kann in der Bibel nichts mehr für sicher wahr ansehen. Mehr noch, der hat auch allen persönlichen Halt verloren. Dadurch isoliert geworden und auf sich selbst angewiesen, vermag er bloß zu bejahen, was sich ihm und seinem Verstand dank der Zeit, die ihm vergönnt ist, der Fähigkeiten, über die er verfügt, der Voraussetzungen, aus denen er kommt, als einigermaßen verläßlich erweist. Mit einem Wort: Dem Irrtum des Deismus gesellt sich zwangsläufig der Irrweg des Subjektivismus! So gewann denn Jesus bei Jeremias zwar wirkliches Leben. Doch wie sah das aus? Vergegenwärtigen wir uns – weil ihr Einfluß bis heute bei uns enorm ist – folgende Sätze des Gelehrten: Das Gottesreich “gehört den Armen allein (!) ... das Heil ist nur (!) für Bettler (!) und Sünder bestimmt” (Neutestamentliche Theologie, 118). Oder: Jesu Anhängerschaft umfaßte ... vorwiegend die Diffamierten (!)” (S. 114) Ferner: “Die Umwelt Jesu stellt das Gottesverhältnis auf das sittliche Verhalten des Menschen. Indem das Evangelium das nicht tut (!), rüttelt es an den Fundamenten der Religion (!)” (S. 210). Und: “Jesus beansprucht in seinem anstößigen (!) Handeln, die Liebe Gottes zu realisieren ... als Stellvertreter Gottes zu handeln (!). In seiner Verkündigung aktualisiert sich die Liebe Gottes zu den Armen (!)” (S. 121) Man beachte, wie sich in unserer Zeit solche undifferenzierten Aussagen suggestiv politisierend auswirken mußten und müssen!

Zum Abschluß noch zwei Sätze, die verhängnisvoll die derzeitige Art der Liturgiefeier beeinflußt haben: Nach Jeremias besteht die “Besonderheit” der Feier des letzten Abendmahles “nicht darin, daß Jesus einen völlig neuen Ritus stiftete” (S. 275). (Das allein ist schon nicht selten Signal zu liturgischer Ungebundenheit!) Es mache lediglich besonders deutlich, was Jesus immer wollte, sobald er sich mit Menschen bei einem Mahl zusammensetzte: “Der in der Tischgemeinschaft vollzogene Einschluß der Sünder in die Heilsgemeinde (!) ist der sinnfälligste Ausdruck der Botschaft von der rettenden Liebe Gottes” (S. 117) Ganz auf dieser Linie liegt es, wenn z. B. ein Fernsehkaplan erklärte: Beichte und Kommunion hätten nichts miteinander zu tun. Als Sünder sich nicht zur Kommunion zu wagen, sei schlimmer, als diese ohne Beichte zu empfangen! Sollte eine derartige Anschauung der Grund dafür sein, daß in der neuen Liturgie am Gründonnerstag, zu Fronleichnam und in den Votivmessen “Von der heiligen Eucharistie” aus der Epistel der bislang so gewichtige Satz gestrichen wurde, demzufolge, wer unwürdig das Brot ißt oder den Kelch des Herrn trinkt, sich schuldig mache am Blüte und Leibe des Herrn (1 Kor 11, 27)?

Es war wohltuend, angesichts solcher Äußerungen abschließend auf den Besinnungsprozeß hinweisen zu können, der im Protestantismus mit Leonhard Goppelt (nicht zuletzt durch sachkundige Kritik an Bultmann und Jeremias!) und seine Schüler Martin Hengel und Jürgen Roloff eingesetzt hat, mögen sie gleich selbst erst auf dem Weg und vor allem noch lange nicht “in” sein.

Aus diesem Grund erscheint es angezeigt, auch zwei Äußerungen der Letztgenannten anzuführen, die hoffen lassen und von denen es schade wäre, wenn sie in gelehrten Abhandlungen untergingen. Gegen die von Jeremias stammende leichtfertige Anschauung über die Messe als Feier mit Sündern wendet sich der Sache nach Jürgen Roloffs Erklärung, zur urchristlichen Liturgiefeier gehören nach dem Zeugnis von 1 Kor 16, 22: Die Ausschlußformel: ‘Wenn einer den Herrn nicht liebt, der sei anathema’ (ausgeschlossen), halte Ungetaufte und Unbußfertige fern”! (Neues Testament, S. 77).

Martin Hengel wieder stellt fest, wie sehr nach dem hl. Paulus jede ökumenische Bemühung Sache letzten Ernstes ist, indem er daran erinnert, “daß die Einheit (der Kirche) für die paulinischen Briefe eine Grundvoraussetzung ist, um die der Apostel erbittert kämpft” (In Festgabe für O. Cullmann, S. 60, A 54).

Solche Bekenntnisse auf protestantischer Seite bestärken uns ebenso wie die Verwirrungen auf dem Gebiet der Bibelwissenschaft, von denen wir hören mußten, bewußt katholisch und deshalb konservativ zu bleiben. Und das nicht, weil wir Nostalgiker sind, schon gar nicht, weil wir das Denken aufgegeben haben und echte Wissenschaft ablehnen, sondern einzig darum, weil wir uns an den halten, der gesagt hat: “Himmel und Erde werden vergehen” (also erst recht der Progressismus und die liberale Leben-Jesu-Forschung!), “doch meine Worte werden nicht vergehen”! (Mt 24, 35.)

Anmerkungen:

[22] Im Sammelband Wer war Jesus von Nazareth? Hg. G. Strube (München 1972) 261-296. 285


Die Furcht Bultmanns vor der Archäologie

“Die Schule des evangelischen Theologen Rudolf Bultmann, (der für die ‘Entmythologisierung’ des Neuen Testaments eintrat) und die historisch-kritische Exegese sind zwar kritisch, aber überhaupt nicht historisch, weil die Archäologie als historische Hilfswissenschaft komplett ignoriert wird. Bultmann hat sich im übrigen sein Leben lang geweigert, ins Heilige Land zu fahren. Er wusste doch, dass mit jedem Spatenstich sein Modell in tausend Stücke zerschlagen wird. Wenn wir die Berichte des Neuen Testaments lesen, dann stellen wir fest, dass es keine unkonkreten, toten, legendären Geschichten sind. Es werden Plätze beschrieben, es werden den Plätzen Namen gegeben. Es wird da sogar in einem Fall zwischen dem Siloach-Teich und der Siloam-Quelle unterschieden. Lange hat man die beiden für Synonyme gehalten. Dann grub man vor ein paar Jahren die Überreste eines großen künstlichen Beckens aus, des Teiches eben, der zwar neben der Quelle lag, aber doch von ihr deutlich getrennt ist. So viele kleinste Details sind archäologisch bestätigt worden, so dass man sagen kann, die Evangelien atmen Lokalkolorit.”

So der Historiker Michael Hesemann in einem Interview mit dem PUR-Magazin, Juni 2010. Ausführlich hat Hesemann über das Thema in seinem Buch Jesus von Nazareth. Archäologen auf den Spuren des Erlösers geschrieben, das letztes Jahr erschienen ist.

Zum Thema: Scheffczyk über Entmythologisierung


Marcus Holden:
Jenseits der historisch-kritischen Methode.
Papst Benedikt XVI. und die Reform der biblischen Exegese

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