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Sprache ist etwas Inkarnatorisches

Zum dichterischen Universum von Herbert Meier

Zum 85. Geburtstag des Dichters am 29. August 2013

Von Prof. Dr. Volker Kapp

Herbert Meier beendet ein fiktives Gespräch mit gegensätzlichen Meinungen über Dichtung durch die Schlusspointe des Gedichteschreibers: „Was mich erschüttert, nun ja. Es gibt offenbar einen Gott, der zu uns spricht. Der das Wort ist“ („An einem Sommerabend“). In Versen heißt es: „Denn seit sich eingesenkt hat / in diese Sprache / das Wort selbst / ist keines mehr / unbefallen vom Licht“ („Was wäre das Gedicht“). Sein Manifest Die neuen Verhältnisse antwortet mutig auf die Unruhen von 1968: „Die Revolte kennt nach Christus nur ein Gesetz: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Christlicher Glaube schärft Meiers Urteilsvermögen über die Abgründe menschlicher Existenz und die vielfältigen Abschattungen glücklicher und misslingender Liebesbeziehungen. Erstaunliche Handlungsstränge entwickelt sein Roman Denk an Siena. Eine Liebesgeschichte (2004) aus den verschiedenen Facetten von Liebesverhältnissen, die in der heutigen Literatur sonst niemand so miteinander zu verknüpfen weiß. Das Stück Elisabeth. Der Freikauf (2007) imaginiert das helfende Wirken der Heiligen Elisabeth in misslingenden Zweierbeziehungen sowie in der Hilfe für die von der Gesellschaft Verachteten, besonders lieblos verlassene Kinder, und übersetzt so die Sorge um das Materielle, das vielfach im Zentrum der Legendenbildung um sie steht, in unsere Zeit. Dabei bewährt sich das Prinzip, das Meier schon in Der Fähnrich von S… (1991) erprobte, nämlich Skandalöses „zum befreiend Komischen“ zu treiben, was vielleicht fromme Empfindungen durchkreuzt, besonders aber als literarische Leistung agnostische Kritiker ärgerte, wohingegen die Zuschauer begeistert applaudierten.

Meiers dichterisches Ethos schlägt eine Brücke vom WORT zur Sprachkunst, selbst noch in jenen Bereichen, in denen nichts Religiöses angesprochen wird. Die Ergebnisse lassen sich sehen! Wo sonst in der heutigen literarischen Produktion verdichtet sich Alltägliches zu so intensiven Stimmungsbildern wie in den verschiedenen Lyrischen Notizen seiner zwei Gedichtsammlungen, die als Quintessenz seines Schaffens im Johannes Verlag Einsiedeln in Freiburg erschienen? Es ist befremdlich, wie wenig selbst die katholische Öffentlichkeit diese zur Kenntnis nimmt. Der Artikel in Wikipedia, der seine Veröffentlichungen auflistet, rühmt in Herbert Meier vor allem den erfolgreichen Dramatiker, übersieht aber, dass seine Stücke das Dramatische meistens im Dialogischen entfalten, weswegen der Wechsel der Gattung oder des Genres vorwiegend von der Suche nach dem adäquaten Ausdrucksregister motiviert ist. Der Band Aufbrüche. Reisen von dorther (1998) führt das Moment des Aufbruchs weiter, mit dem Meier 1968 die Verfestigung von Standpunkten hinterfragte: „Der neue Mensch steht weder rechts noch links. Er geht.“ Seine „Gespräche“, von denen viele zunächst in der Neuen Züricher Zeitung, einige in der Zeitschrift Communio erschienen sind, fügt er seither als eine Art meditative Ruhepunkte in seine Sammlungen von Gedichten ein. Vergleichbares wie diese „Gespräche“ findet man sonst nirgendwo in der heutigen Literatur, denn sie sind inhaltlich wie dichterisch von hoher Qualität und verdienten eine eigene Untersuchung.

Seit seinem zwölften Lebensjahr schrieb Meier Stücke, mit einundzwanzig das erste, das für ihn zählte. Sein Studium schloss er mit der Dissertation Der verborgene Gott. Studien zu den Dramen Ernst Barlachs 1954 ab, die Karl Borromäus Glock, Förderer von Erich Przywara und Heimito von Doderer sowie der deutsch übersetzten Dramen von Gabriel Marcel, 1963 veröffentlichte, und die mit der Pirkheimer-Medaille ausgezeichnet wurde. Der Bremer Literaturpreis eröffnete 1955 den Reigen der zahlreichen Auszeichnungen, der mit dem Schillerpreis der Züricher Nationalbank 1997 sein vorläufiges Ende gefunden hat. Meier kennt die Bühne aus seiner Erfahrung als Schauspieler und Dramaturg (bes. als Chefdramaturg am Schauspielhaus Zürich 1978-1982), hat so breite Kenntnisse, dass er im Schweizer Fernsehen die Sendung „Sternstunde Philosophie“ (1994-1998) moderieren konnte, und bleibt immer ein freier Schriftsteller, der zentrale Zeitfragen in literarischer Fiktion aufgreift. Bei seinen vielen Übersetzungen profitiert er von der hohen Kompetenz seiner Frau Yvonne Meier-Haas. Seine überragenden Leistungen auf diesem Gebiet, die eigentlich längst hätte eine Auszeichnung würdigen sollen, werden angesichts der heutigen Erniedrigung von Dramentexten zu bloßen Materialien für Regisseure und deren Dramaturgen unterschätzt, obwohl seine Neufassung der landläufig immer noch gespielten Übersetzungen von Enrique Beck Garcia Lorcas Sprachmagie erstmals der deutschen Bühne erschlossen hat. Die Theaterkritiker hegen lachhafte Vorurteile gegen Paul Claudel, so dass Stefan Bachmanns Inszenierungen niedergemacht und die Leistung des Übersetzers Meier übersehen wird. Zum Glück kann der Kenner einen Teil von ihnen wenigstens in den Ausgaben des Johannes Verlags Einsiedeln lesen. Die dreibändige Auswahl seiner Stücke (Serie Piper 1993) endet mit Leben ein Traum nach Calderón (1990), das ein Stück des spanischen Barockdramatikers dem „Zeit- und Themenbewußtsein“ des heutigen Dichters anverwandelt.

Claudels Seidenen Schuh (2003) entdeckte Meier als Jugendlicher in der Übersetzung durch Hans Urs von Balthasar, seinem späteren Mentor, der die Selbstfindung des Dichters mit taktvollen Hinweisen begleitete (Manfred Lochbrunner, Hans Urs von Balthasar und seine Literatenfreunde. Neun Korrespondenzen, Würzburg 2007, 172-202). Balthasar drückte ihm Werkausgaben von Shakespeare und Calderón als Vorbilder in die Hand, so dass er eine Zeit lang als ersten Schritt des Schreibens Strukturmodelle seiner Stücke entwickelte. Der belesene Theologe kritisiert die dramatische Nutzung alltäglicher Rede, die der Dramatiker in seiner jüngsten Gesellschaftskomödie Dieser eine Tag (2008) in eine sozusagen mythische Handlung übersetzt, die zwar der Interessenlage unserer Medienwelt und ihrer Konsumenten angelehnt ist, diese aber durch einen tieferen Blick in die Verhältnisse vielfach hinterfragt. Als der Romancier in Ende September (1959) das Dramatische des Daseins „in seiner unsichtbaren Erstreckung von letzter Verfallenheit und höchster Sammlung in sich selbst“ darstellt, lobt sein Mentor die „Intensität“ dieser Handlung. Dessen Rezension von Stiefelchen. Ein Fall (1970) freut sich, wie Meier das Selbstverständnis dreier Generationen „vom bürgerlich Wohlanständigen über das Zerfallende bis zum Anarchischen“ vergegenwärtigt, und dass er „die am Ursprung alles Formulierten wehenden Botschaften“ spüren lässt. Wenn er diesem Prosawerk „die stilistische wie thematische Dichte eines Gedichtbandes“ zuschreibt, charakterisiert er treffend das einigende Band des Gesamtwerks dieses Autors. Die Gedichte, die 1969 unter dem Titel Sequenzen erschienen, fand Balthasar so gelungen, dass er sie gern in seinem Johannes Verlag veröffentlicht hätte, wo sie nun wieder in Meiers Gesammelten Gedichten (2003) greifbar sind.

Das Christliche könnte man bei einer oberflächlichen Lektüre von Meiers Werken leicht übersehen, weil es nichts mit Ideologie, mit Moralisieren oder gar Proselytentum gemein hat, sondern an universale Dimensionen des Wirklichen erinnert, die heute anderswo schlichtweg verloren gegangen sind. Gleichwohl übertragen Außenstehende vielfach ihre Animositäten gegen das Katholische auf sein literarisches Werk, während sich jene Katholiken, die die notwendige Öffnung zum Zeitgenössischen mit einem Anhangen an das Modische gleichsetzen, durch Meiers klug durchdachten und neue Horizonte erschließenden Zeitbezug irritiert fühlen. Welche Klammer diese Offenheit um sein ganzes Schaffen bildet, sei wenigstens mit einem Beispiel illustriert. Das Stück Stauffer-Bern (1974) bezeichnet der Dramatiker als „Darstellung von Menschengeschichten“ mit dem Ziel „einer tieferen Selbsterfahrung“ des Publikums, während Peter von Matt „einen ungestümen kleinen Klassiker der politischen Systemkritik“ wahrnimmt. Der Protagonist diskutiert dort gegen Ende des Dramas mit einem Franziskaner anhand von Nikolaus von Kues über die „Welt als Kunstwerk Gottes“. Im Band Das Erhoffte will seine Zeit (2010) überschreibt der Stadtstreicher Kues sinnigerweise überholte Nachrichten auf weggeworfenen Zeitungsfetzen mit Cusanus-Zitaten, die er den Almosengebern schenkt, vergeblich, weil diese sie achtlos wegwerfen („Im Portikus der Grossbank“). Wird da nicht eine erstaunliche Kontinuität trotz des Wechsels literarischer Genera sichtbar?

Sein Selbstverständnis als Dramatiker skizzierte Meier zur Uraufführung von Die Barke von Gawdos bei den Züricher Festwochen 1954. Der Dramendichter sei „ein Kind, das mit seiner Welt spielt, und das Spiel für das Ereignis nimmt“. Zu Rabenspiele (1971) ergänzt er, er schreibe das Unvorhergesehene „experimental, das heißt den Vorgängen nach“, die sich als „Situationen und Beziehungen“ im Wechselspiel von Situationen und Figuren zu einer Nachricht über die Gesellschaft verdichten. Seine Stücke seien „eine Sprache des Spiels“, die Wort und Geste, Bild und Raum in sich aufnimmt. Als die Mode aufkam, Stücke von Schauspielern, Dramaturgie und Regie kollektiv entwickeln zu lassen, hielt er ihr die Notwendigkeit von Sprachkunst entgegen. Wie recht er damit hatte, kann man an Verfallserscheinungen des gegenwärtigen Theaters ablesen.

Hat diese Dramaturgie überhaupt etwas mit dem zu tun, was den Gedichteschreiber bewegt, dem Gott, der das WORT ist und zu uns spricht? Ganz gewiss, denn nach Vollendung der Barke von Gawdos will er in folgendem Satz von Henri de Lubac „den geistigen Grundriss“ seines Stückes gefunden haben: „Die Hölle ist das Werk des Menschen […], für den die Liebe unerträglich wird. In seinem unveränderten Wesen ist das gleiche göttliche Feuer für den einen Qual, für den andern Läuterung, für den dritten endlich Glückseligkeit“. Wie für den französischen Jesuiten stehen auch für den Dramatiker die drei Möglichkeiten nicht gleichwertig nebeneinander, doch folgt die Bühnenhandlung einer eigenen Logik, bei der das Religiöse, wie im Alltag, nicht ständig evident sein kann. Der Roman Winterball (1996) thematisiert unter diesen Vorzeichen ganz anders als anderswo in der heutigen Literatur das Entstehen und Vergehen einer großen Liebe.

Der Dichter kann bei seinem 85. Geburtstag am 29. August auf die lange Liste von Veröffentlichungen stolz sein: seine verschiedenen Ausformungen des Dramatischen bis zu Komödie und Puppenspiel, die vertonten Stücke, Drehbücher und Hörspiele, sowie Romane, Essayistik und sehr viele Gedichte. Der Johannes Verlag Einsiedeln in Freiburg kündigt zu diesem Anlass einen weiteren Band von Herbert Meier mit Gedichten und Prosa Im Hauch des Windes an. Der erste derartige Band Das Erhoffte will seine Zeit (2010) wurde sinnvollerweise zum Motto für die Geburtstagsfeier an diesem Tag im Theater Rigiblick Zürich gewählt, die ein Komitee unter der Leitung von Dr. Armin Brunner, Dr. Erwin Köhler und Maria Zehnder veranstaltet, denn dieser Band versammelt Zentrales aus einem reichen Lebenswerk.


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